Читать книгу Verborgen hinter Schleiern - A. B. Schuetze - Страница 5
Bruch zwischen Geschwistern
Оглавление„Du hättest ihm gleich die Klinge ins Herz stoßen sollen. Hast du es vergessen?! Er hat mich entführt. Ich wäre damals bei dem Vulkanausbruch beinahe ums Leben gekommen. Ganz davon abgesehen, was er den anderen unseres Volkes … wie Corri, Amaranth, Richard, Gustavo … und den vielen Menschen angetan hat.“ Wütend drehte sich Judith ihrem Zwillingsbruder zu. Sie konnte einfach nicht verstehen, wie er sich auf die Seite dieses Mannes stellen und dann so seelenruhig an ihrer Tür klingeln konnte. Julius musste doch wissen, was in ihr vorging, seit sie vom Wiederauftauchen dieses Verrückten erfahren hatte.
Vor Jahren wurde Voland für seine zahlreichen Verbrechen an Menschen und Salwidizern durch sein eigenes „Portal ins Nirgendwo“ wortwörtlich genau dahin verbannt. Keiner hatte damit gerechnet, jemals wieder von ihm zu hören. Doch statt im Nirwana zu verrotten, wurde der einzige Verbrecher aus dem Volk der Salwidizer in die Vergangenheit katapultiert. Ausgerechnet er bekam vom Schicksal eine zweite Chance, ein neues Leben. Und als wäre das nicht Unglück genug, musste ihr eigener Bruder einer von denen sein, die das Monster zurück nach Adanwe brachten.
Judith war außer sich. Mit den Armen fuchtelnd lief sie im Zimmer auf und ab. Auch als sie plötzlich vor Julius stehen blieb, nahm ihre Stimme an Intensität nicht ab. Sie blickte ihn mit blitzenden Augen an und tippte ihm bei jedem Satz, der folgte, mit dem Zeigefinger auf die Brust, um ihre Aussage zu unterstreichen. „Na und? Dann war er eben vor viertausend Jahren aus der Zeit gefallen. Er wird schon gewusst haben, was es bringt, einen neuen Namen anzunehmen. Was interessiert mich, ob er seinen Meister an Bösartigkeit gefunden hat? Vielleicht war er sein Gefangener. Vielleicht auch nicht. … Er war und bleibt ein Verbrecher. Und genau das wird morgen die Anhörung vor dem Hohen Rat beweisen.“
Der junge Mann hatte damit gerechnet, dass seine Schwester ausflippen würde. Trotzdem oder gerade deshalb sah er es als seine Pflicht an, sie auf die Verhandlung vorzubereiten und sich für sein Verhalten zu rechtfertigen. Also ließ er ihre Tirade über sich ergehen und blickte sie dabei, seinen Kopf nachdenklich zur Seite geneigt, aus sanften, braunen Augen an.
„Auch schön dich wiederzusehen, Schwesterherz. Keine Umarmung zur Begrüßung? … Ach, komm schon! … Das glaubst du doch nicht im Ernst, was du hier jetzt von dir gibst. Sicher … Du bist wütend, weil du an damals erinnert wirst. Und ich bin es ebenso. Doch Voland wurde für seine Taten vor Jahren von Amaranth, Richard, Helena und all den anderen festgesetzt und der Hohe Rat hat das Urteil gesprochen. Du weißt es. Sie haben ihn mit seiner Welt der Nacht ins Nirgendwo verbannt. Es spielt keine Rolle, wie hoch die Wahrscheinlichkeit für sein Wiederauftauchen gewesen wäre, rein theoretisch hättet ihr damit rechnen müssen. Es sei denn, ihr habt alle auf seinen Tod gehofft. … Aber könnt ihr das? Könnt ihr derart negative Gedanken hegen? … Egal. Das Schicksal hat es anders gewollt. … Daran sollten wir nicht rühren. Im Grunde büßt er in seinem neuen Leben noch immer für seine als Voland begangenen Taten.“
Judith wollte dazwischenfahren, doch Julius ließ sich nicht unterbrechen.
Nicht dieses Mal.
Er packte sie an den Oberarmen und zwang sie, ihm vis-à-vis stehen zu bleiben und zuzuhören.
„Dieser Mann ist durch die Zeit geflogen und ohne Gedächtnis zum Zeitpunkt von Volands Geburt … oder Roland, wie er damals genannt wurde … auf der Erde aufgeschlagen. Der, der ihn gefunden hat, gab ihm den Namen Kan Hayat. Gemeinsam sind sie durch die Welt gezogen, haben alles Mögliche entdeckt, studiert und erforscht. … Aber das wirst du ja morgen alles erfahren. Er hat sich gegen seinen Freund gewandt, als sie auf Voland stießen und er ihn unterstützen wollte. Und dafür hat Kan seine magischen Fähigkeiten eingebüßt. … Schau, Judith! … Er ist nicht mehr der, den du kanntest. Er hat seine Seelengefährtin gefunden. Arabienne McCullen. Du müsstest die beiden sehen. Nie würdest du auf die Idee kommen, dies sei der Mann von damals. Enne ist über hundert Jahre alt. Was glaubst du, warum hat der Feueropal mit dem genetischen Code Volands nicht zu ihr gefunden? Es muss doch einen gegeben haben. Also warum? Meinst du nicht, dass bei seinem Sturz durch die Zeit irgendetwas geschehen ist, was sein ganzes Wesen verändert hat? Ich bin kein Salwidizer. Ich weiß es nicht. Aber mit Sicherheit kann ich sagen, Arabienne gehört eindeutig zu ihm.“
„Pah! … Schließlich ist sie in Papotene geboren. Und wer weiß, vielleicht konnte der Stein sie in dieser anderen Welt nicht finden. … Oder er war bei den gestohlenen Ketten dabei. Wie auch immer! … Das besagt ja wohl gar nichts. … Und jetzt lass mich endlich los.“
Julius hob die Hände und machte einen Schritt zurück, um ihr den nötigen Freiraum zu geben. So aufgebracht hatte er Judith noch nie gesehen. Selbst damals nicht, als die Salwidizer in das Leben der Geschwister getreten waren, ihre Freundin Corri entführt worden war und Judith sich auf eigene Faust auf die Suche nach ihr gemacht hatte. Dabei war sie in Volands Fänge geraten, was sie beinahe mit dem Leben bezahlt hätte.
Ratlos beobachtete Julius, wie sie ihren Marsch durch die stilvoll eingerichtete Bibliothek mit deckenhohen Regalen und einer urigen Sitzlandschaft wieder aufnahm. Ich hab ja viel erwartet. Dass sie herumzickt, mir ihre Meinung um die Ohren haut, vielleicht auch körperlich auf mich losgeht, aber doch nicht mit ihren unlogischen, aus der Luft gegriffenen Argumenten. Selbst Voland war in den Zeiten, in denen von seiner Abartigkeit noch nichts bekannt war, als Beschützer des Lebens in Papotene. Die Mütter von Arabienne und Amaranth stammen von dort. Warum sollte dann ausgerechnet Arabiennes Stein sie dort nicht erreicht haben? Schwachsinn. Soll ich ihr das sagen? Dann bringe ich sie vielleicht noch mehr gegen mich auf. Hm … Lieber nicht.
Ohne zu wissen, wie er seine Schwester überzeugen sollte und ob er damit überhaupt Erfolg haben würde, atmete Julius mehrmals tief durch. Er musste unbedingt ruhig bleiben, um den Stresslevel nicht nach oben zu peitschen. Die Hände in den Hosentaschen vergraben setzte er sich auf die Armlehne eines Sessels und nickte Judith versöhnlich zu. „Darf ich dich was fragen? Was meinst du, soll aus Arabienne werden, wenn Kan verurteilt wird. Zu was auch immer. Ich weiß, sie hat schon gesagt, dass sie sein Los teilen wird. Aber dennoch … Zum anderen solltet ihr bedenken, sie kann als geborene Salwidizerin eurem Volk Töchter schenken. Wie viele potentielle Gefährtinnen wären wohl darunter?“
Obwohl Julius seine Fragen leise äußerte, fuhr Judith augenblicklich herum. „Julius! Du begreifst es nicht! Oder? Es geht hier nicht um Arabienne. Es geht um Voland. Wie solltest du auch?! Du sagst es ja selber … Du bist kein Salwidizer.“
Ungläubig riss Julius seine Augen auf. War das noch seine Zwillingsschwester? Sichtbar zerfressen vom Hass auf Voland?
Judith schnappte irritiert nach Luft. Das habe ich jetzt nicht wirklich gesagt. Nicht zu meinem Bruder. Oh mein Gott. Ich meinte das doch gar nicht so. Wie konnte es sein, dass ich mich habe hinreißen lassen in meinem Zorn. Bei Menanim! … Zorn! Den dürfte ich doch als Salwidizerin gar nicht verspüren. Oder doch? Ist es mein menschliches Erbe? …
Julius wischte sich über sein Gesicht. Frustriert schaute er Judith an. „Weißt du, früher hast du dafür gekämpft, dass alle gleich behandelt wurden, Gerechtigkeit wurde bei dir großgeschrieben. Jeder sollte eine Chance haben oder auch mal zwei. Du warst hilfsbereit und immer darum bemüht, Lösungen für alle möglichen Probleme zu finden. Heute jedoch? … Du interessierst dich einen feuchten Scheiß für die Belange anderer. Nur du und deine kleine heile Welt. Ich erkenne dich überhaupt nicht mehr wieder. Liegt es an Omas Kette? An dem Fluch, der an ihr haftet? … So egal dir heute Arabiennes Schicksal ist, so schnuppe ist dir wahrscheinlich auch das Schicksal der Auserwählten, die Hannes' Feueropal einmal bekommen wird. Denn sollte man den Überlieferungen Glauben schenken, bist du es ja nicht. Du bist nicht seine ihm vorherbestimmte Seelengefährtin. Du verdankst dein jetziges Leben diesem verdammten Stein, der angeblich jedem Salwidizer einen Phallus schenkt. Zu deinem Glück hat dich Hannes auch gleich gewandelt und geschwängert. Zufall? Schicksal? Aber wen interessiert das schon. Geht dich ja nichts an, solange keiner an deine Tür klopft und dein kleines Paradies ins Wanken bringt.“
War Judith nach ihren harschen Worten in sich gegangen, fachten diese Sätze der Anklage die Flammen der Wut in ihr wieder an. Sie riss sich die Kette mit dem Feueropal vom Hals und schleuderte sie Julius in den Schoß. „Da hast du sie. Ich brauche sie nicht. Hannes liebt mich auch ohne dieses blöde Ding. Und nur damit du es weißt, seine Kette war unter den gestohlenen. Also wer sagt, ich wäre nicht seine Auserwählte?“
Julius nahm die Kette und betrachtete sie gleichgültig. „So wird es wohl sein.“ Es gab nichts mehr zu sagen. Er hatte versagt. Langsam erhob er sich und wandte sich zum Gehen um. Doch dann blieb er stehen und blickte nachdenklich zu Judith zurück. „Und übrigens … Als du damals auf der Insel beinahe ums Leben gekommen bist … Menanim hat den Vulkan ausbrechen lassen und wissentlich deine Rettung damit riskiert. Er hat Volands Gefangenschaft über dein Leben gestellt.“
Entsetzt und ungläubig starrte sie ihren Zwillingsbruder, der ihr im Aussehen so gar nicht ähnlich war, an. Obwohl sie schlank und nicht klein war, überragte sein durchtrainierter Körper sie um fast zwanzig Zentimeter. Und im Gegensatz zu ihrem roten Kurzhaarschnitt trug er sein blondes lockiges Haar mittlerweile schulterlang. Er war in den acht Jahren, in denen sie sich nur selten gesehen hatten, nicht nur ein äußerst attraktiver Mann geworden, sondern auch sehr selbstbewusst und überzeugend.
„Das … hat … er … nicht!“ Nach allem, was sie ihrem Bruder aufbrausend an den Kopf geworfen hatte, klangen nun aus ihrer Stimme begründete Zweifel heraus.
„Schau mich nicht so an. Ich frage mich, warum euch all das niemals in den Sinn gekommen ist. Menanim weiß doch alles, er, der Geist der Allwissenden Steine. Warum hinterfragt ihr nicht das eine oder andere? … Vielleicht solltet ihr nicht über Kan Hayat nachdenken, sondern über euch selbst.“ Müde und erschöpft schüttelte Julius den Kopf und verließ augenblicklich die Bibliothek. Auf dem Weg nach draußen konnte er gerade noch im letzten Moment verhindern, dass er Hannes über den Haufen rannte. Doch ohne ein Wort des Grußes oder der Entschuldigung stürzte er an ihm vorbei und verließ das Haus. Das „Warte, Julius!“ seiner Schwester hörte er schon nicht mehr. Auch nicht ihr Schluchzen, als sie Hannes um den Hals fiel.
***
Mit geschlossenen Augen stand er vor dem Blockhaus, eines von vielen und doch wie all die anderen ein Unikat.
Ursprünglich wollte er während seiner Zeit in Adanwe bei seiner Schwester und ihrer Familie wohnen. Mit Hannes, ihrem Mann, verband ihn früher eine tiefe Freundschaft. Sie alle gehörten zu einer eingeschworenen Clique. Aber nun?
Atmen! Du musst atmen! Tief durchatmen! … Wie konnte es sein, dass Judith und ich zweiunddreißig Jahre lang ein Herz und eine Seele waren und innerhalb von nicht einmal einer halben Stunde so erbitterte Gegner? Verdammt noch mal! War es wirklich zu viel von ihr verlangt?
So ruhig Julius gegenüber seiner Schwester geblieben war, so sehr wütete nun in ihm Frust und Resignation über sein Unvermögen. Seine Unfähigkeit, Judith zu überzeugen und auf seine Seite zu ziehen. War es wirklich seine Seite?
Die letzten Wochen hatten seine Welt total auf den Kopf gestellt. Und nicht nur seine Welt.
***
Eigentlich war Julius mit seinen Freunden zu einer Hochzeit in Schottland unterwegs gewesen. Auf der Reise hatten sie Anna und Larissa kennengelernt, zwei total nette und aufgeweckte junge Frauen, die gerade eine Reisereportage entlang der Küsten Schottlands machten.
Soweit alles ganz schön und gut. Ein Flirt hier und ein Flirt da.
Doch plötzlich war die Welt aus den Fugen geraten.
Über Nacht war Anna spurlos verschwunden und die Polizei ging davon aus, dass sie mit ihrem Verlobten von der Steilküste bei Screbster in den Tod gestürzt war. Ihre Freundin Larissa hatte da eine ganz andere Meinung vertreten. Allerdings … Wer hatte ihr glauben sollen?
Julius hatte ihr geglaubt. Er wusste, dass diese beiden Frauen etwas ganz Besonderes waren. Wenn eine besondere Gabe, wie Visionen empfangen oder den Wahrheitsgehalt einer Aussage erkennen, und dann eine filigran gearbeitete Kette mit einem walnussgroßen Feueropal als Anhänger im Spiel waren, konnte es sich nur um eine Auserwählte der Salwidizer handeln.
Er selbst hatte bereits vor acht Jahren seine erste extramundane Begegnung mit dieser Spezies gehabt. Eine Spezies unsterblicher Menschen mit einer eigenen Welt hinter einer magischen Barriere.
Die Männer waren aufgrund einer Anomalie in ihren Genen darauf angewiesen, ihre Frauen unter den Sterblichen zu suchen. Fraglos verfügten jene über außergewöhnliche Gaben, wie eben die von Anna und Larissa. Dem nicht genug, sie besaßen seit ihrer Geburt auch einen solchen Feueropal. Einen Feueropal, der die DNA eines Salwidizers enthielt und seine Trägerin nicht nur zu ihrer Geburt fand, sondern auch ihre Zukunft bestimmte. Die Chemie zwischen Seelengefährten stimmte immer, denn es gab nur die Eine für ihn.
Was also war Julius anderes übrig geblieben, als seine Hilfe anzubieten? Außerdem … Zusammentreffen mit diesen Unsterblichen, und eines würde hundertprozentig bald stattfinden, versprachen jedes Mal Spannung, Nervenkitzel, Dramatik … einfach ein Abenteuer. Hätte er sich das wirklich entgehen lassen sollen?
***
Okay, er hätte, wenn ihm die Auswirkungen auf sein Leben und seine Beziehung zu Judith bewusst gewesen wären. Denn letztendlich hatten sie nicht nur Anna, sondern auch Kan Hayat und Arabienne, die beide Gefangene in einem goldenen Käfig waren, gerettet und nach Adanwe gebracht.
Julius und seine neuen Freunde, die an dieser Mission beteiligt waren, wussten um das Leben und Schicksal des Kan Hayat. Allen anderen in Adanwe war lediglich dessen ehemaliger Name Voland geläufig. Voland, der einzige salwidizische Verbrecher aller Zeiten. Das skrupelloseste Ungeheuer schlechthin. Bekannt durch unmenschliche Foltermethoden, Vergewaltigungen ohne Ende sowie Forschungen und Experimenten an lebenden Menschen.
Damit ging ein Spalt nicht nur durch das gesamte Volk Adanwes, sondern auch durch Familien- und Freundeskreise. All seine Freunde von damals standen auf der anderen Seite. Und wie es jetzt aussah, war auch die Beziehung zu seiner Schwester vorerst nicht zu kitten.
Vielleicht sah es morgen nach der Anhörung, Verhandlung oder wie auch immer das Volk Adanwes die Farce nennen mochte, ganz anders aus. Nun galt es erst einmal, eine neue Unterkunft für seinen Aufenthalt in der Anderwelt zu finden.
Seltsam, dass noch niemand aufgetaucht ist, der mich zu einer neuen Bleibe begleitet. Normalerweise laufen in Adanwe keine Menschen mal eben so durch die Gegend. Und wenn, war immer einer der Wächter zugegen. Nicht dass es alltäglich wäre, solchen wie mir in dieser Welt zu begegnen, doch wenn an den Erzählungen was dran ist, hat sich wohl der eine oder andere schon hierher verirrt. Also … Wo bitte bleibt jetzt meine Eskorte? Vielleicht haben alle die Köpfe voller anderer Probleme, dass man für die Überwachung meiner Wenigkeit einfach keinen Nerv hat. … Okay, gehe ich halt allein zu Fabrice.
Sich nochmals nach allen Seiten umschauend, steckte er die Hände in die Hosentaschen und schlenderte langsam den schmalen Weg entlang, der die Anwesen der Salwidizer miteinander verband.
Die Aussicht, die sich ihm bot, war wie immer beeindruckend. Hier schien sich nie etwas zu verändern, denn genauso hatte Julius die Landschaft von seinem ersten und gleichzeitig letztem Besuch in Erinnerung.
Satte, grüne Wiesen durchzogen von klaren, blauen Bächen und tiefen Bergseen, in denen sich zarte Wolken spiegelten, wurden am Horizont an drei Seiten vom Monsiug-Gebirge begrenzt. Seine Berge funkelten aufgrund des hohen Edelsteinvorkommens in der Sonne und der Schnee auf den Spitzen glitzerte wie Zucker. An der vierten Seite erstreckte sich ein undurchdringlich wirkender, dunkelgrüner Wald.
Ein Urlaubsparadies ohnegleichen. Eine magisch verborgene „Insel der Ruhe und Natur“ auf einem Planeten, der seinem Namen „Blauer Planet“ kaum noch Ehre machte und langsam aber sicher dem Tod geweiht war, wenn nicht bald ein Wunder geschah. Und doch lebten die meisten Salwidizer unerkannt unter den Menschen und hielten sich nur ein Mal im Jahr für mehrere Tage in ihrer Heimat Adanwe auf.
Während Julius sowohl seinen Blick als auch seine Gedanken schweifen ließ, kamen ihm Lochlanns Worte über die Entwicklung der Welten in den Sinn.
Von Anbeginn der Zeit galten für alles und jeden die gleichen rationalen Werte der Schöpfung als Grundlage des Seins, so die Lehren Adanwes. Irgendwann im Laufe der Jahrtausende verließen die Menschen den gemeinsamen Weg, leugneten einen Teil der von Vernunft bestimmten Werte und büßten damit ihre magischen Gaben und Fähigkeiten ein.
Das Leben der Salwidizer allerdings basierte weiter auf den Grundlagen der Schöpfung. Alles hatte ein Bewusstsein, egal welcher Form der Existenz. Gefühle und Emotionen wurden ausschließlich von Liebe, Harmonie, Freude und Frieden bestimmt. Die Existenz außerhalb von Zeit und Raum galt als Gabe, die jeder innehaben konnte.
Eines jedoch gab noch heute den Wissenschaftlern in Adanwe Rätsel auf: War die Zeitverschiebung der beiden Welten … ein Tag in Adanwe entsprach sechs Tagen in der Welt der Menschen … die Ursache oder das Ergebnis der unterschiedlichen Entwicklung? Jedenfalls bildete sich eine magische Barriere zwischen den beiden Welten, die nach Adanwe hinein nur alle 360 Tage zu einer ganz bestimmten Sternenkonstellation passierbar war.
Hm … Gefühle und Emotionen wurden ausschließlich von Liebe, Harmonie, Freude und Frieden bestimmt. Das war dann wohl einmal so. Wenn man sich die heutigen Reaktionen der Salwidizer anschaut … Mag ja sein, dass sie nicht vorsätzlich böse sein können, aber Widerwillen, Zorn, Verachtung, Ärger und Wut sind nahezu greifbar. Sollte diese Spezies zu solchen Emotionen überhaupt fähig sein? Vielleicht leben sie auch schon viel zu lange jenseits der Barriere, in meiner Welt. Oder ist es doch ein menschliches Erbe von Anbeginn der Zeit? Sicher, in Adanwe, wo echt nur Friede, Freude, Eierkuchen vorherrschen, kann man schon alles Negative von sich abstreifen. Und doch …
„ So in Gedanken, dass nicht mal mehr alte Freunde deiner Aufmerksamkeit wert sind?“ Dem folgte ein freundschaftlicher Schlag auf die Schulter.
Julius zuckte erschrocken zusammen und wollte schon aus einem Reflex heraus in Abwehrhaltung gehen. Doch dann erkannte er Rudolfo und ein spitzbübisches Grinsen machte sich in seinem Gesicht breit. Rudolfo Renzini … einer der größten Magier seines Volkes, ein Mann mit einem Faible für Kriminalistik und Heilkunde, ein väterlicher Freund und Judiths Lebensretter.
Judith . Damit schwand sein Grinsen und seine Gesichtszüge wurden schmerzlich ernst. „Verzeih, alter Mann. Du hast mich erwischt. Ich war in Gedanken. Sind wir das zur Zeit nicht alle?“ Ein verräterisches Zucken in den Mundwinkeln und er bot dem Salwidizer den Arm zur traditionellen Begrüßung.
„ Alter Mann, ja?“ Rudolfo legte seine rechte Hand auf die rechte Schulter seines Gegenübers und erwiderte somit den Gruß. „Vielleicht kann der alte Mann dem Sterblichen helfen? Ich gehe nicht davon aus, dass du zu mir wolltest?“
„ Ich wollte eigentlich zu Fabrice. Aber da bin ich wohl schon zu weit …“, stellte Julius zurückschauend fest.
„ Komm halt mit zu mir. Maritta wird sich freuen. … Und bei der Gelegenheit können wir uns gleich aus erster Quelle die neuesten Informationen über … Wie heißt er jetzt? … holen.“
Vom Regen in die Traufe. Julius verdrehte die Augen und folgte Rudolfo die fünf Schritte zu dessen Haus.