Читать книгу Verborgen hinter Schleiern - A. B. Schuetze - Страница 4
Vorwort
ОглавлениеEr war zu früh. Viel zu früh. Aber die Anspannung, die seit der Ankündigung des Treffens in der Vita von ihm Besitz ergriffen hatte, war unerträglich geworden. Ein Spaziergang, der seine Gedanken in eine andere Richtung lenken und damit seine Nerven beruhigen sollte, hatte ihn auf irrwitzige Weise direkt in den Omlamo, den Berg der Allwissenden Steine geführt. Genau zu jenem Ort, an dem seine Eltern mit ihm sprechen wollten. Nun, da er schon einmal hier war, blieb ihm nur zu hoffen, auch sie kämen früher.
Ein ums andere Mal umkreiste er, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, das Palam im Zentrum der Vita. Immer wieder blieb er stehen, um die beeindruckende Versammlungshalle der Salwidizer in Augenschein zu nehmen. Wie viele Male seit seiner Steinweihe … damals war er, gerade dreißigjährig, in die Reihen der Erwachsenen aufgenommen worden … hatte er sich zusammen mit den anderen seines Volkes zu den alljährlichen Treffen hier versammelt. Dennoch war es wie am ersten Tag ein unbeschreibliches Gefühl, die Eindrücke auf sich wirken zu lassen.
Die Höhle war riesig, das Ausmaß in Höhe und Tiefe nicht einmal zu erahnen. Die Wände bestanden aus Bergkristallen, die aus sich selbst heraus leuchteten und Höhle und Tunnel in ein gleißendes Licht tauchten. Zahlreiche Tunnel im Berg mündeten in einer Galerie, die sich rund um das Palam zog, einem über dem Abgrund schwebenden Hologramm. Es zeigte die bis ins kleinste Detail originalgetreu nachgebildete Erdkugel. Tausende kleine Obsidiane in verschiedenen Farben … schwarz für ungebundene Salwidizer, braun für die Beschützer des Lebens und regenbogenfarben für die Männer, die ihre Seelengefährtin gefunden hatten … und Feueropale für die auserwählten Mädchen und Frauen zeigten auf dieser Erdkugel, wo sich ein jeder aufhielt.
Nachdenklich betrachtet er die winzigen Edelsteine, die in einem Rot-Orange funkeln. Feueropale. Es sind so wenige. Vielleicht wird es nie genug weibliche Wesen geben, die unseren Anforderungen genügen. Nicht jedem von uns wird das Glück zuteil. Aber wie lange soll ein Salwidizer warten, um zu wissen, ob ihm eine Gefährtin je bestimmt ist? Viele haben schon, in der Hoffnung im nächsten Leben sein Gegenstück zu finden, den großen Abgrund überwunden. Es muss doch irgendeinen Weg geben, der Natur ein Schnippchen zu schlagen. Was taten denn unsere Forscher und Heiler? Sich dem Schicksal beugen? Ich kann es schon nicht mehr hören … Alles kommt, wie es kommen muss. Seinem Schicksal kann keiner entfliehen.
„Hallo, Sohn. Hängst du irgendwelchen trüben Gedanken nach?“
Beim Klang der Stimme seines Vaters drehte er sich um und begrüßte den Mann mit dem traditionellen Schlag der Freundschaft, indem er seine rechte Hand auf die rechte Schulter seines Gegenübers legte. Vor seiner Mutter, die wenige Schritte entfernt stand, verbeugte er sich respektvoll. Ein Funken der Liebe ließ seine sonst so ernsten Gesichtszüge weicher erscheinen.
„Nun, ich habe gerade darüber nachgedacht, ob unser Volk in absehbarer Zeit seinem Untergang geweiht ist. Es gibt nicht genug Seelengefährtinnen. Wir werden über kurz oder lang aussterben.“
Mit einem leisen Stöhnen und einem schiefen Lächeln, welches seine Augen nicht erreichte, warf er nochmals einen Blick auf das Palam.
Besorgt musterte er seine Eltern. Solange er sich zurückerinnern konnte, stand sein Vater dem Hohen Rat, dem Tribunal, vor. Tausende Jahre im Kampf, die Traditionen Adanwes mit dem Fortschritt der Welt jenseits der magischen Barriere in Einklang zu bringen. Tausende Jahre im Kampf, den Fortbestand ihrer Spezies zu sichern. Sie sahen beide müde aus. Müde des langen Lebens. Müde der Sorgen um ihr Volk. Und diese Müdigkeit war das, was ihm selbst zu schaffen machte, ihn in wilde Spekulationen über das heutige Treffen stürzte.
„Ihr wolltet mich sprechen? Was ist so dringlich und vor allem so geheimnisvoll, dass wir uns hier in der Vita treffen?“
Einen inneren Impuls folgend, schielte er kurz zurück zum großen Abgrund hinter der Brüstung der Galerie. Forschend blickte er seiner Mutter in die Augen, um seine Befürchtung nicht bestätigt zu sehen. Doch alles was er wahrnahm, war ihre unendliche Traurigkeit.
Sein Vater legte ihm einen Arm um die Schulter und holte mit der anderen etwas aus seiner Hosentasche.
„Hör zu, Sohn. Du weißt es. Und wir wollen nicht erst groß drumherum reden. Wir haben schon zu lange gelebt. Es wird Zeit für uns zu gehen. … Das hier ist ein Speicherkristall mit Aufzeichnungen aller Art. Angefangen von persönlichen Entscheidungen, die nicht immer richtig waren, bis hin zu wissenschaftlichen Erkenntnissen, Forschungsarbeiten und dergleichen. Bewahre ihn gut auf. Schaue ihn dir nicht an. Lasse niemanden wissen, dass du ihn besitzt.“
„Aber warum …“
„Noch nicht, mein Sohn. Du würdest damit zu Menanim gehen, um Klarheit zu erlangen. Aber glaub mir, zur Zeit würden all diese Informationen jeden unseres Volkes überfordern.“
Fragend nahm er den Kristall entgegen. „Ich verstehe nicht. Was …“
Sein Vater umschloss mit seiner Hand die seine, in der der Kristall verschwand. „Glaub mir, Junge, es ist das Beste für alle. Es wird eine Zeit kommen, da wird euch der Speicherkristall und sein Inhalt von Nutzen sein.“ Während sein Vater sprach, hatte er sich von ihm entfernt und war mit seiner Frau an den Abgrund getreten.
„Wann? Wann wird er …“
„Du wirst es wissen. Leb' wohl … Wir sehen uns im nächsten Leben.“
Den letzten Satz vernahm er nur im Kopf … auf telepathischem Weg. Traurig und gleichzeitig so zuversichtlich. Verwirrt drehte er sich um. Doch da war keiner mehr. Seine Eltern hatten die Reise angetreten, ohne nochmals zurückzublicken. Er starrte auf die Stelle, an der sie eben noch gestanden hatten.
Es war ein Abschied. Ein Abschied auf Zeit. Irgendwann würden sie sich wiedersehen. Alles was ihm geblieben war, hielt er in der Hand. Ein Speicherkristall … das Vermächtnis seines Vaters.
Er hob den Kristall zwischen Daumen und Zeigefinger hoch und beobachtete, wie sich das Licht im Facettenschliff des Steines in tausend Farben brach.
Die Antworten auf all unsere Fragen? Sollte es so einfach sein? Ich brauchte nur den Speicher zu öffnen und dann … Ja, was dann? Hatte mein Vater recht mit dem, was er sagte? Wir würden es noch nicht verstehen? Aber wann? Wann wird es soweit sein? Was soll schon passieren, wenn ich mir alles anschaue? Wenn ich es nicht verstehe, schließe ich ihn wieder. Nur … Hm … Mein Vater war ein besonnener und verantwortungsbewusster Mann. Er war Entdecker, Forscher, Gelehrter. Doch in erster Linie war er Mitglied des Hohen Rates. Ja sogar dessen Vorsitzender, und als solcher agierte er stets
im Interesse und zum Wohle unseres Volkes. War das der Schlüssel zu seinem Handeln?
Seine Miene nahm einen entschlossenen Ausdruck an. Er ließ den Stein in seine Hand fallen und schloss ihn fest darin ein. Kurz darauf verließ er, ohne sich noch einmal umzuschauen die Vita, den Berg und Adanwe.