Читать книгу PID - Tödliches Erbe - A. C. Risi - Страница 5

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Der Tumult hinter der geschlossenen Tür des Sitzungszimmers hallte ihr noch nach, als sie ihre Schritte längst den Flur entlang auf ihr Büro zu lenkte. Emma hatte mit ihrer unerwarteten Ankündigung einen hitzigen Disput ausgelöst, aber komme, was wolle, sie würde keinen Rückzieher machen.

Sie schnappte sich ihre Jacke von der Stuhllehne und wollte gerade das Büro verlassen, als Frank, einer der Partner, die Tür aufriss.

Frank war weit mehr als nur Arbeitskollege und Partner; Frank war ihr engster Freund. Er war ihr schon oft zur Seite gestanden, hatte ihr bei schwierigen Anliegen den Rücken gestärkt, doch jetzt, so wie er da vor ihr stand, gereizt und auf Distanz, liess sie der Anblick seines massigen Körpers zurückweichen. Würde sie ihn nicht besser kennen, wäre dies vermutlich der richtige Zeitpunkt, sich zu fürchten.

„Was ist los mit dir? Was sollte das eben?“ Er versetzte der Tür einen Stoss, sodass sie lautstark ins Schloss fiel.

Emma zuckte zusammen. Sein wilder Auftritt verschlug ihr die Sprache. Was hoffte er zu hören? Offensichtlich nichts, denn er schien gar nicht die Absicht zu haben, ihr zuzuhören – jedenfalls noch nicht. Erst mal liess er Dampf ab. Eine ganze Menge Dampf, fand Emma.

„Du kannst nicht einfach alles hinschmeissen und verschwinden. Ein halbes Jahr – bist du verrückt?“ Mit fahrigen Fingern nestelte er an seinem engen Hemdkragen herum. Das steife Leinen spannte sich wie das Seil eines Henkers um den stiernackigen Hals und drückte ihm die Luft ab.

Emma sah ihm stumm zu. Sie wartete darauf, was noch kommen würde. Versuchte einigermassen locker zu wirken, während sich gleichzeitig ihr Rücken vor innerer Abwehr versteifte.

„Was denkst du dir bloss dabei“, wetterte Frank. „Du weisst, wie wichtig dieser Auftrag ist! Wir verdienen eine Menge Geld damit - auch du, schon vergessen?“ Seine Augenbrauen schossen in die Höhe, sollte wohl Eindruck machen. An einem anderen Tag hätte sie gelacht.

Nicht heute. Nicht an diesem Tag.

Dem Tag eins.

Als Antwort hob Emma ein Mal die Schultern. Das war's schon. Sie hatte bereits im Sitzungszimmer alles gesagt.

Frank kapierte schnell. Aus der Tirade wurde ein Bitten. „Emma, lass uns jetzt nicht einfach so hängen - wir brauchen dich.“ Er ging auf sie zu, um wenigstens die räumliche Distanz etwas zu verringern. Fasste sie an den Armen und versenkte seinen Blick in ihre Augen. Beschwörend hakte er nach: „Wenn du jetzt aus dem Projekt aussteigst, verlieren wir möglicherweise den gesamten Auftrag, denn ohne deine Hilfe schaffen wir die Eingabe nicht fristgerecht.“ Schonungslos appellierte er an ihr ausgeprägtes Pflichtbewusstsein.

„Auch Heuchler müssen sterben, Frank.“ Enttäuscht über seinen erneuten Versuch, sie umzustimmen, stiess Emma ihn von sich. „Aber zugegeben, diese Mitleidstour macht dir so schnell keiner nach, nur … bei mir zieht das nicht.“ Sie fühlte sich verraten.

„Ihr habt euch also gegen mich verschworen und dich hat man zum Fürsprecher dieser Farce ernannt. Was haben sie von dir verlangt – dass du mir die Hölle heissmachst? Mir drohst? Wollt ihr mir die Partnerschaft kündigen? Ist es das, was du mit diesem Tamtam bezweckst?“

„Sei nicht albern, Emma. Niemand will so etwas - aber ja, sie haben mich gebeten, nochmals mit dir zu sprechen. Wärst du an meiner Stelle, würdest du genauso handeln. Paul und Tom wissen, dass wir gut miteinander können. Also hilf mir, gib dir einen Ruck und verschiebe deine privaten Probleme einfach ein paar Wochen nach hinten – mir zuliebe.“

Frank liess sich auf das Sofa fallen. Das schlichte Design des Möbellabels USM dominierte den gesamten Raum. War trotz Franks Gewicht nicht totzukriegen. Der Chromstahl ächzte. Aber das war auch schon alles.

Emma wollte etwas erwidern, doch Frank wischte ihr Vorhaben mit einer schwungvollen Handbewegung und einem hinreissenden Grinsen einfach vom Tisch, stattdessen klopfte er aufmunternd mit der flachen Hand auf das schwarze Leder der freien Sitzfläche neben sich.

Emma tat ihm den Gefallen und setzte sich. Sie versuchte zu erklären: „Ihr habt mir einfach nicht richtig zugehört. Ich bitte nicht darum, ich verlange, dass mein Anliegen ernst genommen wird. Es muss jetzt sein, basta! Deine Behauptung, dass es ohne mich nicht geht, ist einfach lächerlich, und du weisst das. Genauso, wie du weisst, dass ich dich durchschaue.“

Frank verzog das Gesicht.

„Was zum Kuckuck ist eigentlich los mit euch Männern“, schimpfte Emma weiter, allmählich geriet sie in Fahrt. „Denk doch mal nach: Wenn ich jetzt aussteige, vergrössert sich euer Profit um meinen Anteil – und meine Arbeit ist praktisch bereits getan.“

Die Falten um Franks Augen vertieften sich. Er lachte laut auf. „Für ein Weibsbild führst du ein ganz schön lockeres Mundwerk, weisst du das?“

Emma schnitt ihm eine Grimasse. „Akzeptier' es einfach! Es liegt nicht in deiner Macht, mich umzustimmen, meine Entscheidung steht fest. Doch als mein Freund bitte ich dich: Sprich noch mal mit Paul und Tom, erzähl ihnen irgendetwas - aber vor allem, halt sie mir vom Hals!“

Keine Reaktion von Frank.

„Es muss jetzt sein!“

„Okay, ist ja gut, ich habe verstanden. Du kannst also getrost wieder runterkommen von deinem Trip. Was auch immer du dir da eingeworfen hast, lass in Zukunft die Hände davon. Ich erkenne dich ja kaum wieder. Und noch etwas, wenn ich mich für dich starkmachen soll, brauche ich was Handfestes. Irgend so eine obskure, an den Haaren herbeigezogene Geschichte reicht da nicht. Dein momentanes – verzeih mir den Ausdruck - hysterisches Getue kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen.“

Emma überging die chauvinistische Anspielung. Sie würde sich jetzt nicht darüber aufregen, gönnte sich aber einen kurzen Moment, um entnervt die Augen zu schliessen. Als sie sie wieder öffnete, hatte sie einen Entschluss gefasst.

„Also gut.“ Sie atmete tief ein. „Erinnerst du dich an das, was ich dir über meine … Kindheit erzählt habe?“

„Spielst du etwa auf diese Wer-bin-ich-wirklich-Geschichte an?“, fragte er und verfolgte ihr unruhiges Auf und Ab. Sie tigerte zum Fenster und zurück an den Schreibtisch, zum Fenster – an den Schreibtisch … und das, ohne einmal innezuhalten. „Mir wird noch schwindlig“, seufzte er. „Aber was ist jetzt neu an der Geschichte?“ Er gähnte.

Emma beachtete ihn nicht, stattdessen machte sie sich Gedanken über die richtige Wortwahl. Wenn sie Frank nicht klarmachen konnte, wie existenziell wichtig diese Nachforschungen für sie waren, dass ihr Seelenfrieden davon abhing - von der körperlichen Erschöpfung durch chronischen Schlafmangel einmal abgesehen, dann konnte sie sich gleich jedes weitere Wort sparen.

Frank begann zu pfeifen und mit dem Fuss zu wippen, da endlich begann sie zu erzählen. Sie nannte den Albtraum, der sie quälte.

„Was ist das für ein Traum“, unterbrach er sie, „was passiert da?“

„In meinem Traum bin ich ein Kind und ich sitze in einem Flugzeug. Ich blicke aus einem ovalen Fenster, dessen Scheibe milchig weiss beschlagen ist. Wir fliegen über eine weisse Decke aus Zuckerwatte, die lautlos unter dem Flugzeug dahingleitet, als das Ding plötzlich wegsackt und wie ein Stein durch die Wolken fällt. Wir stürzen ab. Ich habe fürchterliche Angst, doch niemand ist da, der sich um mich kümmert, meine Hand hält, mir sagt, dass alles gut wird, oder mich auch nur tröstend anlächelt. Ich kann kaum atmen, so sehr schnürt mir die Angst die Brust zu.“ Emma atmet tief ein, allein die Erinnerung an den schrecklichen Traum bereitet ihr körperliches Unbehagen.

„Irgendwann später …“, fährt sie fort, „sehe ich mich selbst, als kleines Mädchen inmitten rauchender Trümmer stehen. Wie zerstörte Spielsachen liegen Wrackteile verstreut um mich herum und dort, wo das grösste heil gebliebene Stück des Flugzeugs liegt, brennt es lichterloh. Und immer noch sehe ich mich da stehen und weinen, als wäre ich eine Fremde, während ich die Tränen fühlen kann, die dem Mädchen heiss und nass über die Wangen rollen. Die Flammen schlagen immer höher und eine unerträgliche Hitze breitet sich aus. Die Haut an meinen Armen beginnt zu jucken und das Letzte, was ich sehe, ist eine gewaltige, alles zerstörende Explosion. Danach wache ich auf, bin schweissgebadet und mein Bein schmerzt.“ Emma streicht sich mit der Hand über die längst verheilten Narben. Sie kann sie durch den Stoff hindurch fühlen.

Frank räusperte sich. „Scheisse, und so was träumst du jede Nacht?“ Der betroffene Tonfall in seiner Stimme klang echt. „Kein Wunder, dass dein Nervenkostüm nur noch Pudding ist.“

Emma sah ihn an: „Nicht jede Nacht, aber vielleicht begreifst du jetzt, dass ich so nicht weitermachen kann. Mir fehlt einfach die Kraft dazu.“

„Verstehe! Hhmm … Hast du schon mal daran gedacht, einen dieser Psychoheinis aufzusuchen – du weisst schon, einen Seelenklempner?

Emma antwortete nicht gleich. Sie wusste, dass dies nicht einfach eine neuerliche Stichelei war, die Frage war ernst gemeint.

„Daran gedacht habe ich, ja. Zu Anfang jedenfalls, mittlerweile bin ich jedoch davon überzeugt, dass die Träume einen realen Hintergrund haben. Ich habe auch bereits einige Nachforschungen in diese Richtung angestellt. Recherchiert, herumtelefoniert, solche Sachen eben - und weisst du was? Ich bin tatsächlich fündig geworden.“

Frank glotzte sie verständnislos an, als spräche sie plötzlich Mandarin. In diesem einen kurzen Moment wurde ihr klar, dass sie den Gaul von der falschen Seite her aufgezäumt hatte, aber da war es bereits zu spät.

Frank verdrehte die Augen. „Komm schon, Emma, das ist doch verrückt. Du bist verrückt!“ Seine Bestürzung war nicht gespielt. Er konnte nicht fassen, was sie ihm da gerade aufzutischen versuchte. „Weisst du überhaupt, wie sich das anhört? Wie kommst du nur auf solch einen Unsinn? Jeder hat mal Albträume - sogar ich. Doch stelle ich deswegen gleich Nachforschungen an?“ Frank schüttelte den Kopf. Er war fassungslos. „Du ereiferst dich. Träume sind doch nur verworrene Bilder unseres Unterbewusstseins, ohne jeglichen Bezug zur Realität, völlig bedeutungslos. Wach auf, Emma, bevor du dich zu sehr in diese Sache verrennst!“

Emma hielt den Blick auf ihre Schuhe gerichtet. „Bist du endlich fertig?“, fragte sie müde.

„Ja, bin ich. Aber sag mir bitte, dass du das Geschwätz von eben nicht ernst gemeint hast.“ Er durchforstete ihr Gesicht nach einer Bestätigung, einer Bestätigung dessen, dass sie sich nur einen dummen Spass mit ihm erlaubt hatte, doch ihre Mine blieb ungerührt.

Frank seufzte.

„Ich nehme an, den Rest willst du nicht mehr hören?“

Frank gab auf. „Ist ja gut, also erzähl weiter.“

Emma machte es kurz, sie schloss ihren Bericht mit den folgenden Worten: „1979 gab es tatsächlich einen Flugzeugabsturz in der Gegend und die Unglücksmaschine - ein Learjet - stürzte nur etwa einen Kilometer von der Stelle entfernt ab, wo man mich damals gefunden hat.“

„War's das jetzt?“ Frank veränderte seine Sitzhaltung. Das weiche Leder unter ihm knarzte bedrohlich. „Okay, dann beantworte mir mal eine Frage: Was glaubst du, wieso vor dir niemand diese Verbindung hergestellt hat? Die Polizei, zum Beispiel, oder die Flugsicherheit. Korrigiere mich, wenn ich falschliege, aber war es nicht schon damals üblich, dass Passagierlisten geführt werden mussten?“

„Ich weiss es nicht“, antwortete Emma wahrheitsgetreu, „aber ich weiss, worauf du anspielst. Aber du irrst dich. Ich bin nicht verrückt. Ich weiss genau, was ich tue, und ich werde den Grund für dieses Versäumnis, Missverständnis – nenn es, wie du willst - herausfinden und danach …“

„Was danach?“, hakte Frank nach. „Glaubst du wirklich, dass du, nachdem achtundzwanzig Jahre verstrichen sind, noch herausfinden kannst, was damals geschah. Niemand weiss, wie du auf dieses Feld gelangt bist – nicht einmal du selbst. Und wenn – das, was du zu erfahren hoffst, wird die bösen Träume auch nicht verschwinden lassen, weil sie ganz einfach nichts mit deiner Herkunft zu tun haben.“

„Mach dich nicht lustig über mich.“

„Das tue ich nicht, Emma. Ich mache mir bloss Sorgen. Was du da vorhast, macht mir Angst. Es ist … es ist verrückt.“

„Du wiederholst dich.“

Frank hob abwehrend beide Hände, so als wolle er sich vor weiteren Offenbarungen schützen. „Ich kenne dich jetzt seit nunmehr - wie lange - fünfzehn Jahren? Ich durfte deine großartigen Adoptiveltern kennenlernen, auch ein paar von deinen, ähmm … Herrenbekanntschaften sind mir noch präsent, aber habe ich deswegen jemals meine Nase ungebeten in deine Angelegenheiten gesteckt? Nein, das habe ich nicht. Habe ich jemals eine deiner Entscheidungen infrage gestellt? Auch das habe ich nie getan, im Gegenteil, ich habe immer und in jeder Beziehung hinter dir gestanden – was du auch erwarten durftest. Ich habe dich bewundert, deine Arbeit, aber auch deinen Sachverstand. Du bist die beste, talentierteste und innovativste Architektin, der ich im Laufe meiner Karriere begegnet bin – kein Scheiss –, du bist sogar besser als Paul, Tom und ich zusammen, aber das jetzt, das hört sich rein gar nicht nach der vernünftigen Frau an, die ich bis dato besser zu kennen geglaubt hatte als mich selbst.“

Emma wollte etwas sagen, doch Frank winkte ab.

„Lass mich bitte ausreden. Wenn nun aber …“, fuhr er fort, „und das meine ich so, wie ich es sage, also wenn dich diese Sache“, er betonte das Wort „Sache“ mit Nachdruck, „wirklich derart quält, dass offensichtlich sogar dein gesunder Menschenverstand darunter zu leiden beginnt, ist es wohl tatsächlich das Beste, du findest selbst heraus, wie lächerlich dein Vorhaben ist.“

Emma war enttäuscht über seine Reaktion, hatte bei den letzten Sätzen gehofft, dass Frank – obwohl, wenn sie ehrlich zu sich war, sie nicht viel anderes von Frank erwartet hatte.

Frank war kein ignoranter Idiot. Er musste gespürt haben, dass er zu weit gegangen war, denn unvermittelt lenkte er ein.

„Tut mir leid, wenn ich dich gerade enttäuscht habe, aber du kennst mich. Mit diesem esoterischen Zeug kann ich partout nichts anfangen. Aber es ist mir absolut ernst mit dem, was ich gerade sagte: Wenn dich die Sache wirklich so fertigmacht, musst du es wohl oder übel durchziehen.“

Emma versuchte zu lächeln, etwas verkniffen zwar, dennoch, es war eindeutig ein Lächeln.

Beide schwiegen. Es war alles gesagt. Im Hintergrund klatschten fette Regentropfen gegen die geschlossenen Fensterscheiben. Emma fuhr sich über die Vorderseite ihrer Jeans, die noch immer etwas feucht war und den frischen Geruch nach Weichspüler verströmte. Frank hatte nichts begriffen, aber das spielte keine Rolle, ihr Entschluss hatte schon festgestanden, lange bevor sie beide dieses Gespräch geführt hatten.

Frank fuhr sich durch sein dichtes schwarzes Haar. Auch er schien zu spüren, dass da etwas zwischen ihnen stand, das sie regeln mussten. So konnten sie nicht auseinandergehen. Beherzt griff er sich einen der glänzenden roten Äpfel vom Beistelltisch und streckte ihn Emma entgegen, doch sie schüttelte nur stumm den Kopf, und so biss er selbst gespielt herzhaft hinein.

„Schmeckt gut“, meinte er kauend. „Was für eine Sorte ist das?“

Emma griff nach ihrer Jacke. „Es ist wohl besser, ich gehe jetzt.“

„Warte!“ Mühsam erhob er sich vom Sofa. „Es tut mir leid und es war ziemlich vermessen von mir, deine Entscheidung infrage zu stellen - aber versuchen musste ich es, das verstehst du doch.“

Er bewegte sich langsam auf sie zu.

Emma wusste, was jetzt kam. Sie versuchte nicht, sich zu widersetzen – es wäre zwecklos gewesen. Seinen gewaltigen Armen gingen lange Schatten voraus, und ehe sie sichs versah, presste Frank sie heftig gegen seine breite Brust.

„Ich hoffe, du findest wonach du suchst“, flüsterte er zu nah an ihrem Ohr. Sie versuchte zu nicken, was jedoch unmöglich war. Kurz bevor ihr die Luft ausging, löste Frank seine Umklammerung. Er schob sie auf Armeslänge von sich und schenkte ihr ein versöhnliches Lächeln.

Emma atmete tief ein.

Frank ging zur Tür. Dort drehte er sich nochmals um und zwinkerte ihr zu: „Pass auf dich auf, Kleines!“

Emma nickte stumm.

Als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel, schnappte sie sich eilig Jacke und Tasche und nach einem kurzen befreienden Blick in die Runde kehrte sie ihrem bisherigen Leben den Rücken zu.

***

Jack umarmte seinen Freund zur Begrüssung und klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter. Rahuls gequältes Stöhnen überging er dabei geflissentlich.

Ein paar Köpfe zuckten von ihren Zeitungen hoch. Rahul war die ungewollte Aufmerksamkeit peinlich. Er mochte es nicht besonders, im Mittelpunkt allgemeinen Interesses zu stehen, doch seinem Freund Jack waren solche Gefühlsregungen fremd; er tat seine Meinung laut und offen kund, egal wo und wann das war. Anfangs hatte ihn Jacks lautes Wesen irritiert, aber schon bald fing er an, diese etwas gewöhnungsbedürftige Art zu schätzen. Bei Jack wusste man immer, woran man war. Rahul kannte keinen ehrlicheren Typen als ihn. Das konnte manchmal durchaus unbequem sein, trotzdem war ihm Jacks offene Art lieber als das falsche, oberflächliche Getue so mancher Leute, mit denen er zu tun hatte.

„Weisst du“, sagte Jack gerade, „ich freue mich wirklich, dass du dir für diesen Trip Zeit genommen hast. Du siehst nämlich miserabel aus, wenn ich das mal so sagen darf; müde und ich weiss nicht … griesgrämig? Aber lass mal – was dir fehlt, ist etwas Ruhe und Erholung, also haargenau das, was ich dir zu bieten habe.“

„Ruhe und Erholung – bei dir?“, echote Rahul.

„Jaap. Und danach …“ Jack fügte eine kunstvolle Pause ein, „danach, könntest du es tatsächlich schaffen, mit meinem blendenden Aussehen in Konkurrenz zu treten.“

Rahul grinste. „Im Herzen bleibst du für immer ein hitziges Kind. Du hast dich auch kein bisschen verändert seit unserem letzten Treffen. Wie schaffst du es bloss, dir all diesen Quatsch abzukaufen? Du kannst unmöglich ernst meinen, was du da gerade von dir gibst. Du bist vierzig - weisst du, wie alt sich das anhört? Und du bist angezogen wie Indiana Jones und das mitten in der Stadt. Du erwartest doch nicht ernsthaft, dass ich mich dir angleichen möchte.“ Rahul legte sein Gesicht in mitleidige Falten. „Dein Narzissmus ist wirklich und wahrhaftig nicht zu toppen!“

Jack grinste, als hätte man ihn gerade zum neuen Mister Schweiz gewählt. Siegessicher streckte er beide Daumen in die Luft.

„Gott, mit dir stimmt echt was nicht, weisst du das?! Du solltest dich mal sehen.“ Rahul schüttelte den Kopf. „Du weisst wirklich nicht, wieso ich hier bin – stimmt's?“ Jack zog als Antwort die Schultern hoch und machte ein dummes Gesicht. „Ich bin hier, weil sie dich hat sitzen lassen, weil ich dachte, dass es dir dreckig geht, dass du am Boden liegst, zerstört, hoffungslos, nur noch ein bedauernswerter Schatten deiner selbst.“ Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. „Sie hat dich doch nicht etwa wieder zurückgenommen?“

„Oh nein, wo denkst du hin.“ Jack fasste sich ans Kinn, „obwohl … es fällt dem alten Mädchen sicher sehr schwer, diesen Schritt nicht zu tun, schliesslich weiss sie, was sie an mir verloren hat.“

Rahul stöhnte auf.

Jack gab auf: „Okay, Spass beiseite, du hast ja recht. Es hat mich anfangs ganz schön umgehauen, aber die Geschichte mit Eliane hat sich einfach totgelaufen. So gesehen, bietet sich mir jedoch die einmalige Chance, nochmals ganz von vorne zu beginnen. Und zum Auftakt dazu gönnen wir uns jetzt erst mal unseren wohlverdienten Urlaub.“

„Gut, dann lass mal hören: Was sind deine Pläne?“ Rahul zog sich einen Hocker heran, doch Jack hielt ihn zurück.

„Lass uns erst von hier verschwinden und sehen wir zu, dass du deine Sachen verstauen kannst.“

„Gut, aber hast du denn schon eine neue Bleibe?“ Rahul warf einen skeptischen Blick auf Jacks feuchte, zerknitterte Jeans.

Jack registrierte Rahuls Blick. „Oh, schau da einfach nicht hin. Daran ist nur das miese Wetter schuld.“

„Okay, aber dir ist schon klar, dass ich auf keinen Fall mit dir im selben Zimmer hause?“

Jack verdrehte die Augen. „Du bist ein Snob.“ Er wies auf die Reisetasche. „Ist das alles, was du dabeihast?“

„Mehr brauche ich nicht.“ Rahul knetete sich den schmerzenden Nacken - der lange Flug von Delhi nach Zürich hatte strapaziöse Spuren hinterlassen. „Ich bin schliesslich nicht das erste Mal hier. Sogar ich weiss: In der Schweiz gibt es nichts, was man nicht kaufen kann – das stimmt doch? Ausserdem …“, fügte er so beiläufig wie möglich hinzu, „habe ich noch ein paar Sachen in meinem Ferienhaus rumliegen.“

Jack riss vor Verblüffung den Mund auf. „Du hast – was? Ein Ferienhaus? Hier – in meinem Land?“

„Ich dachte, du wüsstest davon? Wir waren oft da, meine Frau und ich.“

„Du bist verheiratet?“ Jack war geschockt.

„War. Sie ist gestorben.“

„Oh, tut mir leid. Wieso hast du mir nie etwas davon erzählt?“

„Ich rede nicht gerne darüber. Ausserdem war das vor unserer Zeit.“ Mehr sagte er nicht.

„Aber das mit dem Ferienhaus, das wenigstens hättest du mir gegenüber erwähnen können“, empörte sich Jack. „Wo …?“

Noch ehe Jack sich inhaltlich näher auf das Haus einschiessen konnte, klemmte Rahul erneut ab. Er hob seine Tasche vom Boden. „Also, was ist? Ich dachte, wir wollten fahren!“

„Nur zu“, brummte Jack und ging den Flur entlang voraus Richtung Parkplatz. Rahul folgte ihm.

Sie standen unter dem Vordach des Hinterausgangs. Ein stetes Rauschen lag in der Luft, vermischt mit dem frischen Geruch des Regens. Der Wagen war hinter dem nassen Vorhang kaum noch auszumachen; wenigstens hatte der Wind etwas nachgelassen.

Jack rannte zum Jeep, Rahul hinterher. Während Rahul sich hastig auf den trockenen Beifahrersitz hievte, versuchte Jack Rahuls Reisetasche irgendwo im Fond in eine Lücke zu quetschen – aber es war hoffnungslos. Obwohl die Tasche nicht sehr gross war, fand sich kein freier Platz. Kurzerhand drückte er sie Rahul in den Schoss. „Hier! Sieht so aus, als müsstest du sie doch bei dir behalten.“

Rahul warf einen Blick über die Schulter auf die überladenen Sitze und den vollgestopften Laderaum dahinter. „Was ist das überhaupt für Zeug. Schläfst du etwa hier drin?“

„Quatsch!“, sagte Jack rasch. „Ich hatte einfach allerhand um die Ohren und noch keine Zeit, die Sachen auszuräumen.“

„Tatsächlich?“ Rahul lehnte sich zurück. Etwas bohrte sich schmerzhaft zwischen seine Schulterblätter. Er griff hinter sich und zog mit spitzen Fingern und indigniert hochgezogener Braue Jacks Trekkingschuhe hervor. Sein Freund hatte sie an den Schnürsenkeln zusammengebunden und um die Nackenstütze gehängt. Er warf sie vor sich in den Fussraum, wo die derben Schuhe neben seinen weichen braunen Lederslippern von Gucci landeten und sich ausnahmen wie arme Verwandte vom Lande.

Rahul Kahn entstammte einer vermögenden Industriellenfamilie. Sein Freund Jack wusste natürlich, dass Rahul gut betucht war, ohne jedoch das wahre Ausmass seines Reichtums zu kennen. Ihre Freundschaft beruhte auf einer gemeinsamen Leidenschaft: Beide waren sie begeisterte Trekking-Fans.

Rahul war nicht der Typ, der mit seinem Geld protzte; im Grunde seines Wesens gehörte er eher der stillen, zurückhaltenden Spezies an. Seinen dunklen Augen haftete eine latente Traurigkeit an, die das dichte schwarze Haar und die eigenwillig gewölbten Augenbrauen verstärkten. Für einen Inder war er sehr hellhäutig, mit klaren, aber leicht unbeweglichen, abweisenden Gesichtszügen. Er hatte markante Lippen, so als wären sie aus Holz geschnitzt, und an den Mundwinkeln sassen kleine zynische Fältchen, die auf einen vielschichtigen Charakter hindeuteten.

„Wieso fährst du nicht über die Seebrücke, wenn du Richtung Basel willst?“, fragte er, als Jack auf die Strasse nach Kriens einbog.

„Keine Chance. Du hast keine Vorstellung davon, was da drüben los ist“, erklärte ihm Jack. „Die halbe Stadt steht unter Wasser. Das Luzern, wie du es kennst, gibt es nicht mehr, wenigstens für die nächste Zeit. Das Reussufer und das gesamte Ufergelände entlang dem Seebecken, die Strassen – alles weg. Da drüben sieht es aus, als ob sich einer an einer Zeitmaschine versucht hätte. Der See hatte sich seine ursprüngliche Form zurückerobert, es ist, als wäre man unvermittelt ins Luzern um das 16. Jahrhundert zurückversetzt worden.“

„Was ist mit den Leuten, die da wohnen, wie kommen die damit klar?“

„Provisorische Holzstege. Das Militär hat sie angelegt. Aber du solltest die Gestalten mal sehen, die wandeln auf den Dingern, als stünden sie unter Drogen. Jedenfalls, der einzige Weg für uns, ist die Umfahrung.“

Jack bog in die Auffahrt zur Autobahn. Der Regen schien kein Ende zu nehmen. Überall war Wasser. Wasser, wohin das Auge reichte. Auf dem erhöhten Strassenbelag der Autobahn sammelte es sich zu gefährlichen, unüberschaubaren Seen und die Sicht betrug gerade mal ein paar Meter. Beide atmeten befreit auf, als sie endlich die Tunneleinfahrt passierten und das laute Trommeln des Wassers auf dem Wagendach abrupt erstarb.

Die doppelspurige Röhre bot mehrfachen Schutz vor dem garstigen Wetter. Aber das Gefühl der Sicherheit war trügerisch. Kaum waren die beiden Männer dem Regen entronnen, beschlugen die Scheiben des Jeeps und die Sicht wurde noch schlechter als zuvor.

Jack wischte mit dem Ärmel seiner Jacke über die Innenseite der Frontscheibe. Ein schmaler, lichter Streifen bot aber nur kurzzeitig etwas mehr Sicht.

„Gütiger Gott. Stell endlich die Lüftung an, man kann ja kaum noch etwas erkennen!“ Rahul warf Jack einen hektischen Blick zu, doch der reagierte nicht einmal, also legte er selbst Hand an. Er drehte und schraubte an den wenigen Armaturen herum, ohne dass etwas geschah. Ein Knopf brach ab.

„Vergiss es!“, meinte Jack. „Deine Anstrengungen sind zwecklos. Die Lüftung hat ihren Geist längst aufgegeben, lange bevor ich dieses Bijou erworben habe. Aber keine Bange, wir kommen schon heil da durch.“

„Ein Traktor hat mehr Komfort als diese alte Karre!“, schimpfte Rahul und liess das abgebrochene Teil unbemerkt in seiner Jackentasche verschwinden. Er begann sich ernsthaft Sorgen zu machen. Wo zum Teufel war der sprichwörtliche Schweizer Perfektionismus geblieben.

PID - Tödliches Erbe

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