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Nebelschwaden zogen über das Tal. Das rhythmische Geräusch der stampfenden Hufe im Sandviereck untermalte die überwältigende Stille der frühen Morgenstunde. Unterbrochen durch den vorbeitrabenden Leib des Pferdes konnte man schemenhaft die schlanke Gestalt im Zentrum des Platzes erkennen, die der Stute mit kaum sichtbaren Gesten, gelegentlichen Schnalzlauten und kurzen Pfiffen Richtung und Tempo vorgab. Das halblange braune Haar fiel ihr glatt auf die sonnengebräunte, gut geformte Schulterpartie. Das schwarze Top betonte eine schmale Taille und wohlgeformte Brüste. Die langen, schlanken Beine steckten in verwaschenen Bluejeans und Cowboystiefeln.

Emma fühlte sich überraschend gut. Trotz der Träume.

Sie beugte ihren Oberkörper etwas vor. Im Schein der allmählich aufgehenden Sonne glitzerten Staubkörner auf ihren schweissbedeckten, sehnigen Armen. Das Pferd spürte den kompromisslosen Blick ihrer grünen Katzenaugen auf seiner Hinterhand, vollführte eine fliessende Wendung und trabte gehorsam auf sie zu. Kleine Wolken aus Dampf entwichen den geblähten Nüstern und ein kräftiges Abschnauben übersprühte Emmas Gesicht mit hauchzarter Nässe. Sachte strich sie dem Tier mit der Hand über die Augen.

Für einen kurzen Moment verharrte sie in dieser Position und gab dem Equiden damit Gelegenheit, zur Ruhe zu kommen. Mit geübter Hand löste sie den kurzen Strick vom Gürtel, schlang ihn dem Tier um den muskulösen Hals und schnalzte leise mit der Zunge. Das Pferd folgte ihr ohne zu zögern. Gehorsam blieb es neben ihr am Eingang zur Koppel stehen. Mit einem prüfenden Blick zum Himmel entliess sie den Schimmel in die Freiheit. Die Koppel erstreckte sich unter dunklen, mächtigen Regenwolken, die die Sonne verdecken würden.

Früher oder später.

Emma versuchte sie zu ignorieren. Sie erinnerten sie an diese Träume. Quälend, Nacht für Nacht.

Ein letzter Blick zurück, es war Zeit zu gehen.

Widerstrebend riss sie sich los. Jeder Meter zwischen ihr und dem Tier hiess, das kostbare Stück neu erworbener Gelassenheit zu verlieren. Einmal mehr.

Sie ging zum Parkplatz. Ihr vormals geschmeidiger Gang wich nun eiligen, steiferen Schritten. Noch im Gehen schob sie sich die dunkle Brille vor die Augen, zeitgleich erlosch das Leuchten auf ihrem Gesicht mit den ebenmässigen Zügen. Der Glanz ihrer Augen aus der normalen Zeit. Vor den Träumen. Die mit dem Tod der Adoptiveltern begannen.

Sie wollte nicht gehen, aber sie hatte keine Wahl. Gerade heute war sie auf das Wohlwollen ihrer Partner angewiesen, sich zu verspäten wäre unverzeihlich.

Sie klemmte sich hinter das Steuer ihres BMWs und startete den Motor. Die kräftigen Finger schlossen sich so eng um das glatte Leder am Lenkrad, dass sie die Schwielen an den Handinnenseiten spürte, letztes, aber immer fühlbares Zeichen ihrer Verbindung zu dem Tier. Ein leises Lächeln kehrte auf ihr Gesicht zurück. Bei dem Gedanken an die verblüfften Gesichter der Menschen, denen sie zur Begrüssung die Hand reichte, grinste sie. Niemand hatte sie je darauf angesprochen.

Sie steuerte den Wagen auf die Strasse hinaus und beschleunigte rasant. Das anschwellende aggressive Fauchen des hochtourigen Motors färbte fast sofort auf sie ab.

Ungeduld.

Statt Besonnenheit.

Emma kannte ihren egozentrischen Fahrstil. Aber der Wagen passte einfach zum Image der innovativen Architektin, die sie war. Etwas „Kleineres“ kam also nicht infrage. Außerdem setzten ihre Kunden eine gewisse Exklusivität in Geschmack und Stil voraus. Was ihr aber einen Touch von Exzentrik verlieh und sie immer wieder ins Gerede brachte, war ihre Handtasche in Mammutgrösse. Sie wusste, dass man sich im Büro den Mund über ihren Spleen für grosse Taschen zerriss.

Aber kümmerte sie das wirklich ernsthaft?

Exzentrik und Ehrgeiz, Workaholic, stets unterwegs auf dem schmalen Grat zwischen Erfolg und Selbstverletzung, das war sie. Oder besser: Das war das, was sie bis jetzt von sich kannte.

Nur diese Träume. Sie frassen Energie.

Emma drehte das Radio lauter. Nach Ansicht der Meteorologen spitzte sich die Wetterlage weiter zu. Es war ernst. Die seit Tagen andauernden Regenfälle hatten rekordverdächtige Ausmasse angenommen. Weite Teile des Landes waren bereits von den schnell ansteigenden Wassermassen überflutet worden und eine Wetterbesserung war auch in absehbarer Zeit nicht zu erwarten.

Mist! Verärgert presste sie die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Das war's dann wohl mit Reiten am Wochenende. Bevor sie den Wagen in die Tiefgarage ihres Wohnblocks hinabsteuerte, prüfte sie mit eigenen Augen die Wetterlage.

Die Altstadt von Luzern lag unter einer Decke drohenden Unheils.

Sie schloss die Tür auf. Die Zeiger der antiken Standuhr im Entree mahnten zur Eile.

Halb acht. Die Tür fiel krachend hinter ihr ins Schloss. Für Sanfteres war keine Zeit geblieben. Hastig streifte sie sich Stiefel und Reitkleidung vom Leib. Mit einem Fuss schob sie den nach Pferd riechenden Wäschehaufen zur Seite.

Was sie jetzt dringender als alles andere brauchte, war eine Tasse Kaffee.

Das kreischende Mahlwerk liess sie zusammenfahren. Ihre Nackenhaare sträubten sich. An diesem Morgen erschreckte sie die eigene Kaffeemaschine. Das war neu. Verunsichert nahm sie eine Tasse aus dem Küchenschrank.

Nach einem kurzen E-Mail-Check packte sie ihren Laptop in die Tasche und ging ins Bad.

Vor dem grossen Spiegel stoppte Emma. Sie war gertenschlank. Der Körper einer Mittzwanzigerin. Ein Körper, der sich flink bewegte. Ein Körper, der flotten Schritts durchs Leben ging. Ein sportlicher, sehniger Körper.

Ein Körper – entstanden vor 37 Jahren.

Mit den Fingerspitzen berührte sie das Narbengewebe an ihrem rechten Oberschenkel. Die Muskeln unter der zerstörten Haut hatten sich in den Jahren nach dem verhängnisvollen Tag voll regeneriert und verliehen dem Bein seine wohlmodellierte Form – nur die Narben, die würden immer da sein.

Sie nahm einen letzten Schluck Kaffee und ging unter die Dusche.

Als sie kurze Zeit später den Wagen etwas zu schnell aus der Tiefgarage zurück auf die Strasse steuerte, trug sie eine Bluejeans, eine weisse ärmellose Bluse mit Stehkragen und darüber eine schwarze, schlichte Anzugjacke von Armani. Abgerundet wurde das Outfit durch schwarze italienische Lederstiefeletten, die ihre schlanken Füsse weich umschlossen. Neben Emma auf dem Beifahrersitz lag das lederne Objekt spöttischen Neids.

***

Jack Gold stoppte den Wagen an der roten Ampel. Amüsiert verfolgte er das Treiben auf der Strasse. Fussgänger überquerten mit eingezogenen Schultern, die Regenschirme tief über ihre Köpfe gezogen, den gelben Zebrastreifen. Vom Wind zerzauste Haare und fliegende Kleiderzipfel eiferten tanzend um die Wette; gewaltige Windböen schoben die vermummten Körper vor sich her. Es war August und viel zu kalt für die Jahreszeit. Anhaltende Regenfälle hatten die Temperaturen in den Keller fallen lassen.

Jack gähnte herzhaft und freute sich über die behagliche Wärme in seinem alten Jeep. Er genoss das Schauspiel der Akteure im Kampf gegen die Naturgewalten sozusagen bequem aus der ersten Reihe. Wind und Wetter konnten ihm hier drin nichts anhaben und das bisschen Schadenfreude versüsste ihm das tägliche Einerlei.

Die Ampel schaltete auf Grün. Jack gab Gas, doch der Motor röchelte und stotterte bloss und der Wagen rührte sich nicht von der Stelle.

Oh nein, nur das nicht, flehte er und befürchtete insgeheim, seine Schadenfreude könnte zum Bumerang werden. Wenn jetzt auch noch der Motor absoff – vor all den Leuten …

Ungeduldiges Hupen von hinten.

Ja, ja, nur keine Panik! Er hob beschwichtigend die Hand und wedelte damit in der Luft herum.

Dann endlich, mit einem gewaltigen Satz nach vorne, gefolgt von einem abrupten Stopp, erwachte die alte Karre wieder zum Leben. Zwar noch etwas lahm, aber wenigstens kam er vom Fleck. Einmal in Bewegung, lief der Motor wieder rund und er machte rumpelnd Fahrt. Von hinten, dem fleckigen Rücksitz und vom Laderaum her, drang lautes Geklapper nach vorn. Sein alter Motorradhelm sowie etliche andere Dinge des täglichen Gebrauchs stiessen immer wieder scheppernd gegen die rostzerfressene Innenverkleidung. Das Geräusch malträtierte seine Geduld und er nahm sich fest vor, den Wagen noch heute komplett auszuräumen.

Seit ihn Eliane vor einer Woche aus der gemeinsamen Wohnung geworfen hatte, kutschierte er seine bescheidene Habe im Jeep durch die Gegend. Das war nicht in Ordnung – ganz und gar nicht.

Jahrelang angestaute Wut hatte ihn sintflutartig abgestraft. War über seinen Kopf zusammengeschlagen wie die Zorneswelle eines archaischen Rachegottes.

„Du bist die Liederlichkeit in Person – und du bist nie da, wenn man dich braucht. Also verschwinde aus meinem Leben. Ich ertrage deine Anwesenheit keine Minute länger“, hatte Eliane geschrien, während sie vor Wut weinte. „Überall, wo du gehst und stehst, hinterlässt du eine chaotische Spur aus Unordnung und Schmutz.“

Für Jack hatte es sich angehört, als spräche sie mit ihrem Hund. „Du weisst nicht, wo dein Platz ist!“, hatte sie weiter geschrien und da sie gerade so schön in Fahrt war, „Ich habe die Nase gestrichen voll von dir!“

Das war's dann also. Ihm war gerade noch genug Zeit geblieben, ein paar seiner Sachen vor der endgültigen Zerstörung zu retten, ehe sie den kürzeren Weg aus dem Fenster nahmen.

Jack steuerte den Jeep in den Hinterhof des Hotels Monopol, gegenüber dem Hauptbahnhof. Allem Unbill zum Trotz fand er gleich einen freien Parkplatz – sein sprichwörtliches Glück hatte ihn also doch noch nicht ganz verlassen.

Er griff sich seine Büffellederjacke vom Beifahrersitz und warf einen prüfenden Blick durch das Seitenfenster in den Rückspiegel. Seine eisblauen Augen unter den hellen Brauen standen in starkem Kontrast zum Rest des gebräunten Gesichts und liessen die kantige grosse Nase etwas in den Hintergrund treten. Der ausgeprägt modellierte Mund war zu einem amüsierten, etwas selbstgefälligen Grinsen verzogen. Unterhalb der Unterlippe zierte ein kleines auf dem Kopf stehendes Dreieck blonder Barthaare das markant hervorspringende Kinn. Er sah gut aus, fand er.

Jack sprang in den Regen hinaus. Sofort zog und zerrte der Wind an seinem T-Shirt. Kurz blitzte ein Stück angespannter Bauchmuskulatur hervor. Er zog sich die Jacke über und rannte mit eingezogenem Kopf durch den peitschenden Regen auf den rückseitigen Eingang des Hotels zu.

Als er schliesslich das Café im vorderen Teil des Hotels betrat, fühlte er sich wieder gut.

Das Café war schlecht besucht. An den kleinen runden Tischen sassen nur ein paar vereinzelte Gäste, die in ihre Zeitungen vertieft waren. Niemand sah Jack.

Am Tresen bestellte Jack einen Ristretto ohne alles und griff nach einer der ausliegenden Tageszeitungen. Seine Auswahl hätte beliebiger nicht sein können. Alle Blätter berichteten nur eines: Das Jahrhundertunwetter.

Geräuschvoll blätterte er durch die Seiten. Den Mini-Espresso kippte er mit einem einzigen Schluck die Kehle hinunter und schob dann die winzige Tasse von sich. Er zückte den Geldclip aus der Gesässtasche seiner Jeans, entnahm dem Bündel einen Zehner und liess den Schein auf die Theke flattern. Ohne ein Danke strich der Barkeeper den Schein mit einer einzigen fliessenden Bewegung ein.

Unfreundlicher Genosse, dachte Jack. Trinkgeld für den Kerl war gestrichen.

Jemand tippte ihm auf die Schulter.

„Entschuldigen Sie bitte. Ich bin auf der Suche nach einem langen blonden Typen, der sich selbst für unwiderstehlich hält.“

Jack schwang seine langen Beine vom Hocker und drehte sich um.

Vor ihm stand ein Inder, schlank, gut aussehend. Der Kerl musterte ihn missbilligend mit arrogant hochgezogener Augenbraue. Doch dann zerriss ein breites Grinsen sein bemüht ernstes Gesicht. „Na, wie läuft's, Kumpel?“

„Rahul, altes Haus, du kommst spät!“

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