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Emma hockte in der verräucherten Amtsstube hinter dem einzigen Schreibtisch. Er war alt - keine Antiquität, die etwas hermachte oder durch das Alter edler oder gar wertvoller geworden wäre. Er war einfach nur ein schäbiges Möbelstück, dessen Mief sie in die Nase stach.

Sie musste nachdenken, also lehnte sie sich zurück. Da sass sie nun, in dieser Polizeistation auf den Höhen des Jura, wo ihr Leben - wie sie es kannte - seinen Anfang genommen hatte. Die Akten und Fotos über den Flugzeugabsturz lagen vor ihr auf dem Pult. Die alten Schwarz-Weiss-Bilder hatte sie bereits durchgesehen - ihre zerstörerische Deutlichkeit erschreckte sie. Waren die verkohlten Überreste tatsächlich Teil ihrer Vergangenheit?

Sie seufzte. Klar, die Bilder waren schrecklich und die Vorstellung, was den Menschen, da passiert war, machte sie betroffen, doch darüber hinaus – kein Déjà-vu, nichts, das ihr einen hinreichenden Grund bot, weiterzumachen, und sie war sich doch so sicher gewesen …

Emma blickte sich in dem kleinen Kabuff um. Es schimpfte sich auch heute noch grossartig Polizeistation. Ausser ihr war niemand zugegen, sie hockte allein hinter einer wackeligen halbhohen Trennwand, die den ohnehin winzigen Raum in zwei noch beengtere Teile schnitt. Es roch muffig, genau wie damals, durchsetzt mit dem abgestandenen Qualm unzähliger „Krummen“ - diesen dünnen, willkürlich gebogenen Zigarren. Der Geruch war allgegenwärtig. Er sass in der zerkratzten Oberfläche des Holztisches an der gegenüberliegenden Wand ebenso wie in der holzvertäfelten Decke und dem hässlichen Linoleumboden zu ihren Füssen.

Emma lächelte in Erinnerung an all diese Eindrücke. Es war, als sei die Zeit inmitten dieses Raumes stehen geblieben, als hätte sich nichts geändert seit damals, als ihre Hände klein und die schmutzigen Fingernägel abgekaut in ihrem Schoss gelegen hatten. Mehr als einmal hatte sie auf der anderen Seite dieses Pults gesessen und nach einer plausiblen Ausrede gesucht. Sie hatte Dummheiten begangen.

Seufzend schüttelte sie die alten Erinnerungen ab und wandte sich wieder den Fotos zu. Sie mühte sich wirklich ab, aber ihr Enthusiasmus, der sie bis hierher gebracht hatte, löste sich gerade in Luft auf. Sie rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel.

Was zum Kuckuck tue ich hier eigentlich? Sie hasste solche Momente der Ohnmacht. Sie war voller Hoffnung hierhergekommen, war sich so sicher gewesen, genau hier den entscheidenden Hinweis zu entdecken, und das, obwohl sie genau wusste, dass das, wonach sie suchte, in ihrem Kopf war. Die Bilder auf dem Tisch vor ihr hatten nichts ausgelöst, keine Erinnerung, lagen nur stumm da.

Aber irgendetwas musste es geben.

Das erste Foto war eine Nahaufnahme der Pilotenkanzel, oder dessen, was nach dem verheerenden Feuer davon übrig geblieben war. Schon bei der ersten oberflächlichen Durchsicht der Bilder war ihr klar geworden, was die Behörden zu der Annahme - niemand könne diese Feuerhölle überlebt haben - verleitet hatten. Vor ihr lag ein danteskes Inferno.

Sie zog das nächste Bild heran. Obwohl sich die Trümmerteile schwer zueinander anordnen liessen, schaffte sie es dennoch mithilfe eines beiliegenden Berichts.

Das Cockpit lag getrennt vom Rumpf etwas abseits und das verkohlte Gerippe der metallenen Fluggastkabine etliche Meter dahinter, zur Seite gekippt, auf verbrannter Erde.

Bei dem, was sie sah, liess sie nur eine einzige Wahrheit zu: Diese Feuerhölle konnte niemand überlebt haben. Die Bilder sprachen für sich selbst. Wunder über Wunder wären nötig gewesen, einem Kind da rauszuhelfen. Es war unmöglich und dennoch … Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Bild für Bild nahm sie sich nochmals vor, nochmals und nochmals.

Und da: Auf einem der Bilder fiel ihr die lange Schneise aufgeworfener Erde auf, die sich hinter dem Wrack tief durch das kurze Gras der Weide zog.

Was hat das zu bedeuten?

Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Das Flugzeug ist nicht einfach wie ein Stein vom Himmel gefallen. „Die Maschine war beim Absturz noch intakt und der Pilot hat eine Notlandung versucht.“ Aufgeregt sprang sie auf und ging hinter dem Tisch auf und ab. „Das ist es - und es ergibt Sinn.“ Ihr Herz pochte fühlbar auf der Höhe des Solarplexus gegen ihr Brustbein.

Bleib jetzt ganz ruhig, sagte sie sich lautlos. Denk nach! Denk nach! Sie atmete einige Male tief durch, bis sie sich so weit beruhigt hatte, dass sie sich wieder hinsetzen konnte. Der Stuhl fühlte sich nun gar nicht mehr so hart und unbequem an, denn die neu erwachte Hoffnung erwies sich als eine wohltuende Polsterung. Wieso war ihr diese Schneise nicht schon vorher aufgefallen. Sie griff nach der Akte, suchte in dem Bericht der BFU die entscheidende Stelle. Voilà, und da steht es, bestätigt vom Büro für Flugunfalluntersuchung. Diese Schneise ist die denkbare Erklärung, dass ich als Passagier das Inferno an Bord dieser Unglücksmaschine habe überleben können.

Emma atmete erleichtert aus. Skeptiker würde sie damit nicht überzeugen, aber ihre eigenen Zweifel hatte sie damit ausgeräumt, und das genügte ihr.

Mit neuer Energie blätterte sie weiter durch die Akte, Seite für Seite arbeitete sie sich durch die komprimierten Berichte, aber vorerst gaben sie nichts weiter her und wenn man der Passagierliste der Unglücksmaschine Glauben schenken wollte, deckte die sich nahtlos mit den verkohlten Überresten der Unfallopfer. Entweder war das ein Fehler im System oder es bedeutete: Wer auch immer in der Vergangenheit mit ihr verbunden war, hatte mit allen Mitteln zu vertuschen versucht, dass irgendjemand von ihrer Existenz erfuhr – sogar über ihren vermeintlichen Tod hinaus. Diese niederschmetternde Erkenntnis traf sie mit der Wucht eines betäubenden Schlages.

Emma liess sich in die Lehne fallen. Das schien alles so sinnlos. Sie zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung. Dachte an die vergangenen zwei Tage: an Jack und Rahul, die sich noch immer in ihrem Apartment aufhielten. Sie hatte darauf bestanden, dass sie vorerst blieben. Allerlei Behördengänge waren zu erledigen gewesen, gemeinsam ging alles viel leichter.

Rahul hatte Glück gehabt: Sein Handgelenk war zwar – wie vermutet - gebrochen, musste aber nicht operiert werden, ein glatter sauberer Bruch, den eine selbsthärtende Bandage umschloss. Ihre geplante Trekking-Tour würde vorerst ausfallen, aber das war nebensächlich.

Sie waren dem Tod entkommen. Sechsundzwanzig Todesopfer waren bis zum Vortag aus dem Tunnel geborgen worden und noch immer rechnete man damit, weitere Leichen unter den Trümmern zu finden. Wenn sie an all das Leid der Familien dachte, war der Verlust ihres Wagens ein Nichts; nur Jack trauerte seiner Schrottkiste immer noch hinterher.

„An so einen Wagen komme ich nie wieder“, hatte er gejammert. Rahul und Emma allerdings hofften inständig für alle Verkehrsteilnehmer, dass er damit recht behielt.

Sie hatten viel geredet in den vergangenen beiden Tagen. Über ihre gemeinsame Odyssee, aber auch über persönliche Dinge. Emma hatte ihnen ihre Geschichte anvertraut. Jack war sofort Feuer und Flamme und geradezu besessen gewesen von der Idee, ihr bei den Nachforschungen zu helfen. Natürlich hatte sie abgelehnt, aber Jack hatte ihre Einwände einfach beiseitegefegt. Rahul war zurückhaltender gewesen, aber Jack hatte nicht lockergelassen, ehe auch Rahul mit im Boot sass.

Der ganze Disput war ihr peinlich gewesen, denn etwas an Rahul irritierte sie. Der Mann hatte etwas an sich, das sie nervös machte, ihr Herz unrhythmisch und laut schlagen liess, allein, wenn er sie ansah. Aber Jack kannte kein Pardon, also hatte sie lachend nachgegeben: Etwas Hilfe konnte schliesslich nicht schaden.

Lautes Gepolter holte sie unsanft in die Gegenwart zurück. Schwere Schuhe stampften auf ausgetretenen Holzstufen von oben ins Kabuff hinunter.

Emma fuhr hoch. „Onkel Alfred, du hast mich erschreckt!“

Alfred Leclerc, Leiter der kleinen Polizeistation und alter Freund der Familie Schäfer, trat an ihre Seite. Er schnäuzte sich lautstark in ein Taschentuch von der Grösse einer althergebrachten Babywindel und sein Gesicht, durchzogen von einem Geflecht aus blauen Äderchen, lief dabei rot an.

Leclerc winkte ungeduldig ab. „Seit wann bist du so empfindlich, Kind?“ Er setzte sich schnaufend an den Tisch nahe der Wand. „Und, was habe ich dir gesagt?“ Er zog die buschigen Augenbrauen zusammen. „Nein sag nichts, ich sehe es deinem Gesicht an. Du hast nichts gefunden.“ Er schüttelte traurig den Kopf. „Was hast du dir bloss dabei gedacht? Du verschwendest doch nur deine Zeit. Lass die alte Kamelle ruh'n.“ Er hob die Akte hoch und zielte damit auf Emma, „Das da steht in keiner Verbindung zu deiner Vergangenheit.“

Aber er selbst war es doch gewesen, der ihr die Dokumente für ihre Recherche auf die Schreibtischplatte geklatscht hatte und danach ohne ein weiteres Wort verschwunden war.

Für ihn war der Moment gekommen, Klartext zu reden.

„Komm her, setz dich zu mir.“

Emma seufzte, tat ihm aber den Gefallen. Er ist alt geworden, dachte sie – so um die siebzig -, aber seine ruppige Art vermochte sie noch immer ein wenig einzuschüchtern. Wieso war er überhaupt noch hier?

„Also, meine Kleine“, unterbrach er ihre Gedanken. „Was soll dieser plötzliche Aufstand? Denkst du, ich habe damals meine Arbeit nicht richtig gemacht? Denkst du das?“

„Nein“, sagte sie, „das denke ich nicht, es ist nur …“ Sie musste vorsichtig mit ihren Worten umgehen, wenn sie ihn nicht vor den Kopf stossen wollte. Er war schon immer sehr empfindlich gewesen, wenn es um seine Arbeit ging. „Du verstehst das nicht.“

„Oh, und ob ich verstehe!“ In seiner Stimme lag ein gefährliches Knurren. Er kniff die Augen zusammen und wartete.

„Es ist schwierig“, sagte sie, „Ich habe Fragen und auf die will ich Antworten.“

„Na gut, ich weiss das, dennoch hat sich an den Tatsachen nichts verändert – die da sind: Du warst nicht mal annähernd in der Nähe der Absturzstelle, die war über einen Kilometer weit von deinem Fundort entfernt, du warst verletzt – ich selbst habe deinen zertrümmerten Oberschenkelknochen weiss durch das zerfetzte Fleisch schimmern sehen - es war …“ Alfred Leclerc brach ab. Stöhnend verzog er das Gesicht. „Du musst höllische Schmerzen durchgestanden haben, und dennoch, trotz all der Qualen hast du keinen Mucks von dir gegeben, das war das Schlimmste überhaupt. Ich hätte heulen können. Du hast so hilflos ausgesehen, wie du da so schutzlos auf Margaretes Küchentisch gelegen hast, auf diesem geblümten Wachstuch, dem grellen Licht ausgesetzt, wie eine zerbrechliche kleine Porzellanpuppe. Hätte Alain dich nicht rechtzeitig gefunden und in sein Haus gebracht … – ich weiss nicht.“ Der alte Mann brach ab.

Emma schwieg. Diesen Teil der Geschichte kannte sie bereits. Sie legte Alfred eine Hand auf den Arm und erlöste ihn von den Erinnerungen.

Er zwinkerte kurz, dankbar, nicht mehr daran denken zu müssen, aber er blieb dabei. „Niemandem in einem solch desolaten Zustand wäre es gelungen, eine solche Strecke zu bewältigen – auch dir nicht. Ach ja und noch etwas, es gab keine Anzeichen von Verbrennungen, nicht ein versengtes Haar. Gar nichts.“ Er schüttelte entschieden den Kopf.

Emma wollte etwas einwenden.

„Moment! Ich bin noch nicht fertig. Lass mich das jetzt zu Ende bringen.“ Er durchwühlte die Akte. „Hier!“

Sie wusste, was jetzt kam.

Er streckte ihr die Passagierliste entgegen. „Hast du dir die mal angesehen?“

„Ja, hab ich.“

„Nun, dann weisst du auch, dass nur ein einziger Passagier an Bord war. Irgend so ein Doktor.“ Er wedelte ungeduldig mit der Hand in der Luft herum.

„Dr. Kaspar Junot.“ Emma hatte den Namen noch im Kopf.

„Ja, genau – so ein verkorkster Heini aus der Pharmaindustrie mit mehr Doktortiteln vor seinem Namen, als ich Freunde habe. Doktor der Biologie, Doktor der Medizin, und so weiter und so fort, und wie das Leben so spielt, keiner dieser Titel hat ihn, als es darauf ankam, vor dem Tod bewahren können.

Auch die Besatzungsmitglieder hatten keine Chance, die Gerichtsmedizin sah sich nicht mal mehr in der Lage, die paar übrig gebliebenen Knochen einem der Namen zuzuordnen. Vier Menschen waren an Bord der Unglücksmaschine – drei davon gehörten zur Crew. Vier trauernde Witwen und deren Familien haben die Todesopfer betrauert und zu Grabe getragen. Fällt dir dabei nichts auf?“

Alfred sprach weiter, ehe Emma antworten konnte. „Was denkst du – wo war deine Familie? Glaubst du auch jetzt noch, dass du mit diesen unglücklichen Menschen in dem Flugzeug gesessen hast?“ Leclerc zog sich von seinem Stuhl hoch und beugte sich vor, die schweren rauen Hände auf den Tisch gestützt. Die verwurmten Tischbeine knarrten bedrohlich und sein Gesicht war dem von Emma jetzt so nah, dass sie befürchtete, sich in den tiefen Falten seines langen Lebens zu verlieren. Die blassblauen Augen schwammen hinter einem zähen Schleier aus Tränenflüssigkeit, doch dahinter funkelte der gelassene Blick eines Mannes, der wusste, wovon er sprach.

„Lass die Sache ruhen, Kind. Es gibt Fragen, auf die gibt es keine Antwort, auch wenn du es dir noch so sehr wünschst. Mach dich nicht unglücklich und vertrödle nicht wertvolle Zeit, indem du einem Hirngespinst hinterherjagst.“

Emma war diese Art der Problemlösung zu einfach. Sie verstand seinen Standpunkt, aber er war nun mal nicht sie. „Ist dir nie der Gedanke gekommen“, fragte sie, „dass Vater und Mutter gelogen haben könnten, was den Fundort anbelangt? Mutter hat mir mal gesagt, sie hätten nie eigene Kinder bekommen können.“

„Und wenn schon“, brummte Alfred. „Was hätte das damals geändert? Nichts. Denk an die Passagierliste. Ein Passagier war an Bord. Einer!“ Er richtete sich zu seiner vollen Grösse auf, eine noch immer beeindruckende Gestalt. „Sei klug, Emma, vergiss das Ganze. Hör auf, deine kostbare Zeit mit diesem Unsinn zu vergeuden! Du hast doch einen interessanten Beruf. Musst du nicht arbeiten? Du hast bestimmt Besseres zu tun, als hier rumzuschnüffeln und in alten Akten zu wühlen? Geh nach Hause, Kind. Lass die Vergangenheit ruhen.“

Er wandte sich zum Fenster und schickte einen langen prüfenden Blick die leere Dorfstrasse rauf und runter, eine Angewohnheit aus längst vergangenen Tagen, als auf den Strassen noch etwas los war.

„Vergiss, was war“, sagte er. „Lebe und schaue nach vorn!“ Leclerc seufzte resigniert, als er die wilde Entschlossenheit in ihren Augen funkeln sah, ehe sie sich entschieden abwandte. Sie ist noch genauso stark wie damals. Er würde sie niemals umstimmen können, das wusste er nun. Für sie würde es nie zu Ende sein. Nicht, ehe ihre eigenen Nachforschungen genauso im Nichts versandeten wie seine eigenen – vor vielen Jahren.

Sie waren sich sehr ähnlich, fand er. Er hatte schliesslich auch nie - trotz all der Krummen, deren Rauch seinen Kopf umwölkt hatte – mit der Möglichkeit gerechnet, an Lungenkrebs zu sterben, auch dann noch nicht, als ihm der Arzt das Röntgenbild seiner befallenen Lungen gezeigt hatte. Erst Schmerzen und Atemnot liessen ihn zu spät begreifen …

Er ging auf sie zu. „Tu, was du nicht lassen kannst“, brummte er. „Ich muss jetzt los. Wenn du hier fertig bist, schliess bitte die Tür und wirf den Schlüssel in den Briefkasten.“ Auf ihren ungläubigen Blick hin entgegnete er: „Es passiert schon nichts. Die Leute hier kennen einander, ausserdem, auch hier hat man jetzt Mobiltelefon …“ Sie hörte die tiefe Verachtung in seiner Stimme. „Ende des Jahres wird der Posten sowieso für immer geschlossen.“

„Mach ich“, sagte Emma leise, „in den Briefkasten also.“ Sie lächelte ein wenig traurig und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. „Und danke.“

Leclerc winkte ab. „Es war schön, dich mal wieder zu sehen.“ Er drückte sie kurz an sich. „Du solltest dir mal wieder etwas zwischen die Zähne schieben, du bist dünn wie eine Bohnenstange. Und noch was, wenn du das nächste Mal so kurzfristig reinschneist, ruf mich vorher an – verstanden?!“ Seine Stimme klang spröde und in Gedanken fügte er hinzu: Dein Besuch könnte sonst womöglich für die Katz sein.

„Versprochen.“

„Bleib sauber, Mädel.“ Damit wandte er sich um und verliess das Büro durch die Tür zur Strasse.

Emma blickte ihm durch das Fenster hinterher, sah, wie er in die Gasse zum Bahnhof einbog, dort kurz mit einem Passanten ein paar Worte wechselte und dann zwischen den Häusern verschwand.

Würde sie ihn je wiedersehen?

Emma riss sich los und machte sich wieder an die Arbeit. Sie tippte die wichtigsten Informationen in den Laptop. Jack war, wie sich herausgestellt hatte, ein Informatikprofi, fast schon ein kleines Genie. Seine Virtuosität ermöglichte ihnen, in ständiger Verbindung miteinander zu bleiben, und gewährleistete ihnen jederzeit Zugriff auf sämtliche zusammengetragenen Hinweise, Bilder und Daten.

Emma packte Namen und persönliche Daten von Dr. Kaspar Junot, sowie die Anschrift des Konzerns, auf dessen Name das Flugzeug eingetragen war, in eine E-Mail und schickte es los. Bevor sie den Polizeiposten verliess, kopierte sie alle relevanten Dokumente. Die Fotos steckte sie einfachheitshalber ein, niemand hatte sich bis anhin dafür interessiert – was sollte schon passieren.

***

Rahul nahm die Bettsachen von der Couch und packte sie ins Gästezimmer zurück. Er hatte gut und lange geschlafen. Den Jetlag, die Strapazen des Tunnelunglücks und Jacks Geschnarche im gemeinsamen Gästezimmer lagen hinter ihm. Die Couch im Wohnzimmer war ihm wie ein Segen vorgekommen.

Er setzte sich in der Küche an den Tisch und ging die E-Mails durch. Eine langwierige Angelegenheit, durch den Gipsverband war er in seiner Beweglichkeit stark eingeschränkt. Die Bedienung der Tastatur erwies sich als ein ungewohnt schwieriges Unterfangen.

Er sah auf die Uhr. 11.20 Uhr. Er hatte noch geschlafen, als Jack das Haus verliess, um noch so einiges an technischem Gerät zu besorgen, und ihre Gastgeberin wirbelte irgendwo in einem dieser Fünf-Häuser-und-ein-Stall-Dörfer des Berner Jura antiquierten Staub auf. Eine einsame Gegend da oben, selbst für schweizerische Verhältnisse. Er selbst war in Delhi aufgewachsen, immer umgeben von einer schier unübersichtlichen Anzahl Familienmitglieder.

Eine neue Mail kam rein und gleichzeitig ging die Haustüre. Rahul wandte den Kopf. Es war Jack. Laut und rücksichtslos bahnte er sich seinen Weg in die Küche.

„Was liegt an, Kumpel?“, grinste er gut gelaunt. „Schon etwas von unserer Lady gehört?“

„Ja, du Held, soeben ist eine E-Mail von ihr reingekommen.“

„Seit wann bin ich denn dein Held?“

„Du weisst, wie ich das meine.“ Rahul stöhnte verzweifelt. „Du hast uns da mal wieder ganz schön in was reingeritten. Du kannst es einfach nicht lassen – nicht wahr? Was, um Himmels willen, treibt dich nur immer wieder dazu, solche Versprechen zu geben?“

„Jetzt mach aber mal halblang …“

„Ich bin noch nicht fertig.“ Rahul schüttelte verständnislos den Kopf. „Machst du dir etwa Hoffnungen, sie könnte sich in dich vergucken, wenn du ihr hilfst?“

„Das ist jetzt aber nicht fair.“ Jack tat beleidigt. „Ich erinnere mich nämlich gerade nicht, dass du gross protestiert hättest.“

„Mir blieb ja wohl auch keine andere Wahl, nachdem du dich schon als Ritter in glänzender Rüstung aufgespielt hattest. Wie hätte ich denn dagestanden?“ Doch das war nur die halbe Wahrheit. Jack hatte nicht ganz unrecht, diese Frau hatte etwas an sich, das ihn genauso faszinierte wie seinen Freund, ja irritierte. Die Frau war ihm ein Rätsel und dennoch war sie sehr authentisch.

„Rahul, Kumpel, sieh es doch mal so: Auf uns wartet ein echtes Abenteuer. Etwas Detektiv zu spielen reizt dich im Grunde doch genauso sehr wie mich selbst“, sagte es und stürzte Rahuls Orangensaft in einem Zug hinunter - das leere Glas drückte er dem Sprachlosen in die Hand. „Und da dieses Thema ja nun hoffentlich ein für allemal geklärt ist“, stellte er abschliessend fest, „können wir ebenso gut auch gleich mit der Arbeit beginnen.“

„Eine Frage noch. Wie gross, schätzt du, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihre abstrusen Träume - in welchem Zusammenhang auch immer - mit ihrer Vergangenheit in Verbindung stehen? Ich denke, Emma verrennt sich da in etwas, das nicht funktionieren wird. Die Sache hat weder Hand noch Fuss. Fairerweise sollten wir sie darauf hinweisen.“

„Du magst ja recht haben, aber das was du glaubst, spielt im Moment keine Rolle. Lass es sie selbst herausfinden. Es ist ihr Ding und sie will es durchziehen. Wir beide unterstützen sie dabei einfach, so gut es geht.

„Und wie, wenn ich fragen darf, gedenkst du vorzugehen?“

„Na ja, so schwer ist das nicht, schliesslich leben wir im Informationszeitalter. Betrachte es einfach als eine Art Puzzle; etwas verzwickter vielleicht, weil wir noch keinen Rahmen stecken können und die meisten Teile noch fehlen, aber ich bin da guter Dinge. Wenn wirklich etwas dahintersteckt, werden wir mit etwas Geschick und der nötigen Ausdauer die gesammelten Informationen schon bald zu einem logischen Bild formieren können.“

„Und, ich nehme an, du weisst auch schon, in welche Richtung wir die Suche starten müssen.“ Rahul blieb skeptisch.

„Klar“, sagte Jack. „Ist doch ganz einfach und total unspektakulär: Wir suchen nach einer Mutter und einem Vater.“

Rahul war verblüfft, wie präzise Jacks Hirn das ganze Drumherum weggefiltert und den wahren Kern freigelegt hatte. So gesehen, stellte sich die Geschichte natürlich schon wesentlich logischer dar. Ohne wirre Träume und Verschwörungstheorien erschien ihr Vorhaben realistisch und durchaus machbar.

Jack grinste. „Ich sehe, du hast kapiert.“

„Ja, ich schon, aber was ist mit Emma?“

„Das schaffen wir auch noch. Gemeinsam werden wir ihre Träume bis ins kleinste Detail ausleuchten, auseinanderpflücken, und schon bald wird sie selbst erkennen, wie sinnlos und irreal dieser Weg ist. Wenn wir nicht dagegen ankommen – nun ja -, dann hat sie vielleicht doch recht.“

„Also gut, du hast gewonnen. Ich gebe deinem Detektivspiel zwei Wochen.“

„Kann ich mit leben“, sagte Jack. „Öffne Emmas Nachricht. Mal sehen, ob sie schon was ausgegraben hat. Ich hole inzwischen meinen eigenen Laptop.“

Sie arbeiteten konzentriert und teilten sich die eingegangenen Informationen auf. Rahul konzentrierte sich auf den Konzern, auf dessen Name die Unglücksmaschine registriert war – die Viva Pharma, während Jack sich den einzigen Passagier, Dr. Kaspar Junot, vorknöpfte. Mithilfe des Internets war fast alles möglich. Ohne Jacks Hilfe jedoch wäre Rahul unter der Informationsflut aus dem Internet zusammengebrochen. Er musste seine Sucheingaben immer wieder neu formulieren und stark eingrenzen.

Die Viva Pharma entpuppte sich als Teil eines weltweit agierenden Konzerns der Pharma- und Chemiebranche. Trotz Jacks Tipps, wie er am schnellsten an die gewünschten Informationen herankam, wusste er nicht genau, wonach er eigentlich suchen sollte. Und so kämpfte er sich mühevoll durch den Wust von Einträgen, wobei er sich immer wieder Notizen machte.

Jacks Suche verlief etwas differenzierter. Über Doktor Kaspar Junot gab es nicht so viele Einträge, dafür musste er umso tiefer graben. Der Tod des Forschers lag schon zu weit zurück und über den Konzern kam er nicht an seine persönlichen Daten heran. Was er herausfand, waren Hinweise auf die Art seiner Forschungen. Der gute Doktor war zu Lebzeiten offenbar eine bekannte Grösse in der Stammzellenforschung. Sein Name tauchte gleich in mehreren wissenschaftlichen Veröffentlichungen über das Thema auf. Ein Bild zeigte den Forscher zusammen mit dem jungen Luc Stoddard. Jack erkannte den milliardenschweren Konzernchef auf dem Bild nicht gleich wieder, mittlerweile war er über siebzig. Der Hauptaktionär der Viva Pharma hielt seinen Arm kumpelhaft um Junots Schulter gelegt und grinste selbstbewusst in die Kamera. Kaspar Junot hingegen wirkte neben dem gut aussehenden, charismatischen Stoddard eher etwas verloren.

Der Artikel, der dem schwarz-weissen Bild zugrunde lag, wies auf die enge berufliche, aber auch auf eine freundschaftlich persönliche Beziehung der beiden Forscher hin. Junot war nur wenig älter als Stoddard, doch sein Erscheinungsbild wirkte gestandener, seriöser. Stoddards Typ entsprach eher dem eines aktiven Sportlers, denn eines spröden Forschers; das unterstrich auch die Aussage des Journalisten. Stoddard galt in jungen Jahren als wissenschaftlicher Draufgänger, ohne ethische Skrupel. Er hatte jede legale wie auch fragwürdige Abkürzung genutzt, um seinen Konkurrenten immer einen Schritt voraus zu sein. Nach dem Absturz, dem Verlust seines Freundes und Forscherkollegen, wurde es allerdings ruhiger um den jungen Stoddard. Der Konzern erwirtschaftete weiterhin riesige Summen, doch das persönliche, fundamentale Interesse an der Stammzellenforschung schien dem Pharmamagnaten nach dem tragischen Verlust seines Freundes abhandengekommen zu sein. Wollte man den Presseberichten glauben schenken, so hatte Stoddard den Labors für immer den Rücken gekehrt. Seither, so die Presse, widme er sich innerhalb des Konzerns ausschliesslich dem Management.

Für die Boulevardpresse blieb er allerdings weiter ein beliebtes Ziel. Die Klatschjournalisten kämpften sich durch sein Privatleben, als wäre es ein Wühltisch im Sommerschlussverkauf. Sein ganzes Leben lag ausgebreitet da, offen sichtbar für jeden, den es interessierte.

Jack hielt Stoddards persönliche Verbindung zu dem verstorbenen Junot für ein interessantes Detail. Er machte Rahul darauf aufmerksam.

Rahul konzentrierte sich daraufhin mehr auf Stoddards Person und dessen persönliche sowie geschäftliche Laufbahn. Den komplizierten und weit verzweigten Hintergrund des Konzerns konnten sie später immer noch genauer ausleuchten. Insgeheim hoffte er aber, dass dies nicht nötig wurde, da jede Anfrage über den Konzern einen Rattenschwanz an Einträgen nach sich zog.

Sie arbeiteten wie die Besessenen. Das Jagdfieber hatte sie gepackt. Rahul musste zugeben, dass es spannend war, im Leben anderer rumzuschnüffeln. Ein paar Stunden und ein paar Telefonate später hielt Jack Rahul die Adresse von Junots Witwe hin. Margarete Junot lebte heute am Genfersee, in einem kleinen Vorort von Lausanne.

„Emma wird bestimmt persönlich mit der Witwe sprechen wollen“, sinnierte Rahul laut. „Was hältst du davon, unseren Standort von hier in mein Ferienhaus ins Berner Oberland zu verlegen? Emma könnte sich viel Zeit mit unnötiger Fahrerei sparen und direkt von ihrem momentanen Standort zu uns nach Gstaad vorstossen.“

***

Der Schmerz fuhr ihm wie die geschärfte Klinge eines Schwertes durch seinen dröhnenden Schädel. Aufstöhnend stolperte er einen Schritt nach vorn. Seine Finger tasteten nach dem Päckchen Aspirin in seiner Hosentasche. Zitternd drückte er gleich mehrere der weissen Tabletten aus der knisternden Folie in seine Handfläche und warf sie sich alle auf einmal in den Mund. Er zerkaute sie trocken. Die bittere, kreidegleiche Substanz vermischte sich mit seinem Speichel und hinterliess kleine weisse Dreiecke in seinen Mundwinkeln.

Jetzt konnte er nur noch warten. Die Hände vor sich auf den Tisch gestützt, verharrte er, bis die gleissenden, zornigen Wellen des Schmerzes langsam zu verebben begannen.

Die Anfälle häuften sich. Die Intervalle dazwischen wurden immer kürzer und die Schmerzattacken überfielen ihn, völlig unabhängig von äusseren Einflüssen, zu jeder Tages- und Nachtzeit.

Sein Gesicht war noch immer zu einer schmerzhaften Grimasse erstarrt, als er sich langsam wieder zu voller Grösse aufrichtete. Achtlos raffte er die Fotos zusammen und warf sie in die Schatulle zurück.

Er war wütend, so wütend. Heute hatte er zuschlagen wollen. Doch die momentane Verfassung liess keine Aktionen zu. Er war kaum in der Lage, das Haus zu verlassen. Die Schmerzen waren unerträglich und wie er aus Erfahrung wusste, würden sie auch in den nächsten Stunden nicht ganz abflachen. Die Tabletten würden helfen, aber sie vollbrachten keine Wunder. Einen klaren Kopf war alles, was er sich erhoffte. Das Risiko, durch einen von Schmerzen blockierten Geist einen verhängnisvollen Fehler zu begehen, war einfach zu gross.

PID - Tödliches Erbe

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