Читать книгу PID - Tödliches Erbe - A. C. Risi - Страница 6

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Der Wind frischte wieder auf. Neue Sturmböen fegten über den nass glänzenden Asphalt, der Regen trommelte jetzt seitlich gegen die schwarze Lackierung des Wagens. Der BMW reagierte wie ein bockendes Pferd. Emma musste kräftig gegensteuern, um nicht von der Fahrbahn gefegt zu werden, und es kostete sie einige Mühe, den Wagen auf einer Linie zu halten.

Auf der lang gezogenen Kurve zur Autobahn hoch verloren die breiten Pininfarina-Reifen in einer der wassergefüllten Fahrspurrillen kurz die Bodenhaftung. Der Wagen drohte erneut auszubrechen, Emma schaffte es gerade noch so auf sicheren Grund, doch die Sicht war inzwischen gleich null. Als Orientierungshilfe blieb ihr nur noch die seitliche Markierungslinie entlang der Strasse. Die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren, doch gegen die allgewaltigen Wassermassen richteten sie nicht mehr aus als ein Staubtuch in der Wüste. Etwas Derartiges hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht erlebt. Die Welt um sie herum war im Begriff, sich in eine konturlose Masse aufzulösen.

Der Wagen schoss auf die überdachte Einfahrt des Sonnenbergtunnels zu. Die plötzliche Stille, als der Wagen in die eins Komma fünf Kilometer lange Doppelröhre eintauchte, wirkte auf Emma unnatürlich, unlogisch, aber endlich konnte sie wieder klar sehen.

Emma entspannte sich. Sie dachte über ihr neues Leben nach, dachte daran, dass nichts mehr so sein würde wie zuvor – wenn sie es überhaupt schaffte, das Rätsel ihrer Herkunft zu lösen. Sie hatte ein halbes Jahr. Oberflächlich betrachtet, eine Menge Zeit, aber es wartete viel Arbeit auf sie - und sie hatte noch nicht mal einen Plan.

Wo beginne ich am besten? Jeder Schritt musste weise vorausgeplant und dokumentiert werden. Ich brauche ein Konstrukt des voraussichtlichen zeitlichen Rahmens, dachte sie, und ich werde noch mehr Zeit darauf verwenden müssen, Fragen zu stellen, Hinweisen und Spuren nachzugehen. Diese Gedanken versetzten sie in eine beschwingte Stimmung. Die Haut an ihren Unterarmen prickelte, die Härchen darauf standen aufrecht wie die Stacheln eines Igels.

Das einschiessende Adrenalin machte sie übermütig, ihr Fuss liebkoste das Gaspedal. Der Wagen beschleunigte mit einem kraftvollen Schnurren und die Nadel am Tachometer schoss so mühelos über das Tempolimit hinaus, dass sie es nicht mal wahrnahm. Emma drehte die Musik lauter; gemeinsam mit Freddy Mercury sang sie: „We are the Champions …”

Das Licht im Tunnel ging aus; erst flackernd, dann war es ganz weg. Die plötzliche Dunkelheit liess die Tunnelwände bedrohlich eng zusammenrücken. Nichts, das Emma beunruhigt hätte, sie war nicht klaustrophobisch veranlagt. Trotzdem ging sie etwas vom Gas. Dieser verdammte Regen. Sie seufzte, dabei malte sie sich aus, wie ein zorniger Wettergott sich immer neue noch chaotischere Katastrophen ausdachte, um die ungehorsame Menschheit zu bestrafen. Diese Vorstellung lenkte sie einen Moment ab. Einen gefährlichen winzigen Augenblick.

Am äusseren, zerfliessenden Rand ihres rechten Scheinwerfers tauchte ein hässlicher Schrotthaufen auf. Oh Gott! Das Ding fährt sogar noch? Emma traute ihren Augen nicht. Das rostzerfressene Chassis war derart verzogen, sie konnte alle vier Reifen sehen – nebeneinander.

Der ohrenbetäubende Knall einer Fehlzündung liess sie erschrocken das Steuer zur Seite reissen. Der schwere Wagen vollführte einen bedenklichen Schlenker, fast hätte sie den hohen Randstein an der seitlichen Begrenzung gestreift.

„Dämlicher Idiot!“, schrie sie ihre Frontscheibe an, als ihr der Wagen wieder gehorchte. Der Schreck sass ihr tief in den Knochen, das war gerade noch mal gut gegangen. „So eine Karre gehört verboten“, echauffierte sie sich. „Das ist unglaublich. Blödmann, du tickst doch nicht richtig.“

Der Jeep wurde hässlicher, je näher sie auffuhr. Schon konnte sie den rostigen Auspuff erkennen, der, schwarzen Qualm hustend, bedrohlich locker auf und ab wippte. Der Gestank, der ihm entströmte, war bestialisch, aber noch schlimmer war dieses unheimliche Grollen, das die ganze Tunnelröhre durchdrang.

Dieses hässliche Ding ist kein Auto, dachte sie, das ist eine tickende Zeitbombe auf Rädern. Emmas Finger betätigten die Umluft-Taste, doch dafür war es längst zu spät. Der widerliche Abgasgestank hatte sich bereits im ganzen Wagen ausgebreitet. Sie begann zu husten und eine Nanosekunde lang war sie abgelenkt.

Der zweite falsche Augenblick.

Die Rostschleuder legte eine Vollbremsung hin. Emmas Fuss schnellte vor aufs Bremspedal, das Bein steif durchgestreckt; ein eingeübter Reflex. Trotz des furchterregenden Ratterns des ABS liess sie den Fuss da, wo er war. Die Reifen griffen wieder, doch das wild schlingernde Heck des Jeeps war bereits zu nah, und jetzt brach es auch noch zur Seite aus.

***

Jack und Rahul starrten dem diffusen Lichtfinger ihres einen, halb blinden Scheinwerfers hinterher, der sich schon nach ein paar wenigen Metern im Tunnelinnern verlor. Der zweite hatte sich gar nicht erst zum Dienst gemeldet.

Jack kurbelte das beschlagene Seitenfenster herunter und streckte den Kopf hinaus. Lautes Donnern und Getöse erfüllte die Luft im Tunnel. Er war etwas verwirrt.

Das kann unmöglich mein Wagen sein, dachte er. Einerseits beruhigte ihn diese Erkenntnis, andererseits liess das unheimliche Grollen, egal woher es kam, auf nichts Gutes schliessen. Er wischte mit seinem Taschentuch ein kleines Loch in den Schmutz am Seitenspiegel. Ein Wagen schloss von hinten auf, ein BMW, schwarz. Das schnittige Fahrzeug rückte verdammt schnell auf.

Rahul stiess ihm den Ellbogen in die Seite. „Pass auf! Vor dir!“

Jack riss den Kopf zurück in den Wagen und schmetterte seinen Fuss auf die Bremse: Die betagte Karre bockte und begann wild zu schlingern und dann brach das Heck aus. Einen Herzschlag lang befürchtete er, sie würden sich überschlagen, aber dann kamen sie quer zur Fahrbahn doch noch zum Stillstand - nur einen knappen Meter hinter dem gestürzten Motorradfahrer und seiner Maschine.

Der Kerl sah aus wie ein Ausserirdischer in seiner schwarzen Montur und dem Helm mit dem geschlossenen Visier. Er kam mühsam wieder auf die Beine, während er versuchte das Visier zu öffnen, aber etwas klemmte. Durch den Sichtschutz hindurch schrie er Jack etwas zu, doch der verstand kein Wort. Was der Alien auch zu sagen hatte, es ging in dem Getöse und dem dumpfen Grollen vollständig unter.

Jack hielt sich hilflos die Hand hinter sein Ohr.

Der Alien schien zu verstehen, reagierte jedoch für Jack völlig unverständlich - er rannte davon. Das alles passierte in einem Bruchteil von Sekunden und während Jack noch immer verdutzt dem sich eilig davonmachenden Motorradfahrer hinterherglotzte, bohrte sich die bullige Schnauze des BMWs in die Beifahrerseite des Jeeps. Die alte Kiste verabschiedete sich wie ein etwas zu breit geratener Pfeil vom Strassenbelag, sodass sie bei der Landung in hohem Bogen zurück auf den Asphalt das Motorrad unter sich begrub.

Rahul stöhnte auf. Im Gegensatz zu Jack hatte er den Zusammenstoss kommen sehen. Ihm war gerade genug Zeit geblieben, die Arme hochzureissen, um sein Gesicht zu schützen. Er hatte das leise Knacken des berstenden Knochens noch im Ohr, als ihm der teuflische Schmerz auch schon den Atem raubte.

Jack traf es völlig unvorbereitet, aber ausser einem Schlag gegen seine Schulter bekam er nichts ab. Unsinnigerweise beschäftigten sich seine Gedanken noch immer mit dem sonderbaren Verhalten des Motorradfahrers. Wieso, zum Teufel, hat sich der Kerl einfach aus dem Staub gemacht?

Rahul bewegte sich. „Ist mit dir alles in Ordnung?“ Erst jetzt bemerkte Jack, wie Rahul sein rechtes Handgelenk umklammerte. Rahul schrie etwas, aber Jacks Ohren waren taub. Den Tunnel erfüllte ein dumpfes Grollen. Der Druck, der auf seinem Trommelfell lastete, packte alles um ihn herum in Watte. Verständnislos starrte er auf Rahuls Lippen, die sich zwar bewegten, aber keine Laute von sich gaben. Jack hielt sich achselzuckend die Ohren zu, zum Zeichen, dass er nicht verstand. Rahul riss seine Augen weit auf. Da endlich registrierte Jack die Panik in Rahuls Gesicht. Nichts Gutes ahnend, folgten seine Augen dem ausgestreckten Arm seines Freundes, der über seine eigene linke Schulter wies. Er drehte sich um.

„Gütiger Gott! Was ist das?“

Vier Augen stierten fassungslos in die Tiefen des Tunnels hinein. Ihr Atem stockte. Eine gewaltige Mauer aus Wasser und Geröll walzte auf sie zu.

***

Der Airbag fiel in sich zusammen. Sie hatte wieder freie Sicht. Sicht auf etwas, das nicht sein konnte, aber dennoch auf sie zuraste. Emma wollte aus dem Auto springen, sie konnte sich jedoch nicht bewegen – Schockstarre. Ausserhalb ihres Wagens war die Hölle ausgebrochen. Reifen quietschten, Menschen schrien, doch von alldem hörte und sah sie nichts. Sie sah sie nicht. Diejenigen, die aus wilder Angst ihre Fahrzeuge verliessen und zurück in Richtung Tunneleingang hetzten. Diejenigen, die ihre Wagen in der engen Röhre zu wenden versuchten und dabei hoffnungslos stecken blieben, sich gegenseitig den Weg zum rettenden Ausgang versperrend.

Dantes Inferno zu Gast in der Schweiz: Hinter Emma totales Chaos, vor ihr war der Tod. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen; obwohl jede Faser ihres Körpers danach schrie, den Wagen sofort zu verlassen, versagten die Glieder ihr den Dienst. Das war das Ende.

Das Ganze hatte nur Sekunden gedauert; der Zusammenstoss, die schockierende Erkenntnis, und dennoch hatte das Tosen des heranrollenden Unheils noch weiter an Intensität gewonnen.

„Nichts wie weg hier!", schrie Rahul.

Jack brauchte Rahuls Worte nicht mehr zu verstehen - er hatte endlich kapiert. Er sprang aus dem Wagen. Rahul folgte ihm über die Mittelkonsole.

Jack sah die Frau am Steuer des BMWs, registrierte ihr lähmendes Entsetzen. Ohne nachzudenken riss er die intakt gebliebene Fahrertür auf. Sie war noch angegurtet, die Augen weit aufgerissen, aber mit leerem Blick. Jack schrie sie an, rüttelte an ihrer Schulter. Sie stöhnte, behielt den Blick aber weiter starr geradeaus bei.

Jack griff kurzerhand über den Schoss der Frau und öffnete den Sicherheitsgurt. Rahul half ihm. Gemeinsam zogen Sie sie aus dem Wagen. Sie wussten nicht, ob sie verletzt war, aber darauf konnten sie gerade jetzt keine Rücksicht nehmen. Sie mussten von hier weg, so schnell wie möglich. Jede Sekunde zählte, entschied über Leben oder Tod. Sie nahmen die junge Frau in ihre Mitte.

Rahul wollte Richtung Tunneleingang lospreschen, aber Jack winkte ab.

„Nicht da lang.“ Er zeigte in die entgegengesetzte Richtung, genau auf die Katastrophe zu.

Rahul schüttelte heftig den Kopf. Obwohl er Jacks Worte nicht verstand, begriff er, was sein Freund vorhatte. Aber das konnte unmöglich sein Ernst sein. Noch ehe sich Rahul versah, riss Jack die Frau bereits mit sich. Rahul folgte instinktiv. Etwas weiter vorne, im tiefen Dunkel, erkannte nun auch Rahul das schwache Licht einer Notbeleuchtung und darunter die Umrisse einer Ausweichstelle. Darauf hielt Jack zu.

Das Chaos im Tunnel war unbeschreiblich. Jeder, der dazu noch in der Lage war, rannte um sein Leben. Nur das zählte noch: überleben und dieser Hölle, diesem alles verschlingenden nassen Grab rechtzeitig entkommen. Jene, die der Tunneleinfahrt am nächsten waren, würden es wohl gerade noch schaffen, doch für viele andere, weit im Innern der Röhre, war es bereits zu spät. Sie ergriff der Tod mit eisigen Fingern, riss sie mit sich ins kalte, nasse Vergessen.

Jack stürmte mit weit ausholenden Schritten vorneweg, seine Hand hielt die der Frau fest umklammert. Er zerrte sie einfach hinter sich her. Obwohl sie rasend schnell unterwegs waren, wurde er das dumpfe Gefühl nicht los, sich nur in Zeitlupe zu bewegen. Angst fühlte er keine. Die anfängliche Panik war in eine eigentümliche, innere Ruhe umgeschlagen. Seine Gedanken waren jetzt klar durchstrukturiert und seine Sinne nahmen jedes noch so winzige Detail wahr. Jeder Muskel seines angespannten Körpers baute präzise die richtige Spannung auf, um das bestmögliche Resultat zu erzielen. Alles lief wie von selbst. Die Frau hatte sich widerstandslos in seine Obhut ergeben. Ihre anfängliche Apathie war einer beachtlichen, sportlichen Leistung gewichen, denn jetzt lief sie aktiv mit. Aber egal wie auch immer sie reagiert hätte, sie zurückzulassen wäre keine Alternative gewesen. Rahul bildete den Schluss der Truppe. Er schien noch immer am gesunden Menschenverstand seines Freundes zu zweifeln.

Jack achtete nicht darauf. Unbeirrbar hetzte er weiter direkt auf die Katastrophe zu. Er stemmte sich gegen den gewaltigen Luftdruck, den die Druckwelle des Wassers vor sich herschob. Feiner Sprühnebel legte sich ihm kalt auf das Gesicht und durchnässte seine Kleidung bis auf die Haut. Die ohnehin schlechte Sicht wurde durch den feuchten Dunst noch undurchdringlicher. Dann endlich. Da war sie, die rettende Tür zum Notausstieg.

Jack mobilisierte seine letzten Reserven; die langen Beine holten weit aus, flogen über die Fahrbahn. Und da war sie, eine kleine Unachtsamkeit.

Erst stolperte er.

Dann fiel er.

Noch im Fallen gab er die Hand der Frau frei. Instinktiv versuchte er den Aufprall aufs Pflaster wenigstens zum Teil mit den Händen abzuschwächen. Der ganze Spurt, die Flucht, das alles hatte nur Sekunden gedauert und fast hätten sie es auch geschafft.

Jack traf hart auf dem Boden auf, das Gesicht dem Grollen entgegengewandt. Zum ersten Mal sah er in aller Deutlichkeit, was sich da in unmittelbarer Nähe auf sie zubewegte – viel zu nah. Eine Wand aus: Wasser, Geröll, Autos und … Menschen. Das Grauen, das ihn bei ihrem Anblick befiel, war unbeschreiblich. Er erstarrte zu Stein. Der Adrenalinschub, der ihn noch kurz zuvor beflügelt und sie alle bis hierhin gebracht hatte, hatte sich verbraucht. Jack stöhnte vor Enttäuschung und Wut. So kurz vor dem rettenden Ziel hatte er versagt.

Aber jetzt schoss Rahul heran; ohne seinen Lauf zu bremsen, streckte er Jack seine Hand entgegen.

Jack packte zu, seine Hand umschloss hart die des Freundes.

Rahul schrie auf. Ein irrer Schmerz durchzuckte das gebrochene Handgelenk. Die anhaltende Qual, während er Jack auf der einen Seite und die Frau auf der anderen hinter sich her zur rettenden Tür schleifte, war unmenschlich, aber er liess nicht los.

Die Frau löste sich von ihm und riss die Tür auf. Atemlos, gefangen in einem Rausch aus Angst, Faszination und Erschöpfung starrte sie ihren beiden Rettern entgegen, während Rahul seinen halb kriechenden Freund weiter in die Ausweichstelle auf die Tür zuzerrte, das Gesicht in einem stummen Schrei erstarrt.

Sie packte wieder mit an. Jack spürte, wie sie keuchend an seinem Gürtel zerrte und Rahul verzweifelt an seinem Arm riss. Sie hievten ihn wie einen nassen Sack über die hohe Schwelle, durch die Tür und weiter in den schützenden Wartungsraum.

Dann kam das Wasser. Mit einem gewagten Sprung über Jack hinweg brachte sich die junge Frau in allerletzter Sekunde in Sicherheit. Jack riss seine Beine an den Körper, keine Sekunde zu früh. Die schwere Tür wurde von der herantobenden Masse mit einem gewaltigen Knall zugeschlagen.

***

Im Wartungsraum des Tunnels war die Stille abermalig unnatürlich. Rahul stand auf zittrigen Beinen vornübergebeugt an einer der gelb gestrichenen Wände und versuchte keuchend zu Atem zu kommen. Während ihm Tränen über das Gesicht liefen. Er hielt das verletzte Handgelenk eng an den Körper gepresst.

Jack lag noch immer auf dem Boden. Er fasste es nicht, dass sie es doch noch geschafft hatten.

„Danke, Kumpel!“ Seine Stimme war nicht mehr als ein leises Krächzen. Mehr brachte er im Moment nicht über die Lippen. Sein Brustkorb hob und senkte sich in gierigen Atemzügen.

„Touché!“, entgegnete Rahul. „Wäre ich in die andere Richtung gerannt, hätten wir es nicht geschafft!"

Jack schwieg. Statt zu antworten, versuchte er auf die Beine zu kommen, fiel aber gleich wieder erschöpft zurück.

Rahul stiess sich mit einem Fuss von der Wand ab und streckte Jack seine Hand hin.

„Ist das auch die richtige?“, fragte Jack.

Rahul verzog das Gesicht. „Garantiert! Darauf kannst du Gift nehmen, so ein Fehler unterläuft niemandem ein zweites Mal.“ Mit einem kurzen Ruck zog er seinen Freund auf die Füsse.

Fast gleichzeitig blickten sie auf die zusammengekauerte Gestalt hinunter, die erschöpft auf dem schmutzig grauen Betonfussboden hockte, die Beine mit den Armen schützend an den Körper gezogen. Langsam hob sie den Kopf. Wirre Strähnen halblangen Haares klebten ihr nass im Gesicht. Das fahle, gelbliche Licht der Notbeleuchtung verlieh ihren Gesichtszügen eine gespenstig blasse Aura. Sie öffnete die Augen; sie waren grün und sie leuchteten wie Smaragde.

Jack streckte ihr seine Hand hin. Zögernd griff sie danach und liess zu, dass er sie auf die Füsse zog. Offenbar steckte noch immer viel zu viel Kraft in ihm, oder sie war leicht wie eine Feder, denn sie prallte direkt an seine Brust. Für Sekunden umfing er sie schützend mit den Armen, während sie taumelnd nach Halt suchte. Sein Herz pochte laut. Ihre Nähe betörte und verwirrte ihn zugleich.

Emma wand sich in seinen Armen, gleich einem Jungvogel, der es satthatte, noch länger in Mamas Nest auszuharren. Als Jack nicht reagierte, legte sie ihren Kopf in den Nacken und blickte zu dem blonden Hünen hoch. „Sie können jetzt loslassen“, sagte sie.

„Oh, tut mir leid …“ Jack räusperte sich verlegen, öffnete aber - wenn auch widerstrebend - die sachte Umklammerung und trat einen Schritt zurück. Entschuldigend hob er die Hände. „Mein Fehler.“

Er stand da und glotzte, wie ein kleiner Junge vor dem Goldfischglas. „Jack Gold“, stellte er sich vor. Seine Stimme klang unsicher, ganz ohne die gewohnt selbstsichere Lässigkeit. „Und dieser Gentleman da drüben“, er zeigte mit dem Finger auf den zweiten Mann im Raum, „ist Rahul Kahn.“

Emma wandte sich Rahul zu. Entschuldigend ergriff dieser ihre Hand mit seiner Linken. Emmas Lippen umspielte ein leises Lächeln, wobei sich ihr rechter Mundwinkel leicht kräuselnd nach unten zog. Das leicht schiefe Grinsen machte deutlich, wie nervös sie war.

„Tut bestimmt weh?“ Sie starrte auf Rahuls Hand. Eigentlich war es keine Frage, eher eine mitfühlende Feststellung. „Ich bin Emma. Emma Schäfer“ – und nach einer kurzen Pause, „Danke! Wärt ihr nicht gewesen, stünde ich jetzt vermutlich nicht hier.“ Alle drei warfen einen stummen Blick auf die geschlossene Tür, hinter der sich die todbringende Lawine aus Wasser, Geröll und Menschenfleisch durch den Tunnel bewegte. „Danke!“, sagte sie nochmals.

„Keine Ursache“, entgegnete Rahul, „wir haben uns gegenseitig geholfen.“ Er hielt das schmerzende Handgelenk hoch. „Hätten Sie nicht so fix reagiert und die Tür aufgehalten, wäre wohl keiner von uns dreien mit dem Leben davongekommen.“

Emma nickte. „Wir hatten Glück und wir sollten die Gunst der Stunde nutzen. Sehen wir zu, dass wir von hier wegkommen.“ Sie zog schaudernd die Schultern hoch. Sie fror; ihre Kleider waren klitschnass.

Rahul zog seine Jacke aus. „Hier, nehmen Sie die, ich brauche sie nicht.“

„Danke!“ Emma zog ihre eigene zerrissene Jacke aus und schlüpfte in die von Rahul. Sie zog sie eng an den Körper. Das Leder war feucht, aber das Innenfutter trocken und warm von seinem Körper. Sie fühlte sich gleich viel besser.

Jack presste sein Ohr auf den kalten Stahl der Tür zur Tunnelröhre. Dumpfes Grollen drang durch den dicken Stahl. „Wir können aber auch hier bleiben, bis Hilfe eintrifft“, schlug Jack vor, „oder wir warten einfach, bis das Wasser aus dem Tunnel abgeflossen ist, und befreien uns dann selbst.“

„Auf beides würde ich mich nicht verlassen“, sagte Emma. „Das kann ewig dauern, bis Rettung hier ist. Die sind garantiert überfordert. Die Feuerwehrleute sind seit Tagen ununterbrochen im Einsatz. Ausserdem werden sie sich erst mal um die Verletzten im Tunnel kümmern, an die sie rankommen, soweit sie überhaupt schon etwas ausrichten können. Und was das Wasser betrifft …“ Emma stockte. „Wie soll ich es sagen? Es ist nur schwer abzuschätzen, wie viel da noch nachkommt.“

Rahul hatte bis anhin geschwiegen und nur zugehört. „Und worin besteht Ihre Alternative? Gibt es überhaupt einen Weg hier raus, einen, der nicht durch den überfluteten Tunnel führt?“, wollte er von Emma wissen.

„Ja“, antwortete Jack und kam Emma damit zuvor. „Aber den richtigen Weg zu finden dauert vermutlich länger, als einfach hier sitzen zu bleiben und auf Hilfe von aussen zu warten.“

„Das kapier‘ ich nicht.“ Rahul drehte sich im Kreis. Der Raum war nicht gross. In jeder der drei gelben Wände befand sich eine Tür. „So wie ich das sehe, bleibt uns doch nur die Wahl zwischen zwei Türen. Was ist so schwierig daran?“

„Der Schein trügt. Ihr Freund hat nicht ganz unrecht. Die Sache hat wirklich einen Haken.“

„Und der wäre …?“

„Hinter einer dieser beiden Türen verbirgt sich ein gewaltiges Labyrinth aus Gängen und Räumen. Um Ihnen das zu verdeutlichen – wir befinden uns in der ehemals grössten Atomschutzbunkeranlage Europas, vermutlich aber der grössten weltweit.“

„Sie wollen mich auf den Arm nehmen?“

„Ganz und gar nicht. Beim Bau der beiden atomgeschützten Autobahntunnels - also direkt hier, wo wir uns jetzt gerade befinden - wurde während des Kalten Krieges, zwischen 1970 und 1976, gleichzeitig auch diese Kaverne erstellt.“

„Eine Kaverne?“

„Ja“, wiederholte Emma, „eine Kaverne. Stellen Sie sich einfach ein Gebäude vor, das anstatt über unter der Erdoberfläche in die Tiefe gebaut wurde. Ein gewaltiges, siebenstöckiges, unterirdisches Haus. In diesem Haus befindet sich: eine Kommandozentrale, ein voll eingerichtetes Notspital inklusive Krankenzimmer, Operationssäle, Röntgenraum et cetera. Eine Radiostation, sowie Mehrzweck- und Nebenräume. Im Kriegsfall hätte die gesamte Anlage Schutzraum für sagenhafte zwanzigtausend Personen geboten, wobei die Bevölkerung in den beiden Tunnelröhren untergebracht worden wäre. Jede von ihnen fasst zehntausend Personen.“

„Und jetzt nicht mehr?“, fragte Rahul

„Na ja, nicht mehr ganz so viele. Nach einer Übung im Jahr 1987 - man nannte sie sinnigerweise: Übung Ameise - wurde die Kapazität auf siebzehntausend Personen reduziert.“

Jack verzog das Gesicht. „Da wurde es sogar den Ameisen zu eng. Stell sich das mal einer vor, hier unten eingesperrt – zusammen mit neunzehntausendneunhundertneunundneunzig total verängstigten Leuten, plärrenden Kindern, sabbernden Alten und Kranken, die alle langsam, aber sicher durchzudrehen beginnen, weil nämlich keiner mehr an ein Morgen danach glaubt. Was bleibt auch schon übrig, nachdem eine 1-MT-Atombombe im Umkreis eines Kilometers aufgeschlagen ist.“ Er schüttelte sich.

Emma sog hörbar Luft ein. „Da bekomme sogar ich eine Gänsehaut. Dennoch, die Regierung muss damals offensichtlich an den Erfolg geglaubt haben, sonst hätten sie wohl kaum, sage und schreibe, fast vierzig Millionen Franken für das Projekt lockergemacht.“

„Ich versteh das nicht. Die Tunnels sind doch nach beiden Seiten hin offen. Sie zu verbarrikadieren, hätte im Bedarfsfall doch bestimmt viel zu lange gedauert?“

„Es sind Tore vorhanden“, antwortete Jack seinem Freund. „Wir sind daran vorbeigefahren. Man kann einen Teil von ihnen sehen. Sie bestehen aus anderthalb Meter dickem Beton und stehen auf speziell angefertigten Führungsschienen. Jedes dieser monströsen Dinger ist rund dreihundertfünfzigtausend Kilogramm schwer. Sie lassen sich hermetisch verschliessen, obwohl … ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob das jemals erfolgreich getestet wurde.“

„Wow!“ Rahul schien beeindruckt. „Aber was dann? Wenn die Tore erst mal geschlossen sind, wie gelangen die Leute hinein. Ausserdem, das dauert doch alles seine Zeit?“

„Ja“, bestätigte Emma, „Deshalb war vorgesehen, die Menschen durch die seitlichen Schleusen einzulassen und dabei auch gleich zu kontrollieren. Die Bevölkerung hatte genaue Anweisungen zu befolgen. Jede Familie hortete zu diesem Zweck zu Hause die notwendigen Mitbringsel. Es gab eine genaue Auflistung darüber, was jeder bei sich tragen durfte.“

„Das ist unglaublich.“

„Ja, vor allem, weil wir jetzt selbst in genau einer solchen Situation festsitzen. Durch die Tunnels kommen wir nicht mehr raus, aber auch nicht durch die seitlichen Sicherheitsschleusen.“

Rahul schüttelte ungläubig den Kopf „Etwas verrückt seid ihr schon, ihr Schweizer: Es stimmt also doch“, grinste er, „ihr bohrt mehr Löcher in eure Berge als in euren Käse.“

Jack nickte. „Zweimal ja, aber damit sind wir auch schon wieder am Anfang. Also, wenn wir uns wirklich auf den Vorschlag der Lady einlassen, wartet auf uns ein unterirdisches Labyrinth mit unglaublichen Ausmassen. Kilometerlange Flure und Gänge und keiner von uns kennt den Weg.“ Jack kratzte sich am Hinterkopf. „Kann jemand meine Skepsis nachvollziehen?“

„So schlimm ist es gar nicht“, widersprach Emma „Was kann schon passieren, wir gehen einfach systematisch vor – Etage für Etage.“

Jack sträubte sich noch immer. Er war nach wie vor nicht überzeugt, dass diese Möglichkeit die richtige war. „Wir sollten warten.“ Emma wollte insistieren, doch Jack hob hastig einen Finger und sie verstummte. „Woher hast du eigentlich all diese Informationen?“ Sie steckten hier drin fest, auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen, persönlicher ging es gar nicht. Wozu da noch so was wie eine förmliche Anrede.

„Wie es der Zufall so will, hatte ich das Glück und die Gelegenheit, einen Blick auf die Pläne für den Rückbau dieser Anlage zu werfen. Ein Freund beim Zivilschutz wollte meine Meinung dazu hören.“

„Hört, hört.“ Jack tat beeindruckt. „Sie wollten also deine Meinung hören? Und wie qualifizierst du dich dafür?“

„Durch meinen Beruf: Ich bin Architektin, ergo kenne ich mich mit Bauplänen aus“, antwortete Emma. „Also, wie schon gesagt, ich weiss sehr wohl, wovon ich rede. Ich kann uns hier rausbringen.“

Rahul kehrte den beiden den Rücken zu. Vielleicht war es besser, er verschaffte sich einen eigenen Überblick. So kompliziert konnte das schliesslich nicht sein, es standen ja nur zwei Türen zur Auswahl. Die Hand bereits am kalten Türgriff, rissen ihn Emma und Jack nach hinten.

„Nein – nicht!“ Ausnahmsweise waren sich beide einig.

„Willst du uns alle umbringen?!“, rief Jack.

Emma war ganz blass geworden, aber Rahul verzog nur verwirrt das Gesicht.

„Was soll die Panik? Ich wollte nur mal einen Blick hinter die Tür werfen.“

„Sorry Kumpel, aber das wäre total danebengegangen. Falsche Tür. Die führt geradewegs in die Weströhre des Tunnels.“

„Na dann, wenn nicht diese Tür, dann eben die andere.“

„Ich bin immer noch dafür, dass wir hier auf Hilfe warten“, wandte Jack ein. „Wir könnten abstimmen.“

Etwas Schweres knallte gegen die Tür zur Oströhre und liess alle drei herumfahren. Etwas Schweres hatte dem rot glänzenden Metall einen Riss verpasst. Durch ihn drang Wasser. Auf den Fussboden. Er stand binnen Minuten unter Wasser. Noch waren es wenige Zentimeter. Aber das Wasser hörte nicht auf zu fliessen.

Jack trat vorsichtig an die Tür, mit den Fingern prüfte er den Riss im Metall. „Was zum Teufel war das?“

„Etwas, das vermutlich jederzeit wieder passieren kann“, erwiderte Rahul und starrte auf seine Schuhe, durch deren Nähte bereits das Wasser eindrang. „Ich nehme mal an, dein Vorschlag für eine Abstimmung erübrigt sich damit.“

„Jack, dein Freund hat recht. Das Wasser ist immer noch in Bewegung - du weisst, was das bedeutet?“

Jack fuhr sich nervös durchs Haar. „Hmm, der Druck wird nicht nachlassen.“

„Genau! Und das bedeutet, wir müssen hier weg, und das so schnell wie möglich.“

„Vermutlich haben wir tatsächlich keine andere Wahl, wenn wir nicht wie die Ratten ersaufen wollen.“

„Wir werden uns einen Rückzugsplan zurechtlegen“, sagte Emma, „wenn wir uns daran halten, kann nichts schiefgehen.“ Sie überlegte „Im Moment stecken wir noch zwischen den beiden Autobahnröhren fest, befinden uns dadurch aber auch bereits in der Kaverne selbst. Das unterirdische Gebäude ist sieben Stockwerke hoch. Ich schätze, unter uns sind noch ein oder zwei Etagen.“

„Du schätzt …?“, wiederholte Jack.

„Ja, muss ich. Ich erinnere mich natürlich nicht mehr so genau an jedes Detail“, sagte Emma, „aber das ist auch gar nicht so wichtig.“ Emma vergegenwärtigte sich den Bericht, den sie bei einer Besprechung mit der Stadtverwaltung im vergangenen Jahr gesehen hatte. „Wir müssen es nur rechtzeitig zum Materialtunnel schaffen; dem einzigen gangbaren Weg nach draussen. Die Chancen, ihn rechtzeitig zu finden, stehen gut.“

„Ich höre immer nur ,rechtzeitig'.“ Rahul hob einen Fuss aus dem Wasser, er war bereits nass bis zu den Knöcheln.

„Okay, dann lasst uns mal von hier verschwinden“, sagte Jack. „Es führt ja nur eine Tür in die Anlage rein, und zwar diese da. Ist wie bei einem Quiz“, Jack grinste. „Man benutze einfach das Ausschlussverfahren.“ Jack zog an dem langen Eisengriff. „Ist aber leider verschlossen.“

„Wir brauchen etwas, um sie aufzuhebeln.“ Rahul blickte sich suchend um. „Lagen da vorhin nicht ein paar Eisenstangen auf dem Boden?“ Mit dem Fuss im schmutzigen Wasser wurde er fündig. Er griff mit der gesunden Hand nach unten und zog ein Flacheisen aus der öligen Brühe, und nicht nur eines. Er hielt beide Jack entgegen, der sie prüfend in der Hand wog.

„Gut, versuchen wir es! Mit ein wenig Glück bekommen wir sie auf.“

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