Читать книгу Verborgen hinter Schleiern - A. B. Schuetze - Страница 6
Bei den Renzinis
ОглавлениеNoch bevor Rudolfo nach der Klinke greifen konnte, wurde die Tür von innen aufgerissen und Maritta erschien mit einem freudigen Lächeln auf den Lippen.
„Oh, Mann! Weib, dein siebter Sinn für Besucher treibt mich noch in den Wahnsinn.“ Rudolfo drängelte an seiner Seelengefährtin vorbei, nicht ohne ihr hernach einen Klaps auf den Hintern gegeben zu haben, der sie sichtlich erröten ließ.
Gott, man könnte denken, die sind frisch verliebt. Dabei sind die schon an die hundert Jahre zusammen. Noch so eine Eigenart der Salwidizer. Julius verdrehte kaum merklich die Augen und schüttelte den Kopf.
Davon ließ sich Maritta keinesfalls aufhalten, lachte ihn übers ganze Gesicht an und griff energisch nach seinem Arm. „Komm her und lass dich umarmen. Bei Menanim, wie lange haben wir uns nicht gesehen? Acht Jahre?“ Sie zog Julius, der sich gerade respektvoll vor ihr verbeugen wollte, wie es den salwidizischen Frauen gebührte, in ihre Arme und drückte ihn herzhaft. Dann schob sie ihn ein Stück von sich und musterte ihn eingehend. „So sieht also der schnellste Mann der Welt aus, der Held der Diamantklinge und der die verschollenen Töchter zurückgebracht … und so nebenbei ganz Adanwe in Aufruhr versetzt hat. … Rudolfo! Schau ihn dir an! Der Bengel von damals hat sich zu einem stattlichen Kerl gemausert. … Dir müssen die Frauen doch reihenweise hinterherlaufen. … Komm rein! Komm rein! Ich hab schon einen Imbiss hergerichtet. … Hey, Filius! Du erinnerst dich noch an Julius, den Zwillingsbruder von Judith?“ Während Maritta vor lauter Aufregung und Freude redete und redete, schob sie Julius in die gute Stube, wirbelte herum und verschwand in der Küche.
Die Gefühle, die sie dabei bei dem jungen Mann hervorgerufen hatte, schienen ihn fast zu erdrücken. Sie reichten von verblüfft über verwirrt bis ratlos. Seit wann wird man in Adanwe umarmt? Noch dazu von den Seelengefährtinnen? Und was war das? Der schnellste Mann der Welt, der Held … Was? Und überhaupt … Ich bin davon ausgegangen, dass die Renzinis nicht gut auf mich zu sprechen wären, da sie zum einen Freunde von Richard, Jean und Georg sind und zum anderen Voland dem Filius ein paarmal übel mitgespielt hat. Ich verstehe es einfach nicht.
Rudolfo trat grinsend mit einem Glas Selbstgebrannten an Julius heran und reichte es ihm. „Hier! … Trink! Und dann zieh deine mentale Mauer hoch. Du denkst zu laut. Wir brauchen gar nicht erst in deinen Kopf zu schauen. Deine Gedanken sind so allgegenwärtig, so offen … Aber lass mal. Du bist hier schon richtig aufgehoben. Sicherlich sind wir nicht ganz unvoreingenommen, was Voland betrifft, doch ich habe den Mann, den ihr mitgebracht habt, in den Arrest begleitet. Also ich bin der festen Überzeugung, er hat mit dem, der sich Voland nannte, kaum mehr zu tun wie du und ich. Deshalb geben wir ihm bei der morgigen Anhörung eine Chance.“
Ein kameradschaftlicher Schlag zwischen die Schulterblätter sorgte dafür, dass der Selbstgebrannte, den Julius gerade auf Ex in sich hineinschüttete, die falsche Röhre nahm und einen fürchterlichen Hustenanfall verursachte. Statt einer passenden Antwort, schnappte er lediglich mühsam nach Luft. Auf den Versuch eines neuen Schlages seitens Rudolfo auf seinen Rücken hob er nur abwehrend die Hände.
Der Salwidizer feixte daraufhin amüsiert, zuckte gleichmütig mit den Schultern und goss die Gläser nochmals voll. „Auf einem Bein kann man doch nicht stehen. Hier … dann geht's dir gleich viel besser. … Wo waren wir? Ach ja. Wenn du dich über die Begrüßung von Maritta wundern solltest … Das hat Amaranth eingeführt. Diese Frau wirft jegliche Konventionen unseres Volkes über den Haufen. Umarmen und Küsschen hier und Küsschen da sind jetzt bei den Frauen an der Tagesordnung.“
„Hm … Das mit der Tagesordnung kann so nicht stimmen. Meiner Schwester war ich nicht einmal ein Hallo wert, geschweige denn eine Umarmung“, japste Julius zerknirscht noch immer nach Atem ringend. „Rudolfo, dein Selbstgebrannter ätzt einem aber auch alles weg. Hast du eventuell noch einen, da doch der Erste den falschen Weg eingeschlagen hat. Vielleicht sollte ich gleich die ganze Flasche nehmen und mir den Aufenthalt in Adanwe schön trinken.“
Mit einem freudlosen Lachen sah er zu Rudolfo. Erst jetzt bemerkte er Marco, der in einem Sessel der Couchgarnitur aus hochwertigem, bordeauxfarbenem Leder vor dem offenen Kamin saß und ihn schweigend beobachtete.
Oh, wow! Ist der Kamin aus schwarzem Marmor auf Hochglanz poliert? Und diese kunstvollen Verzierungen erst … Mein lieber Schwan. Nicht von schlechten Eltern. Gedanken, die noch vor der Begrüßung des Sohnes von Rudolfo und Maritta beim Betrachten der imposanten Einrichtung schnell durch Julius' Kopf huschten. „Hallo, Filius. Schön dich wiederzusehen. Lange her, was?“ Irgendwie waren das nicht die richtigen Worte. Nicht die, die er sagen wollte oder hätte sagen sollen. Selbst in seinen Ohren hörte er sich flapsig, unsicher und eher befangen an.
Lag das an der Situation, in der sie sich befanden? Er, der Kan nach Adanwe gebracht hatte, und Filius, der im früheren Leben dieses Mannes durch jenen leiden musste. Schon wünschte Julius sich, der Filius würde ihn so angehen, wie seine Schwester es getan hatte.
Oder lag es an den Augen, dunkel wie Zartbitterschokolade, die ihn, ohne zu blinzeln, durchdringend fixierten? Geschmeidig erhob sich Marco mit fast ausdrucksloser Miene und kam langsam auf Julius zu.
Ausdruckslose Miene? War da nicht für einen kurzen Moment ein Funken der Überraschung in seinen Pupillen, eine Falte auf der Stirn, ein Zucken der Mundwinkel? Oder? Wohl eher nicht. Julius betrachtete den Mann, den er vor acht Jahren kennengelernt hatte und der ihm heute so fremd war.
Beide waren sie gleich groß, von gleicher Statur … breite Schultern, schmale Hüften, flacher Bauch mit klar definierten Muskeln. In Gegensatz zu Julius' blondem Haar war das vom Filius schwarz, aber ebenso lang. Schon damals waren sie sich einander so ähnlich gewesen … jung, übermütig, abenteuerlustig. Und obwohl Julius allenthalben bescheinigt wurde, zu welch einem gestandenen Kerl er sich doch entwickelt hatte, waren ihm diese Eigenschaften erhalten geblieben. Marco, der den Beinamen Filius kaum mehr verdiente, sah in seinen Gesichtszügen männlicher, gereifter, ernsthafter aus. Seinen Augen fehlte der jugendliche Schalk und seine sinnlichen Lippen waren fest zusammengekniffen. Der letzte Angriff Volands hatte dessen Leben nachhaltig verändert.
Marco streckte seinen Arm zum üblichen Gruß unter Salwidizern aus, den Julius erwiderte. „Sei gegrüßt, Julius. … Ja, du sagst es, lange ist es her und viel ist in den Jahren geschehen.“
Seine Stimme, die viel tiefer als früher war, und die wenigen unpersönlich klingenden Worte verursachten bei Julius eine Gänsehaut und ein eigenartiges Gefühl. Das Gefühl … nicht willkommen zu sein? Was? Seltsam. Die Hand vom Filius … Hatte er sie länger als nötig auf meiner Schulter liegen lassen, mit einem unerwarteten Druck? Warum?
Doch ehe er sich weitere Gedanken darüber machen konnte, erschien Maritta mit einem Tablett belegter Brote und lud alle ein, um den großen, runden Tisch mit den zahlreichen Stühlen in der Mitte des Raumes Platz zu nehmen. Es war so natürlich, als wären Besucher bei den Renzinis etwas Alltägliches.
„Na los, Jungs! Starrt euch nicht so an! Setzt euch! Rudolfo!… Los, los!“, mahnte die temperamentvolle Mutter von Marco und wedelte mit den Händen.
Rudolfo zwinkerte den Jungen zu. Ihm war die seltsame Spannung zwischen den beiden nicht entgangen, wollte vorerst jedoch nichts dazu sagen. „Dann woll'n wir mal, wenn die Chefin ruft. Setzt euch und greift zu! … Dabei kannst du vielleicht ein paar Fragen beantworten, Julius.“
„Okay.“ Auch wenn er sich gleichgültig gab, fühlte er, wie die Anspannung alle Innereien verknotete. An Essen war einfach nicht zu denken. Doch er wollte auch die Gastfreundschaft nicht mit Füßen treten und die Renzinis beleidigen. So fasste Julius beherzt zu. Wenn ich während des Mahles Rede und Antwort stehen soll, dann fällt es nicht so auf, dass mir absolut nicht nach Essen zumute ist. „Und? Was wollt ihr wissen? Soll ich einfach erst mal anfangen zu erzählen? Oder …“
„Gute Idee. Fang einfach an. Die meisten Fragen werden sich dann bestimmt erledigt haben“, murmelte Rudolfo mit vollem Mund und wippte mit seinem belegten Brot. „Schieß los!“
„Hm … Eigentlich wollte ich mit meinen Freunden zu einer Hochzeit im Norden Schottlands. Und dann kam doch alles anders.“ Julius erzählte seine Geschichte.
„Ihr kennt mich. Bei allem, was ein Abenteuer verspricht, muss ich mitmischen. Ich wusste, dass irgendeiner von euch auf der Bildfläche erscheinen würde, wenn es um Anna und Lara ging. Und so war es dann auch. Ich durfte Fabrice, Lanny, Manuel und Charlie kennenlernen. Und die hatten echt alles im Griff. Während sie einen Plan entwickelten und mit Anna …Später erfuhr ich, dass sie die vermisste Adanna, die Tochter von Luruna, war. Also … mit ihr, telepathischen Kontakt aufnahmen, habe ich meine Neugier befriedigt. … Nun, wie gesagt, ich schnüffelte überall ein wenig herum und geriet in das Höhlensystem der Insel, auf der wir Position bezogen hatten. Weil mir unglücklicherweise der Rückweg versperrt war, schaute ich mich halt ein wenig dort unten um … Vorratskammern; kleinere Höhlen, ausgestattet wie Separees; sanitäre Einrichtungen; eine Küche. Eigentlich alles, was einen gut gehenden Club ausmacht. Zugegeben, ein … äußerst distinguierter Club. Der wahre Charakter zeigte sich jedoch in der Haupthöhle. Eine Orgie der sieben Todsünden: Hochmut, Neid, Zorn, Trägheit, Habgier, Völlerei und Wollust; alles schien da im Gang gewesen zu sein. Wohin man in dieser riesigen Höhle sah, dominierten neben all dem Verfall menschlicher Werte nackte und halb nackte Männer und Frauen das Bild. Sie kamen mir auf ihrer Flucht entgegengelaufen, ohne mich überhaupt wahrzunehmen. Also hab' ich mich zu genau jenem Sündenpfuhl aufgemacht und sah, wie Fabrice von einem Kerl mit einer Diamantklinge bedroht wurde. Was sollte ich da groß überlegen? Ich entwendete diesem Typen die Waffe und … na ja … Stich ins Herz und Kopf ab. Sorry. … Hm … Als wir wieder an der Oberfläche der Insel waren, erzählten mir die anderen, was sich in meiner Abwesenheit zugetragen hatte. Unter anderem auch, dass Enne und ihr Seelengefährte Kan Gefangene des Besitzers dieses Etablissements waren. Ihr könnte euch vorstellen, was für ein Schock das für Fabrice, Lanny und Manuel war, als sie entdeckten, wer sich hinter Ennes Seelengefährte verbarg. Ich sage euch, sie waren nicht froh darüber. Doch Anna hat einfach Enne, die sie ja mehr oder weniger als ihre Mutter angesehen hatte, vertraut. Und um die anderen zu überzeugen, hat sie in Kans Erinnerungen geforscht.“
Voller Spannung hingen die Renzinis an Julius' Lippen.
Genau an der Stelle mit den Erinnerungen kroch Rudolfo fast über den Tisch, um Julius näher zu sein. Das ist interessant. Adanna kann Erinnerungen lesen? Eine sehr außergewöhnliche Gabe, die bisher noch keinem Salwidizer untergekommen ist. Lurunas Töchter scheinen alle einzigartige Gaben zu besitzen. Arjana ist eine Amina Videntis, eine Seelenwanderin, und kann in jeder Seele das Unterste zuoberst kehren. Helena, eigentlich Aleen, kann sich an jede Begebenheit ihres Lebens erinnern, kann alle irgendwann gesehen, gehörten und gefühlten Informationen aus ihren Gedächtnis abrufen. Und nun Adanna. Rudolfo schüttelte beeindruckt den Kopf und was auch immer er gerade denken mochte, plötzlich verfinsterte sich seine Miene. „Erinnerungen, sagst du. Was für Erinnerungen?“
Julius zuckte leichthin mit der Schulter, legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. Was sollte er sagen? Was konnte er sagen? Es war jedenfalls nicht das, was Rudolfo erhoffte.
„ Tut mir ehrlich leid, aber die erste Erinnerung liegt viertausend Jahre zurück. Zu dem Zeitpunkt war Kan aus dem Nichts gefallen. Ihr müsst euch das so vorstellen: … Er schlug in dem Moment auf der Erde auf, in dem Voland als Roland geboren wurde. Sie haben wie zwei verschiedene Personen all die Jahrtausende durchlebt.“
„ Aber er weiß doch, wer er früher einmal war und was er für verachtungswürdige Dinge getan hat?“
Julius spürte den anklagenden Blick von Marco. Und es gefiel ihm gar nicht. Ganz im Gegenteil, es verunsicherte ihn. Er hoffte nur, er bemerkte es nicht. „Sicher. Er wusste, welche Verbrechen Voland, also er in seinem früheren Leben, begangen hat. Und er war sich dessen auch bewusst, dass keiner gut auf ihn zu sprechen war und, sollte er nach Adanwe kommen, er vor Gericht gestellt werden würde. Dennoch …“
„ Was? Warum hat er nicht eingegriffen? Warum hat er sein altes Ich nicht gestoppt?“ Ein Zittern lag in Marcos Stimme.
Rudolfo legte seine Hand beruhigend auf den Arm seines Sohnes und blickte ihm forschend in die Augen. Ist es wirklich nur die Aufregung und die Erinnerungen an Voland, der ihn bei seinem letzten Zusammentreffen an einen Eisblock gepfählt und ausbluten lassen hatte? Oder ist da noch etwas anderes, was der Filius zu unterdrücken sucht?
Julius sah ebenfalls in die dunkelbraunen Augen, die im Augenblick fast schwarz wirkten. War da wieder dieses kurze Funkeln? Wohl nicht. Konzentriere dich auf die Fragen. „So leicht ist diese Frage nicht zu beantworten, die Frage nach dem Warum. Wir haben sie auch gestellt. … Bis auf wenige Flashbacks, einzelne Bilder einer Rückblende, hatte er keine Erinnerungen an sein früheres Leben. Auch er erfuhr genau wie wir von den Untaten. Er sah sie nicht voraus, konnte sie nicht verhindern. Und was das Eingreifen angeht … Wann hätte er eingreifen sollen? … Ich meine, das frage ich euch jetzt. Vor tausend Jahren? Vor hundert Jahren? Wann? Welcher Zeitpunkt wäre der richtige gewesen? Hätte er überhaupt in die Geschichte eingreifen sollen? Was hätte sich verändert? Was wäre anders? … Natürlich haben wir ihn das Gleiche gefragt. … Seltsamerweise hat er mit der Antwort gezögert, als müsste er … hm … Na auf jeden Fall hat er immerhin seinen sogenannten Freund, der sich später als sein Feind entpuppte, daran gehindert, sich mit Voland zusammenzutun. … Ich denke, morgen bei der Anhörung werden noch ganz andere Dinge ans Tageslicht kommen, die wir nicht im Entferntesten erahnen.“
„ Ähm … Wie meinst du das?“, wollte Maritta wissen, die bisher nur schweigend zugehört hatte. Was soll denn noch ans Tageslicht kommen? Vor allem: … Woher? Von wem? Was wissen wir nicht? Was weiß Menanim, der Große Geist der Allwissenden Steine, nicht. Sicher, es gab eine Zeit, da bestanden Zweifel an seinem Wissen. Volands eigene Welt hatte die magische Barriere geschwächt und Menanim blieben immer mehr Informationen verborgen. Doch diese Zeiten sind vorbei. Also … Auf was spielt Julius an? Sie konnte sich das nicht vorstellen. Das sah man auch an den Falten auf ihrer Stirn.
Sofort bereute Julius, den letzten Satz gesagt zu haben. Seiner Schwester hatte er vorgeworfen, zu viel zu vertrauen und zu wenig zu hinterfragen. Bei den Renzinis war das Gegenteil der Fall. Sie wollten alles genau wissen.
„ Nun ja, es ist nur ein unbestimmtes Gefühl, ein flüchtiger Gedanke“, druckste er herum. „Vielleicht verstehe ich als Mensch ja auch nicht allzu viel von eurer Lebensweise. Ich möchte euch wirklich nicht … hm … zu nahe treten … beleidigen …“ Er suchte nach den richtigen Worten, konnte sie jedoch nicht finden. Er hätte sich gern lässig zurückgelehnt, doch seine Nervosität ließ sich nicht verbergen. Sein Blick huschte von einem zum anderen und richtete sich letztendlich auf seine Hände, die über seine Oberschenkel rieben.
Rudolfo musterte ihn aus zusammengekniffenen Augen und schüttelte dann wie so oft den Kopf mit dem schwarzen Haar … kurz geschnitten an den Seiten und länger gehaltenes Deckhaar, dessen Wellen ihm bei jeder Bewegung schwungvoll ins Gesicht fielen. Ein gepflegter Dreitagebart rahmte seine vollen Lippen ein, die im Moment, zwei regelmäßige Reihen weißer Zähne zeigten. Rudolfo lächelte. Wie kommt der Junge nur darauf, dass er uns beleidigen könnte? So ein Bullshit.
„ Also, jetzt raus mit Sprache. Was hast du auf dem Herzen. Was spuken dir für Gedanken im Kopf herum? … Und wage es ja nicht, uns anzuflunkern.“ Er nickte Julius aufmunternd zu und lächelte noch breiter. „Komm schon. Wir reißen dir den Kopf nicht ab. Und wir beanspruchen nicht, alles zu wissen und über alles und jeden erhaben zu sein. Wenn du gewisse Zweifel an unserer Lebensweise hast … Her damit!“
Noch immer haderte Julius mit sich, ob er es wirklich wagen sollte. Bei Judith war es jedenfalls nach hinten losgegangen. Aber Rudolfo war ein echter Salwidizer und außerdem alt. Wer, wenn nicht er, sollte seine Zweifel ausräumen können. Er atmete tief durch und blickte reihum. Er sah keine Ablehnung in den Gesichtern. Okay, dann mal los, Julius! „Was ich euch jetzt sage, ist meine ganz persönliche Meinung, zu der ich im Laufe der Zeit meiner Freundschaft mit einigen Salwidizern gekommen bin. … Hm … Gut. … Ähm … Wie oft nehmt ihr das Leben als gegeben hin? Es scheint alles irgendwie vorherbestimmt. Und damit meine ich nicht nur euer Lebensmotto: Alles kommt, wie es kommen muss. Seinem Schicksal kann keiner entfliehen. Es gibt so viele Traditionen und Überlieferungen, Regeln und Riten aus längst vergangenen Zeiten. … Total unzeitgemäß. Dabei ist gerade das Volk Adanwes in so vielerlei Hinsicht über alle Maßen fortschrittlich und der Zeit voraus. Ihr seid für mich eine Spezies voller Widersprüche. Und nun frag' ich mich halt … Warum ist das so? Warum hinterfragt ihr nicht das eine oder andere? Ich weiß, ihr vertraut und legt viel Wert auf die Meinung des Großen Menanim und des Hohen Rates. Aber wo bleiben eure Meinungen, Ideen, Ansichten? War das schon immer so oder ist irgendwann etwas geschehen, das diese Lebensweise erforderlich macht? Und kann das in der heutigen Zeit nicht schon überholt sein? Ihr seid doch nicht zu bequem, um andere entscheiden zu lassen. In meiner Welt beweist ihr es Tag für Tag. Aber hier in Adanwe? … Ähm … Ich denke, Kan Hayat hat hierauf die Antwort. Wenn ich in sein Gesicht sehe, weiß ich es, fühle ich es. Er wird euer Volk in eine andere Richtung schubsen, eine … die Menschen würden sagen: eine demokratische Zukunft .“ Julius hatte zögerlich begonnen und war dann immer schneller geworden, bis die Worte nur so aus ihm heraussprudelten.
Nun war es mucksmäuschenstill.
Maritta, Rudolfo und Marco schauten Julius sprachlos an. Wobei der nicht zu sagen wusste, was in den Köpfen der Renzinis vor sich ging. Ihre Mienen waren ohne jegliche Emotionen.
Und Julius? Julius wusste nicht, wohin er sehen sollte. Er spürte die Blicke und schloss für einen Moment die Augen. Habe ich sie doch beleidigt? War es falsch gewesen, so offen meine Meinung kundzutun und über meine Eindrücke bezüglich Kan Hayat zu sprechen?
Jäh wurde er aus seinen Gedanken gerissen.
Die Tür zur guten Stube wurde mit Schwung aufgestoßen und Hannes stürmte ins Zimmer. „Hey, du Spinner! Was hast du mit Judith gemacht? Seit du das Haus verlassen hast, sitzt sie da und heult sich die Augen aus dem Kopf. Du denkst wohl, weil du einen von uns gerettet hast, gibt es dir das Recht, alle die nicht deiner Meinung sind, in Grund und Boden zu knüppeln?!“
Vorwürfe, die jeglicher Grundlage entbehrten, und Beleidigungen prasselten auf Julius ein. Er war froh, dass Hannes Fäuste lediglich auf den Tisch niederstießen. So viel zu seiner einstigen Freundschaft mit diesem Mann. Wenn dieser könnte, würde er Kleinholz aus ihm machen.
Aber er konnte nicht, denn Rudolfo ging als Hausherr und Gastgeber dazwischen. „Ich weiß ja nicht, wer von euch beiden der Spinner ist und alles in Grund und Boden knüppelt! Aber Julius besitzt zumindest so viel Anstand, sich gesittet in meinem Haus zu bewegen. Was ich allerdings von dir nicht sagen kann, Hannes. Geh nach Hause und kläre das mit Judith! Und wenn sie dir nicht antworten kann oder will, dann schau nach. Es ist dein Recht, ihre Gedanken zu lesen, wenn du ihr damit helfen kannst, glücklich zu sein. … Ansonsten, Hannes … Wir sehen uns morgen in der Vita zur Anhörung.“ Rudolfo war bei seinen Worten aufgestanden und hatte sich, trotz seiner ruhigen Stimmlage bei der Zurechtweisung, in voller Größe vor Hannes aufgebaut. Er war zwar kleiner, aber dennoch wirkte es drohend. Mit blitzenden Augen starrte er Hannes an und warte, bis dieser das Haus verließ.