Читать книгу Töchter der Caluoc - A. B. Schuetze - Страница 7
Die Entdeckung
ОглавлениеCharlotte war von dem, was sie soeben erfahren hatte, so erschüttert, dass sie weinen wollte. Doch es waren keine Tränen mehr da. So schmiegte sie sich an Urs und schluchzte leise vor sich hin.
„Komm her Krümelchen.“ Er schlang sein Arme um sie und hauchte einen Kuss in ihr Haar. „Was ist das nur für eine Geschichte? Können wir sie überhaupt jemandem erzählen, ohne die Männer mit den weißen Kitteln auf den Plan zu rufen? Hm. Auf keinen Fall dem Grünthaler. Der denkt, wir nehmen ihn bloß auf den Arm. … Ähm … Ich frage mich jedoch, wieso sind die Kamera und Karten spurlos verschwunden, nicht aber das Tagebuch? Wahrscheinlich weiß gar keiner, dass es noch existiert. Den Behörden in Alaska scheint es dein Vater nicht gezeigt zu haben. Sonst hätten die es mit Sicherheit als Beweismittel beschlagnahmt.“
Mit einem leicht missglücktem Lächeln sah Charlotte
zu Urs auf. „Das werden wir wohl nicht mehr erfahren. Aber vielleicht ist es ja gerade das, weshalb alle sterben mussten? Möglicherweise gibt es doch jemanden, der davon Kenntnis hat und eine Veröffentlichung unter allen Umständen verhindern will. … Weißt du … Jetzt versteh ich auch, warum Henry und mein Vater das Tagebuch unter Verschluss gehalten haben. Sie wagten einfach nicht, Außenstehende ins Vertrauen zu ziehen. Es steht zwar jetzt nicht explizit im Tagebuch, doch es ist durchaus möglich, dass sich die Männer zur Verschwiegenheit verpflichten mussten. Sei es auch nur, weil das Forschungsinstitut wegen etwaiger negativer Publicity darauf bestand.“
„Du meinst gegen Bezahlung? Vielleicht die Prämie von Thomas?“, fragte Urs skeptisch.
Abwehrend hob Charlotte die Hände und schüttelte energisch den Kopf. „Daran möchte ich nicht einmal denken. Ich meinte eher so in Richtung Verfahren wegen Rufschädigung und so. Aber wie es auch sei. Wir werden das Buch in Großvaters Tresor einschließen. Kommt Zeit, kommt Rat.“
Als Urs nicht gleich aufsprang, um mit ihr nach unten zu gehen, stutzte Charlotte. Warum schaute Urs sie so an? Hatte sie etwas Falsches gesagt?
„Waaas? Stimmt etwas nicht? Willst du das Buch doch dem Kommissar geben oder wie?“
Dann fiel es ihr wieder ein. In Henrys Tresor … Das ist in Anbetracht der kommenden Entwicklung kein angebrachter Ort, die Seiten aufzubewahren. Konstantin wird in den nächsten Tagen das Haus und das Grundstück schätzen lassen und zum Verkauf offerieren. Lange braucht er dann bestimmt nicht zu warten, um das Anwesen an den Mann zu bringen, denn dies ist eine begehrte Gegend.
Charlotte spitzte die Lippen und kniff die Augen zusammen. Ein Zeichen dafür, dass sie angestrengt nachdachte.
Es ging ja auch nicht nur darum, einen sicheren Platz für das Buch zu finden. Wenn sich erst Interessenten auf das Verkaufsangebot meldeten, musste sie ja auch ausziehen.
Sie wollte sich hier irgendwo weiter unten am See ein kleines Loft oder eine Penthousewohnung kaufen. Sie musste noch mal mit Konstantin darüber sprechen.
Doch im Moment stand die Kanzlei im Vordergrund. Bis Mitte, spätestens Ende Januar musste alles in Sack und Tüten sein, damit die Übernahme der Klienten reibungslos von statten gehen konnte. Und im Tresor lagen noch jede Menge Termindokumente. Henry nannte sie so, weil sie zu ganz bestimmten Kalenderdaten an die Empfänger übergeben werden sollten.
„Okay. Das Buch kommt in den nächsten Tagen in meinen Banksafe. Je nachdem, wie ich es einrichten kann. So lange wird es in Großvaters Tresor verwahrt. Kommst du?“
Nur noch die Unterlagen verschließen und dann ist für heute Schluss. Es war ein langer aufreibender Tag. Ich brauche unbedingt Ruhe.
Auf dem Weg zum Tresorraum, mit den Gedanken immer noch bei dem Gelesenen, schoss Charlotte eine Idee durch den Kopf. Sie drehte sich nach Urs um. „Meinst du, wir sollten etwas unternehmen? Nochmals nach Thomas suchen lassen? Man könnte einen Privatdetektiv engagieren oder selbst Nachforschungen anstellen.“
Ein kleines Lächeln huschte über das Gesicht ihres Freundes. Was in diesem entzückenden Köpfchen aber auch immer für Ideen herumspuken.
Er fuhr sich durch sein wirres blondes Haar. „Das meinst du ernst. … Charlie, ich weiß nicht. Das liegt jetzt sechsundzwanzig Jahre zurück. Glaubst du wirklich, da finden sich noch Spuren? Selbst wenn Thomas noch leben würde, hätte er sich nicht bei deinem Vater gemeldet? Er war sein Bruder. … Wir sollten es wirklich ruhen lassen. So wie Henry es gewünscht hat. Es ist vorbei.“
Charlotte zuckte mit den Schultern und gab ein knappes „Okay.“ von sich.
Urs hob eine Augenbraue und schmunzelte in sich hinein. Er ahnte, ganz ad acta gelegt war das Thema für Charlotte noch nicht.
Im Tresorraum gab Urs den Code für den Safe ein und öffnete die schwere Tür. Sofort fiel sein Blick auf ein Päckchen in der oberen Ablage.
Eigentlich dürfte da gar nichts mehr liegen, denn dies war das Fach des vergangenen Jahres. Da sollte alles abgearbeitet und zugestellt sein.
Auch Charlotte sah den Umschlag und verdrehte die Augen. Großvater würde mir die Ohren lang ziehen. Ein verpasstes Termindokument. Nicht zugestellt. Das geht mal gar nicht. Ein Vertrauensbruch gegenüber dem Klienten.
„Schiet. Da haben wir wohl in dem ganzen Trubel eine Zusendung vergessen. Wann sollte die denn rausgehen?“
Ohne eine Antwort von Urs zu erwarten, langte Charlotte an ihm vorbei nach der Sendung. Fühlt sich an, wie ein Buch. Hoffentlich nicht ein solches, wie ich es bekommen habe. … Helena Urban. Zuzustellen am 14.12.
„Na gut. Wir sind nur einen Monat zu spät. Würdest du das morgen bitte erledigen? Für heute machen wir Feierabend.“
Urs nahm das Päckchen gleich an sich und brummte ein „Mach ich“, während er die Notizen zu dieser Lieferung studierte. „Das wird nicht so einfach werden. Hier … Abgegeben von Matho S. Urban am … Oh Gott. … Das war vor sieben Jahren. Zu überbringen an seine Tochter Helena Urban zum 25. Geburtstag am 14.12. eben letzten Jahres. Anschrift: Studentenwohnheim …“
Der junge Mann wackelte mit dem Kopf. „Da wird sie wohl nicht mehr wohnen. Wird wahrscheinlich auf eine Nachforschung hinauslaufen. … Na schau'n wir mal. Morgen. … Du sagst es. Für heute ist Schluss. … Wann hast du das letzte Mal etwas gegessen?“
Mit seinen blauen Augen blickte er streng durch seine Brille und ließ keine Ausrede gelten. „Also? … Na ich wusste es. Ab nach oben. Ich koche.“
Charlotte bekam gar keine Gelegenheit, sich zu diesem Punkt zu äußern. Egal was sie dazu sagen würde, Urs wusste, den ganzen Tag über waren Essen und Einkaufen kein einziges Mal einen ihrer Gedanken wert gewesen.
Mehr widerwillig trottete sie vor ihrem Freund her. Selbst der Versuch, sie habe keine Lebensmittel im Haus, stieß bei ihm auf taube Ohren. Wenn Urs sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann zog er es für gewöhnlich auch durch. Ergo … Urs würde kochen.
Die nächsten Tage vergingen wie im Flug.
Die Klienten wurden über die anstehenden Veränderungen in der Kanzlei informiert. Alte Termine abgesagt. Neue Termine und Absprachen getroffen. Dokumente fanden ihren Platz im Archiv, im Schredder oder neuen Aktenordnern, die zeitgleich in Umzugskisten verschwanden.
Linda und Regine hatten alle Hände voll zu tun, was sie durchaus begrüßten. Obwohl sie bei Konstantin eine Anstellung fanden und auch ihre Klienten weiterhin betreuen konnten, fiel es ihnen schwer, das Ende der Kanzlei Schröder& Partner mit ansehen zu müssen. Sie hatten beide seit mehr als einem Vierteljahrhundert für Henry gearbeitet.
Immer wenn Charlotte vorüber eilte, unterdrückten sie die eine oder andere Träne und manch ein Schluchzen. Und Charlotte gab sich den Anschein, als ob sie es nicht bemerken würde. Auch ihr tat es in der Seele weh. War doch die Kanzlei und ihre Mitarbeiter ein Stück ihres Lebens.
„Charlie? Hast du einen Moment für mich?“
Unter einem der Schreibtische kroch blitzschnell Urs hervor. Er war gerade dabei, die Computer abzubauen, als ihn ein vertrauter Duft ablenkte. Ein Odeur, auf welches all seine Sinne, wie Schmetterlinge im Bauch, ansprachen. Charlotte.
Schmutz im Gesicht und die Brille schief auf der Nase, so stand er plötzlich vor ihr.
Mit einem kleinen Quiekser sprang Charlotte erschrocken zur Seite. Dann brach sie in schallendes Gelächter aus. Urs bot aber auch ein Bild zum totlachen.
„Musst du mich immer so erschrecken? Einfach unterm Tisch hervorspringen. … Und hast du dich mal angeschaut? Es ist eine Schande, dass man sich in einer so renommierten Kanzlei derart schmutzig machen kann. Dabei handelt es sich nur um Schreibtischarbeit.“ Und immer noch erklang ihr perlendes Lachen.
Wie früher, als die Welt noch in Ordnung für sie war. Es fehlt mir, ihr sorgenfreies Lachen, mit dem sie die Sonne in alle Herzen zauberte.
„Ja lach du nur, von wegen Schreibtischarbeit. Unterirdisch ist sie keineswegs frei von Staub und Dreck. Vielleicht solltest du mal mit deinen Putzteufelinnen reden?“ Urs machte sich halbwegs sauber und schlenderte
neben Charlotte her.
Gespannt wartete sie, was Urs von ihr wollte. „Na
komm. Schieß los. Was gibt’s denn? … Ähm … Sag mal, was machen die Nachforschungen in Sachen Urban?“
Geknickt gestand Urs, die Nachforschungen waren im Sand verlaufen. Helena Urban wohnte wie schon vermutet nicht mehr im Studentenwohnheim. Keiner wusste, wohin sie nach ihrem Studium verschwunden war. Auch beim Einwohnermeldeamt waren keine aktuellen Auskünfte zu haben.
„Ja deswegen wollte ich dich sprechen. Na ja … Ich muss doch heute und morgen die Computer bei Konstantin anschließen und seine Programme installieren. Du hast doch Beziehungen zu einigen Leuten an der Uni. Kannst du nicht …? Der Umschlag liegt bei Henry im Schreibtisch.“
Charlotte versetzte ihm einen Klaps auf den Hinterkopf und grinste ihn an. „Glück gehabt. Ich wollte mich gerade fertig machen. Ich habe heute einen Termin wegen meines Semesterurlaubs. Ich muss einfach ein paar Monate aussetzen. … Dann werde ich halt mal sehen, was sich machen lässt.“
Bevor sie durch die Tür hinaus war, blickte sie nochmals zurück. „Übrigens … Kannst du nicht mal Linda und Regine ein wenig aufmuntern? Wir sind doch nicht alle aus der Welt. Sicherlich sehen wir uns öfter, als uns lieb ist. … Und morgen machen wir noch eine Sause. Tschüss … Mach's gut!“ Und weg war sie.
Charlotte überlegte, wer an der Uni am meisten über die Studenten wissen konnte.
Lilly. Lilly hatte in fast allem die Finger oder besser die Nase drin. Sie jobbte neben ihrem Studium an der Uni. Sie war ein richtiger Workaholic. Ob Sekretariat, Mensa, Cafeteria oder Studentenzeitung. Egal. Irgendwo konnte man Lilly auf jeden Fall finden.
„Hallo Charlie! Gesundes Neues!“, tippte sie jemand von hinten auf die Schulter. „Hab das gehört, mit deinem
Grandpa. Tut mir leid. … Und du machst jetzt eine Pause?“
Überrascht drehte sich Charlotte um. Normalerweise wurde sie an der Uni nicht auf diese Art begrüßt.
„Oh! Ja, dir auch ein gesundes neues Jahr. Danke. Es trifft einen, wenn man es am wenigsten erwartet. Aber es muss ja weiter gehen. Ich hab so viel um die Ohren, dass einfach eine Semesterpause ansteht. … Dich hab ich übrigens gesucht. Können wir irgendwo ungestört miteinander reden?“
Lilly lachte. Sie lachte immer. Keiner wusste, wo sie ihre ganze Power hernahm. „Komm mit ins Secki. Ich muss da die Stellung halten. Für den Notfall, dass sich mal einer dahin verläuft. … Wenn du aber wegen der Sache mit Helena kommst … Ich habe es schon deinem Freund gesagt. Ich habe keine Ahnung, wohin sie gezogen ist. Sie hat vorzeitig ihren Master gemacht und weg war sie.“
Enttäuscht gab Charlotte ein Schnaufen von sich. Sackgasse. Doch Charlotte wäre nicht Charlotte, wenn sie locker lassen würde. Erst musste sie hier jedes Register gezogen haben, bevor sie eine Privatdetektei beauftragte. Und wenn Lilly nichts wusste, wusste es vielleicht ein anderer?
„Was ist mit ihren Freunden? Ihren Kommilitonen? Weiß denn da keiner was? Lilly … Bitte, bitte, bitte. Du kennst doch Hinz und Kunz. Da ist doch bestimmt einer dabei, der Helena kennt.“
Charlotte lehnte sich so weit über den Tresen des Sekretariats, dass ihre Füße in der Luft baumelten. Lilly becircend, klimperte sie mit ihren langen Wimpern. „Bitte. Bitte. Bitte. Überleg mal Lilly. Diese Helena muss doch mit jemandem befreundet gewesen sein.“
„Hm. … Eine einzigartige Duft-Création voller Leidenschaft, bei dem sich Damaszener-Rose, Guajak-Holz und sanfte Duftnoten von Benzoeharz zum Rendezvous der Sinnlichkeiten treffen. … Und wer trägt diesen betörenden Hauch der Liebe? Doch nicht du, meine liebste Lilly.“
Die beiden Frauen hatten ihn nicht hereinkommen gehört.
Wie von einer Tarantel gestochen, sprang Charlotte vom Tresen und landete zu ihrem Ärger auf den Füßen eines atemberaubend gut aussehenden Mannes. Nur seine feste Umarmung verhinderte einen Sturz mangels Gleichgewichts. Dafür fühlte sich Charlotte nun an eine muskulöse Brust gepresst. War es die Unverfrorenheit, das After Shave oder nur ihre Panik, sie bekam kaum noch Luft und war keines Wortes fähig.
Der Fremde stellte Charlotte auf ihre eigenen Füße und betrachtete sie einen Moment neugierig. „Ah … Und wer ist dieses kleine bezaubernde Wesen, welches mich hier anspringt und nach Helena sucht?“
„Maanueel!“ Schon flog Lilly freudestrahlend dem großen blonden Mann um den Hals. „Dich schickt der Himmel. Du hast eine Antenne für den richtigen Auftritt.“
Lilly boxte ihn neckend gegen die Brust. „Wie lange hast du dich nicht blicken lassen? Es muss eine Ewigkeit her sein. Aber du siehst immer noch so gut aus, wie damals.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sich Lilly zu Charlotte um und zog sie näher heran. „Hier, Charlie. Das ist Manuel. Der beste Freund von Helena. Sie waren zu ihrer Zeit das Gesprächsthema an der Uni. Nur bekannt unter der Bezeichnung Siamesische Zwillinge. Er kann dir bestimmt helfen.“
Charlotte stand nur da und brachte noch immer kein Wort hervor. Sie starrte Manuel lediglich an.
Komm in die Puschen. Der muss doch denken, du bist beschränkt. … Ich bin beschränkt. So gut kann doch keiner aussehen. Soeben wurde mein Dasein auf meine sexuellen Instinkte reduziert. Charlotte Braun … Reiß dich zusammen.
Sie räusperte sich und murmelte unter sichtlicher Verlegenheit eine Entschuldigung. Dann fiel es ihr wieder ein. Was hatte er gesagt? … Wer ist dieses kleine bezaubernde Wesen … Klein? Bezaubernd? Wie konnte er …
Sofort gewann das Gefühl der Wut die Oberhand. Charlotte richtete sich kerzengerade auf und blickte Manuel herausfordernd ins Gesicht.
Nur nicht in seine braunen Augen schauen.
„Ich bin nicht klein. Ich bin Gute Größe und überhaupt, ich bin auch nicht bezaubernd. Nur damit Sie das wissen.“ Jetzt hält er mich bestimmt für eine Kratzbürste. Gott, der macht mich ganz kirre. … Und jetzt lächelt der mich so selbstzufrieden an. Krrrrrrrrr …
„Okay, also nicht klein. Gute Größe ist in Ordnung. Dann passen wir viel besser zusammen. Das mit dem Bezaubernd sehen Sie falsch. Sie haben mich bezaubert. Und bevor Sie mir jetzt die Augen auskratzen … Darf ich Sie erinnern, dass Sie eventuell meine Hilfe in Anspruch nehmen möchten?“
Manuel schaute Charlotte mit seinen braunen Augen entwaffnend an. Er wusste, Charlotte brauchte diese Wut und den Widerspruchsgeist, um ihre emotionale Verwirrtheit unter Kontrolle zu bringen. Sie konnte noch nicht einordnen, was er mit ihren Gefühlen machte.
Er zwinkerte Lilly zu und gab ihr zu verstehen, dass er sich um Charlottes Anliegen kümmern würde.
„Lilly. Schön dich wiedergesehen zu haben. Halt die Ohren steif!“ Dann wandte er sich an Charlotte. „Lassen Sie uns ein Stück gehen und dabei erzählen Sie mir, warum Sie Helena suchen.“
Manuel zog Charlottes Arm in den seinen und zwang sie somit, ihm zu folgen.
Charlotte schenkte Lilly einen letzten hilflos fragenden Blick und sah wie diese lächelnd mit den Schultern zuckte.
„Nun Charlie. Was wollen Sie von Helena?“
Okay, Charlotte. Schiebe jetzt all deine blöden Befindlichkeiten zur Seite. Das ist deine Chance. Nutze sie.
Die junge Frau atmete tief durch und ehe sie sich auch nur bremsen konnte, sprudelten ihr die Worte aus dem Mund.
„Ich heiße Charlotte Braun. Nicht Charlie. Nicht Lotte oder Lotti. Sondern Charlotte aus dem Französischen. Ohne gesprochenes 'e' am Ende. So viel zu Beginn. Ich arbeite für … Ähm … Ich bin im Auftrag der Kanzlei Schröder&Partner unterwegs und soll Frau Urban ein Päckchen überbringen. Leider konnten wir ihre derzeitige Adresse nicht ermitteln. Nun meine Frage an Sie. Können Sie mir helfen?“
Plötzlich standen sie vor einem Mini, der vor der Uni
geparkt war. Charlotte war gar nicht bewusst gewesen, dass sie das Gebäude verlassen hatten. Verdutzt schaute sie Manuel an, der ihr die Tür des Wagens aufhielt.
„Charlotte ohne gesprochenes 'e' am Ende, ich habe nicht vor Sie zu entführen. Ich möchte Sie lediglich zu Helena bringen. Bitte … Steigen Sie ein.“ Mit einem charmanten Lächeln wartete er auf ihre Entscheidung.
Warum nicht. Dann habe ich die Sache Gott sei Dank heute schon vom Tisch.
Charlotte überging seine Bemerkung und stieg ein.
Die Autofahrt verlief schweigend. Doch jeder musterte neugierig den anderen aus dem Augenwinkel.
Als dann der Wagen vor einem mehrgeschossigen Altbau hielt, bedauerte Charlotte, dass die Fahrt schon zu Ende war. Gern wäre sie länger mit diesem Mann durch die Gegend gefahren.
Galant wie schon beim Einsteigen hielt auch hier Manuel die Wagentür für Charlotte auf. Und wieder hakte er ihren Arm unter.
Verwirrt schaute sie sich um.
Hier kannte sie sich gar nicht aus. Obendrein war dies eindeutig eine andere Stadt. Schmale Gassen zeugten hier von einem außerordentlichen Stadtrandcharme. Keine dreispurigen Straßen einer Großstadt und keine Einkaufcenter an jeder Ecke. Hier beherrschten Einbahnstraßen, die beidseitig von Fachwerkhäusern mit kleinen Privatläden gerahmt waren, das Bild. Ähnlich einer größeren Kleinstadt.
„Keine Angst. Hier wohnt Helena mit ihrem Mann. … Und auch ich habe hier ein kleines Apartment“, fügte er flüsternd hinzu.
Manuel begleitet Charlotte hinauf in eine Dachgeschosswohnung mit Wow-Effekt. Ein einziger großer Raum, lichtdurchflutet durch bodentiefen Fenster. Niedrige Sideboards und Regale zwischen tragenden Pfeilern. Eine riesige Wohnlandschaft vor einem offenen Kamin. Edle Materialien. Helle Farben.
Mit einer derartigen Moderne hatte sie in diesem denkmalgeschützten Altbau nicht gerechnet. Gefesselt von der Architektur und der Ausstattung schaute sich Charlotte im Wohnbereich um.
Auf einem Sideboard sah sie eine Reihe Fotos in Bilderrahmen stehen. Magisch angezogen betrachtete sie eines der Bilder ganz besonders. Sie kannte das Gesicht dieses Mannes. Aber das konnte nicht sein.
„Mein Vater. Matho S. Urban. Das einzige Bild, das ich von ihm habe.“
Erschrocken schnellte Charlotte herum und sah sich einer jungen Frau in der traditionellen Bekleidung beim Kendō gegenüberstehen.