Читать книгу Töchter der Caluoc - A. B. Schuetze - Страница 6
Familiengeheimnis
ОглавлениеWer bist du? Wo bist du?
Charlotte heftete ihren Blick so lange auf dieses eine Foto, dass sie schon vermeinte, der Fremde erwache vor ihren Augen zum Leben. Nur vom Anstarren würde sich das Rätsel um das Ganze nicht lösen. Das war Charlotte durchaus klar.
Sie legte das Bild zurück auf den Tisch. „So kommen wir wohl nicht weiter, oder? Nur Henrys Brief kann uns jetzt noch Aufschluss über das alles geben. Wo sind die Männer da nur hineingerutscht? Ach Urs. Hätten wir die Büchse der Pandora doch nie geöffnet. Ich könnte um meinen Großvater trauern, so wie ich es bei meinen Eltern tat und dann wäre das Leben irgendwann weiter gegangen.“
Seufzend kuschelte sich Charlotte an Urs und nahm den Umschlag zur Hand, der hoffentlich Licht in die ganze Sache brachte. Unentschlossen drehte sie ihn hin und her, ließ ihn auf und ab wippen und seufzte nochmals aus tiefstem Herzen.
„Gott Charlie. Du wirst da nicht drumherum kommen. Komm schon. Je eher, desto schneller. Dann hast du es hinter dir. Hm … Ich meine … Wenn du willst … Soll ich dir den Brief vorlesen? … Andererseits ist es besser, du könntest dich selber dazu durchringen.“ Urs würde Charlotte gern all die Last abnehmen, sie in Watte packen und allen Ärger von ihr fernhalten. Aber das lag nicht in seiner Macht. Selbst wenn, Charlotte würde es nicht wollen. Und so blieb ihm nur abzuwarten.
Ach Großvater. In Gedanken an Henry umfasste Charlotte den Feueropal ihrer Kette.
Sofort spürte sie die Energie, die in sie hineinfloss und alle Unentschlossenheit hinwegfegte. Ohne noch weiter zu zögern, öffnete sie den Umschlag und holte einen viele Seiten langen Brief heraus.
Beim Durchblättern sah Charlotte, dass nur die ersten Seiten von Henry waren. Der Rest war eine Art Tagebuch in loser Blattsammlung …
Die Handschrift meines Vaters. Warum hat mein Vater Tagebuch geführt? Wieso besaß mein Großvater diese Aufzeichnungen? … Und warum hielt er es unter Verschluss?
Charlotte spürte, wie ihre Hände feucht wurden. Ihr Herz pumpte auf Hochtouren. Adrenalin schoss plötzlich durch ihre Adern.
Das ist es also, Großvater? Was erwartest du bloß von mir? Was soll ICH denn damit?
Sie schloss die Augen und rief die Ruhe in ihrem Inneren an. Es kostete sie momentan sehr viel Kraft, aber wozu war jahrelanges autogenes Training gut, wenn nicht für solche Situationen.
„Okay. Dann wollen wir mal.“
Urs war still geworden. Er fieberte mit Charlotte, wollte aber ihr mühsam errungenes Gleichgewicht nicht wieder aus dem Takt bringen. Er überließ sie ganz sich selbst und lauschte nur.
Es herrschte Mucksmäuschenstille. Nur das Papier raschelte, als Charlotte Henrys Brief zur Hand nahm und leise vorlas.
Hallo mein Krümelchen, „Ha … Krümelchen. Wie oft hab ich mich darüber geärgert. Ich bin Gute Größe. … Nun fehlt es mir, dieses >Krümelchen<.“
du wirst jetzt in der Sofaecke sitzen und Trost bei Urs suchen. Sei nicht traurig, meine Kleine. Das Leben geht weiter und du hast noch eine ganze Menge davon vor dir. Also Kopf hoch und mach das Beste draus. Schenke Urs ein Lächeln. Er wird an deiner Seite sein, so lange du es nur zulässt. Und mit diesem Wissen, fallen mir auch die nächsten Zeilen nicht allzu schwer.
Ich hätte dich mit all dem nicht belasten sollen, doch immer fehlte mir der Mut, das wahrscheinlich einzig Richtige zu tun. Vielleicht, aber auch nur vielleicht, hätten dann Leben gerettet werden können. Ich weiß es nicht.
Nun sehe ich deinen fragenden Blick auf die Zeitungsartikel, die Fotos und nicht zuletzt auf das Tagebuch deines Vaters gerichtet.
Ja. Irgendwie hängen die vielen Todesfälle mit dem Geschehen, welches dieses Buch beschreibt, zusammen. Doch bleiben mir die Antworten auf meine Fragen verwehrt.
Schaut euch die Unterlagen an. Dann entscheidet, ob ihr sie dem Kommissar, der den Unfall deiner Eltern untersucht hat, aushändigen wollt. Ich nehme an, er wird schon bei dir gewesen sein. Es ist doch derselbe? Wie hieß er doch gleich?
„Kommissar Grünthaler, Großvater. Er hieß Grünthaler … und ja, so ein …“, warf Charlotte ein.
… dünner drahtiger Kerl mit stechenden braunen Augen, die einen durchbohren wollen, um an alle Informationen in einem heranzukommen. Oder aber, ihr lasst alles auf sich beruhen. Es ist vorbei. Bevor du das Tagebuch deines Vaters liest … Jetzt fällt es mir doch schwerer, als ich vermutet hätte. Also mein Krümelchen, bevor du das Tagebuch deines Vaters liest, möchte ich dich innigst bitten, behalte uns so in Erinnerung, wie du uns kanntest. Wir liebten dich ohne Ende. Du warst unser Sonnenschein. So … nun also los. Als deine Großmutter, meine geliebte Johanna, nach langer schwerer Krankheit starb, war ich ohne Lebensfreude. Ausgelaugt. Alle Kräfte aufgezehrt. Antriebslos. Deine Mutter verordnete mir eine Auszeit und führte in der Zeit die Kanzlei. Ich machte mich auf in die Wildnis. Das kannst du dir nicht vorstellen? Oh doch, aber genau so war es. Zu der Zeit plante ein namhaftes Forschungszentrum eine Expedition oder wohl eher eine Art Natursport, der eine Auseinandersetzung mit der Natur ermöglichen und dich an deine eigenen Grenzen bringen sollte. Es war Abenteuer pur, Überleben in der Wildnis Alaskas. Sie finanzierten alles. Flug, Ausrüstung und eine Prämie für jeden. Dafür sollten die Teilnehmer Boden– und Wasserproben nehmen, die Fauna und Flora fotografieren, dokumentieren und eine Art Videotagebuch führen. Konstantin organisierte meine Teilnahme und so ging's dann los. Bei diesem Unternehmen lernte ich deinen Vater kennen. Obwohl er so ein Jungspund war und den Kopf voller Flausen hatte, verstanden wir uns auf Anhieb. Er wuchs mir ans Herz und war wie ein Sohn für mich. Nach der Expedition, die nicht unter einem guten Stern stand und von einem traurigen Vorkommnis überschattet wurde, bot ich ihm an, in der Kanzlei zu arbeiten, in welcher er deine Mutter kennen lernte. Ich glaube, es hatte sofort zwischen den beiden gefunkt. Ich war glücklich und nach und nach verdrängten wir die Erlebnisse der Expedition. Deine Mutter wusste von all dem nichts. Dein Vater und ich verbargen die Trauer tief in unserem Inneren. Dann wurdest du geboren und mit dir ging die Sonne auf. Übrigens, mein Krümelchen, diese wunderschöne Kette, die du jetzt bestimmt schon angelegt hast, war wahrhaftig einfach da. Du warst gerade mal ein paar Tage alt, da hieltest du sie in der Hand. Da wir nicht wussten woher sie kam, haben wir sie für dich aufbewahrt, bis du alt genug für ihre Macht sein würdest. Spürst du ihre Kraft? Ihre Energie? Hüte sie gut. Sie wird dir Glück bringen. Hm … und dann kam der Tag, als deine Eltern diesen entsetzlichen Unfall hatten. Schon damals überkam mich das Gefühl, dass es kein Unfall war. Irgendwie kam mir sofort die Expedition in den Sinn. Aber warum nach all den Jahren? Doch dieses Gefühl wollte nicht mehr von mir weichen. Im Gegenteil. Das Unbehagen wuchs, als dann jedes Jahr einer der Teilnehmer auf mystische Weise ums Leben kam. Ich wusste, dass es mich auch eines Tages erwischen würde. So trug ich Informationen zusammen, damit du … Ja, was eigentlich machen sollst? Vielleicht auch nur, damit du über die Vergangenheit deiner Familie Bescheid weißt. Vergiss nie, Krümelchen, wir haben dich mit jeder Faser unseres Seins geliebt. Ich wünsche dir alles Glück dieser Welt. Dein Großvater Henry
Stille. Keiner wusste, was er dazu sagen sollte.
Charlotte hatte den Brief in ihren Schoß sinken lassen und starrte nun schweigend auf die Seiten des Tagebuch, welche auf dem Tisch lagen.
Henry hatte nur Andeutungen gemacht, Vermutungen angestellt. Aussagekräftig war weder das eine noch das andere. Vage, geheimnisumwittert. Eine Antwort oder gar die Lösung liegen noch in weiter Ferne. Aber soviel hast du wenigstens durchblicken lassen. Es gab bei dieser Expedition ein bedeutungsschweres Vorkommnis. Für den einen traurig. Für den anderen womöglich ärgerlich? Woran dachtest du beim Tod aller Expeditionsteilnehmer? Eigentlich kommt nur eins in Frage.
„Rache!“
Urs blickte Charlotte verdattert an. „Was?“
„Na Rache. Darum sind die alle tot. Etwas ist während der Expedition geschehen. Henry hat es gesagt. Glaub mir, irgendjemand ist stinksauer … “ Sie griff nach dem Tagebuch. „ … und hier steht drin, wer und warum. Wollen wir erst eine Pause einlegen oder können wir gleich weitermachen?“
Urs schüttelte nur den Kopf und zeigte auf die verbleibenden Seiten. Sebastians Tagebuch.
Also sofort und ohne darüber großartig nachzudenken, … nicht, dass sie es sich später nochmals überlegte, blätterte Charlotte zum ersten Eintrag. Es war der Tag, als die Männer der Expedition in die Wildnis entlassen wurden.
01. Februar
Ich glaube unsere Exkursion in die Wildnis Alaskas steht unter einem guten Stern. Wann hätten wir starten sollen, wenn nicht heute, an einem 1. Februar eines Schaltjahres.
Wir, das sind Jens (der als Naturschützer stets ein Auge auf derartige Unternehmungen hat), Ferenc (einen Mediziner dabei zu haben ist immer gut), Kolja (will als Tierschützer nach Wölfen Ausschau halten), Alan (als Reporter wird er das Videotagebuch führen) und dann wären noch die, die beruflich nicht so ganz in die Gruppe passen. Henry (der sich privat eine Auszeit genommen hat), mein ein Jahr jüngerer Bruder Thomas (frischgebackener Kulturwissenschaftler) und meine Wenigkeit (angehender Rechtsanwalt). Aber das Institut wird sich schon etwas dabei gedacht haben, zwei Juristen und einen Kulturwissenschaftler dabei haben zu wollen.
Und so sind wir also eine bunt zusammengewürfelte Truppe verschiedener Nationen, jeglichen Alters und Berufes. Eines jedoch ist uns gemein. Wir lieben das Abenteuer und den Nervenkitzel des Outdoor-Sports, der uns die Möglichkeit bietet, uns mit der Natur und mit uns selbst auseinanderzusetzen, unsere Grenzen auszutesten und zu überwinden.
Gleich nach Sonnenaufgang flog uns ein Hubschrauber hinauf aufs Hochplateau.
Von hier aus ist es unser Ziel, durch die Wildnis hinab ins Tal zu wandern, wo wir in sechs Wochen abgeholt werden sollen. Mit Sicherheit brauchen wir diese Zeit auch. Schließlich sollen wir ja Erd- und Wasserproben nehmen und die Tier- und Pflanzenwelt dokumentieren. Mehr als sieben Stunden am Stück werden wir nicht durch die Wildnis wandern können, bedenkt man, dass wir maximal sieben bis neun Stunden Tageslicht haben werden und das Lager, ohne das bestehende ökologische System negativ zu beeinflussen, fast täglich auf und wieder abgebaut werden muss.
Also rafften wir unser mordsmäßig schweres Gepäck zusammen. Ich kam mir vor, wie ein Packesel und nach spätestens zwei Tagen werde ich vermutlich unter der Last zusammenbrechen. Jens und Kolja witzeln schon, dass sie im Endeffekt die „Sesselpupser“ und „Bücherwürmer“ Huckepack den Berg hinuntertragen müssen. Die beiden haben sich gesucht und gefunden.
Henry hat sich meinem Bruder und mir angeschlossen. Der Doc scheint ein Einzelgänger zu sein und hält sich stets abseits. Alan ist in seinem Element. Er hält alles mit seiner Kamera fest. Oftmals müssen wir auf ihn warten.
Trotzdem sind wir heute gut vorangekommen und haben nach Schnee, Eis und Felsen die ersten noch spärlich wachsenden Bäume erreicht, und in deren Schutz unsere Zelte aufgebaut. Ab morgen nehmen wir die ersten Proben, bestimmen die überwiegende Pflanzenwelt und halten nach Tieren Ausschau. Dann geht's weiter …
Da haben wir schon mal die Teilnehmer. Heute alle tot, außer Thomas. Ich habe also einen Onkel. Oder gehabt.“
Charlotte seufzte und blätterte die Seiten um. Flüchtig überflog sie die folgenden Eintragungen, die da aus wissenschaftlichen Daten, wie Temperatur, Wetter, Bodenbeschaffenheit, Pflanzenwuchs und dergleichen bestanden. Kaum nennenswerte Vorkommnisse, die besonderen Einfluss auf die Expedition gehabt hätten.
Nach beinahe vier Wochen tauchten dann die ersten besorgniserregenden Ereignisse auf.
„Urs. Schau hier ist von Wölfen die Rede.“
24. Februar
Schon seit Tagen sind die Wölfe zu hören. Ich habe das Gefühl, sie verfolgen uns. Mir jagen sie jedes mal eine Gänsehaut über den Körper.
Kolja ist ganz aus dem Häuschen. Er ist sich sicher, es ist Paarungszeit. „Wenn wir uns den Tieren nicht nähern, droht uns keine Gefahr. In der Paarungszeit herrscht große Unruhe im Rudel. Alles dreht sich nur um die Paarung. In der Zeit jagen die Wölfe nur selten.“ Am liebsten würde er das ja näher untersuchen. „Es ist nämlich noch nicht hundert pro bewiesen, ob sich nur das Alphapaar vermehren darf. Allgemein bekannt ist, dass das Alphaweibchen kaum andere Welpen zulässt. Doch scheinen mir persönlich das zu wenig Junge, um die Art zu erhalten.“
Nun, wir anderen wissen nicht, ob wir die Euphorie unseres Tierschützers teilen sollen. Uns ist es lieber, so viel Territorium wie möglich zwischen uns und die liebestollen Wölfe zu bringen …
27. Februar
Die Wölfe sind noch immer in der Nähe.
Mittlerweile sind wir sicher, sie folgen uns. Scheinbar sind sie zu einem ganz bestimmten Gebiet unterwegs. Unglücklicherweise führt unser Weg ebenfalls dahin …
„Der nächste Eintrag ist dann erst vierzehn Tage später. Da muss die Expedition schon zu Ende gewesen sein.“
Jetzt. Jetzt werden wir es erfahren. Gott ist mir schlecht.
„Urs? Vielleicht könntest du … Na ja, vielleicht könntest du den letzten Eintrag lesen. Mir ist schon ganz …“ Charlotte lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück und wartete, bis Urs begann.
12. März Es war einfach nur furchtbar und ich bin immer noch nicht bereit, das Geschehene zu akzeptieren. Es muss doch einen Weg geben, meinen Bruder zu finden.
Alles begann damit, dass urplötzlich vor uns ein Dorf auftauchte, wo laut Karte gar keins hätte sein dürfen. Aber es war definitiv da.
Eine Hand voll Häuser im Kreis angeordnet. Im Zentrum ein Lagerfeuer. Man konnte nicht einmal behaupten, es handele sich um Nomaden, die mit ihren Zelten umherziehen. Nein. Es war eine Ansiedlung.
Alan hielt mit der Kamera drauf und Jens vermerkte das Dorf in der Karte. So etwas musste doch dokumentiert werden.
Die Bewohner empfingen uns außergewöhnlich freundlich und zuvorkommend. Es fühlte sich an, als habe man uns bereits erwartet. Sie sprachen weder den hiesigen Dialekt noch eine Sprache, die einer von uns verstand. Nur die 'Ewileb' … eine weise Frau, eine Schamanin, … war unserer Sprache kundig. Auch schien sie alle Sprachen der Welt zu beherrschen, was natürlich nicht sein konnte.
Sie lud uns ein, bei der jährlichen Paarungsfeier Gast zu sein. Sie meinte, es werde getanzt, die Göttin Luruna angerufen und der Erhaltung des Wolfsgeschlechts gehuldigt und gefrönt. Auf unsere Fragen bezüglich der Riten erhielten wir nur ein geheimnisvolles Lächeln.
Wir wurden reichlich bewirtet mit Wildbret, Maisbrei, Obst und Gemüse im Überfluss. Ein Getränk, sie nannten es Howebi, floss in Strömen. Süß, im Abgang herb, machte einen warmen Bauch und ging sofort ins Blut. Es berauschte bereits nach den ersten Schlucken.
Dann erklangen die Trommeln und die Königin bestieg ein Podest aus weiß polierten Knochen. „Menschenknochen“, meinte der Doc.
Die Königin musste schon sehr alt sein und doch sah man ihr noch immer an, dass sie einstmals wunderschön gewesen war. Langes weißes Haar wallte bis zu ihren Hüften. Ihre tiefblauen Augen blickten abwesend in die Ferne. Sie trug ein schlichtes Leinengewand. Darüber einen Umhang aus Wolfspelzen. Statt einer Krone zierte ein Wolfskopf ihr Haupt.
Zu ihren Füßen knieten zu beiden Seiten je ein Jüngling, fast noch Kinder. Sie waren lediglich mit einem Wolfsfell und einem Wolfskopf als Maske bekleidet.
Ich werde diesen Anblick wohl nie vergessen. Es durchfuhr mich eiskalt.
Junge Männer, ebenfalls in Wolfsfelle gehüllt, tanzten zum Klang der Trommeln um das Feuer und stimmten mit den Jünglingen den Gesang der Wölfe an.
Der Mond hing wie eine riesige gelbe Scheibe am Himmel und begann sich blutrot zu färben. Die Luft kühlte sich merklich ab und aus den Wäldern stieg langsam Nebel auf.
„Wir verschwinden von hier. Ich habe ein ganz mulmiges Gefühl. Wir sind hier in irgendein bizarres Ritual hineingeraten.“, meinte Henry.
Auch die anderen hatten die Wirkung des Gesanges und Tanzes gespürt.
Der Nebel hatte mittlerweile das Dorf und den umliegenden Wald vollkommen verschluckt und rund um den Schauplatz haltgemacht. Er wuchs nun wie eine undurchdringliche Wand zum Himmel empor.
Abrupt schwiegen die Trommeln. Der Gesang der Wölfe verstummte. Absolute Stille hatte sich über das Dorf gelegt. Eine Stille, in der jede Bewegung eingefroren schien. Selbst die Flammen des lodernden Lagerfeuers erweckten den Eindruck, erstarrt zu sein.
Majestätisch erhob sich die Königin.
Sie erstrahlte in einem gleißenden Licht. Mit nach oben geöffneten Händen streckte sie die Arme nach vorn und schuf einen hellen leuchtenden Tunnel in den Nebel hinein.
Das war der Zeitpunkt, an dem wir den Rückzug antraten. Ich ermahnte Thomas, sofort mitzukommen. Ich bettelte ihn an. Aber er, als Kulturwissenschaftler, wollte unbedingt wissen, was da geschah.
Seine Augen leuchteten vor Begeisterung. Er reagierte nicht mehr auf unsere Zurufe. Wie hypnotisiert ging er auf den Lichtkegel im Nebel zu.
Ein letztes Mal noch schaute ich zurück und sah wie er mit einer Lichterscheinung, die aus dem Nebel trat, zu verschmelzen schien.
Henry zog mich gegen meinen Willen hinter sich her. „Junge. Da ist nichts mehr zu machen. Wir marschieren jetzt ohne Unterbrechung hinab ins Tal und werden dann die Behörden informieren. Wir werden Thomas wiederfinden. Aber jetzt komm, bevor wir alle noch in Gefahr geraten.“
Fast ohnmächtig vor Trauer und Wut kamen wir am Treffpunkt an. Obwohl uns keiner im Tal glaubte … die Kamera und die Karte waren auf unerklärliche Weise verschwunden … starteten die Einheimischen eine Suchaktion. Auch polizeiliche Ermittlungen in den darauffolgenden Wochen brachten keinen Erfolg. Es gab kein Dorf, keine Lichtung, keine Eingeborenen.
Mein Bruder blieb verschwunden.
Ich war am Boden zerstört und Henry nahm sich meiner an.
Charlotte hatten sich alle Haare aufgestellt. Sie fröstelte.
Das war es also. Sie hatten meinen Onkel Thomas einfach zurückgelassen. Was war mit ihm geschehen? War er der Rächer? Aber warum dann erst nach all den Jahren?