Читать книгу PID - Tödliches Erbe - A. C. Risi - Страница 7
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ОглавлениеDie Temperatur in dem schmalen kleinen Schutzraum zwischen der Ost- und Weströhre des Autobahntunnels war mittlerweile unter sechzehn Grad gefallen und sank unerbittlich. Die Kälte drang durch ihre nassen Kleider und biss sie in die unterkühlte Haut, während das unaufhörlich eintretende Wasser sein Übriges tat, um den Schutzraum in ein nasses, kaltes Grab zu verwandeln.
„Dann mal los“, kommandierte Jack, „auf ein Neues. Das Ding sieht stabiler aus, als es ist. Wir schaffen das schon!“ Es sollte aufmunternd klingen.
„Wieso ist die Tür überhaupt verschlossen?“, fragte Rahul.
Jack setzte das Flacheisen erneut an. „Vielleicht ist sie das nicht, der Hebel könnte sich auch einfach nur verzogen haben.“
Rahul hoffte, dass sein Freund recht behielt, und platzierte sein Eisen neben dem von Jack; einhändig war das gar nicht so einfach. Emma half ihm. Gemeinsam mühten sie sich ab, aber der Hebel rührte sich nicht, mit ihm stimmte tatsächlich etwas nicht.
Jack hieb wütend mit seiner Stange dagegen. Der Lärm hallte ohrenbetäubend von den Wänden wider. Jack blieb erfolglos.
„Verdammt! Wie konnte das alles überhaupt passieren?“ Er hielt kurz inne, danach probierten sie es erneut.
Emma stemmte sich gemeinsam mit Rahul gegen das Eisen. „Vermutlich ist was mit dem Nadelwehr“, stöhnte sie ausser Atem. „Es stammt aus dem neunzehnten Jahrhundert und wurde noch aus Holz gefertigt, hat aber bislang gut funktioniert. Durch das Unwetter und die grossflächigen Überschwemmungen hat sich dort bestimmt eine Menge Müll und Treibholz angesammelt. Vielleicht wurde dadurch das Wehr oder ein Teil davon zerstört, oder die Feuerwehr hat Trümmer weggesprengt und das Fiasko damit erst richtig ausgelöst? Bei einer solchen Aktion kann allerhand schiefgehen. Ist das Wehr erst mal beschädigt …?“ Emma zuckte mit den Schultern. „Wir können nur Vermutungen anstellen. Aber was es auch war, was da runtergedonnert ist, es muss genau auf die Autobahnbrücke zwischen dem Sonnenbergtunnel - in dem wir uns jetzt befinden - und dem Reussporttunnel geknallt sein. Was die riesigen Brocken der zerstörten Brücke und das heranstürmende Wasser danach noch angerichtet haben, haben wir ja am eigenen Leib zu spüren bekommen.“
Rahul brach der Schweiss aus bei der Vorstellung, was da rechts und links von ihnen die Röhren entlangdonnerte. Still verfluchte er sein kaputtes Handgelenk, das ihn daran hinderte, richtig zuzupacken. Er war den anderen keine grosse Hilfe, und wenn sie nicht endlich von hier wegkamen …
Emma sprach aus, was Jack nicht mal zu denken gewagt hatte: „Wenn wir Pech haben, bilden sich aus dem Geröll Trichter. Wenn das geschieht - was Gott verhindern möge –, kann das Wasser nicht mehr abfliessen und der Druck …“ Emmas Stimme erstarb. Sie starrte auf die Ausbuchtung in der Stahltür. Jacks und Rahuls Augen folgten ihrem Blick. „Diesem zusätzlichen Druck hält die nie stand.“
„Na ja, das ist nicht gerade das, was ich zu hören gehofft habe …“, Jack verdoppelte seine Anstrengungen, „… aber, ich muss gestehen, es törnt mächtig an.“ Wild hebelte er mit seinem Eisen herum. Er war kein Schisser, beileibe nicht, aber Emmas düstere Prophezeiung trieb ihm den Schweiss auf die Stirn.
Rahul mochte den beiden nicht mehr zuhören. Es war zu deprimierend. Das einzig Gute – wie vertraut sie alle drei bereits miteinander umgingen – als würden sie sich schon seit Jahren kennen. „Achtet mal auf die Tür zum Tunnel“, sagte er. „Wir müssen endlich raus aus dieser Falle.“
Der Spalt zwischen Tür und Schwelle hatte sich weiter vergrössert. Das eindringende Wasser hatte es geschafft, dass sie bereits bis zu den Knien im Nassen standen.
Emma watete quer durch den Raum. Ihre Lippen hatten eine bläuliche Färbung angenommen. An der Tür zum Osttunnel legte sie ihre Hand und ihr Ohr auf das kalte Eisen. Dahinter, an der Innenseite zum Tunnel, vibrierte es mächtig. Hörte sich an wie das Fauchen eines wilden Tieres in Gefangenschaft.
„Geh – bitte – da – weg! Weg von der Tür!“ Rahuls Stimme schwoll bei jedem Wort mehr an. „Ich krieg die Krise, wenn ich dich da stehen sehe. Wenn einer dieser schweren Brocken so richtig dagegenknallt …“ Er schlug mit der flachen Hand auf das Metall der widerborstigen Tür.
Alle erschraken.
„Komm her!“ Jack winkte Emma heran. „Rahul hat recht, ausserdem brauche ich euch beide hier. Du und Rahul, ihr haltet das Eisen hier fest und lasst nicht los, ehe ich es euch sage!“
Emma umklammerte das kalte Eisen, gleich links neben der kräftigen dunklen Hand von Rahul. Seine verletzte rechte steckte in seinem halb geöffneten Hemd. Ihre Blicke trafen sich. Zum ersten Mal sah sie ihn lächeln. Er will mich aufmuntern, dachte sie und für eine atemlose Sekunde vergass sie tatsächlich, wo sie sich befand, dass sie alle in höchster Lebensgefahr schwebten, und sie lächelte zurück.
Jacks lautes Kommando riss sie in die brutale Realität zurück. Sie hatten keine Zeit zu verlieren – nicht mal für ein kleines Lächeln.
„Also, aufgepasst! Wir stemmen uns alle gleichzeitig gegen die Stange, achtet aber darauf, dass ihr nicht abrutscht. Keine neuen Verletzungen – verstanden?“
Emma und Rahul nickten gehorsam.
Jack setzte seine Stange etwas weiter oben an. „Wir schaffen das! Seid ihr soweit?“
Jack begann laut zu zählen. Bei drei drückten sie mit vereinten Kräften die langen Eisenstangen nach unten. Die Tür ächzte in den Angeln und der Hebel bewegte sich tatsächlich eine Winzigkeit nach unten.
Nach zwei weiteren Versuchen hatten sie es geschafft: Der Hebel liess sich mühelos bewegen. Gemeinsam zogen sie die schwere Bunkertür ganz auf. Das Wasser des Schutzraums floss ins dunkle Treppenhaus. Der Mief aus abgestandener Luft und feuchtem Stein schlug ihnen entgegen. Graue Stufen führten nach oben, andere nach unten in die dunkle Tiefe.
Rahul schloss die Augen. „Langsam bekomme ich ein mulmiges Gefühl hier unten.“
„Ja, und jetzt stell dir mal den Ernstfall vor“, sagte Emma. „Du, hier unten eingepfercht wie eine Sardine in der Blechbüchse, mit Tausenden von Hoffnungslosen – jeder kurz davor, durchzudrehen - und das ohne jede Garantie, dass die Welt da oben, so wie du sie kennst, überhaupt noch existiert, nachdem die Bombe eingeschlagen hat.“
Rahul schluckte leer. Er wollte etwas erwidern, aber Jack kam ihm zuvor. „Besser, wir hauen ab von hier, solange wir noch bei Verstand sind. Ich weiss schon jetzt nicht mehr, was mir mehr Sorgen bereitet: das Wasser, das uns bis zum Hals steht, oder die Weltuntergangsfantasien unserer Frau Architektin“, sagte er mit einem Kopfschütteln.
„Sorry, aber solche Gedanken zwingen sich mir hier geradezu auf.“ Ihre rechte Augenbraue schoss in die Höhe. „Vielleicht, weil wir uns in einer ähnlichen Notlage befinden?“
Jack atmete schwer aus.
„Okay.“ Sie wies zur Tür. „Offen lassen oder verschliessen?“
Jack war sich nicht schlüssig: „Wenn wir die Tür jetzt schliessen, gibt es kein Zurück. Gegen den Druck des Wassers bekommen wir sie nie wieder auf.“
Ein schauerliches Dröhnen von sich verbiegendem Metall liess sie alle herumfahren. Die Tür zur Oströhre krängte bedrohlich in den Zargen. Etwas Schweres, Grosses drückte von aussen dagegen, eine dicke Beule entstand und die Tür verzog sich zu einer grotesken Form. Wasserfontänen spritzten gleichzeitig durch mehrere Lecks in den Schutzraum.
„Sie gibt nach. Los, weg hier!“ Rahul schubste Emma über die hohe Schwelle ins Treppenhaus der Kaverne.“
Das rasend schnell nachfliessende Wasser zerrte an ihren Beinen und stürzte über die Treppe nach unten in die Tiefe. Einmal im Treppenhaus, konnten sie kaum noch etwas erkennen. Der trübe Schein der Notbeleuchtung spendete nur ein begrenztes Sichtfeld, warf dafür aber umso längere Schatten.
Emma riskierte einen Blick über das Treppengeländer nach unten. Aber da unten war nur Dunkelheit und das beunruhigende Rauschen von noch mehr Wasser. Emma zog sich Rahuls Jacke noch etwas enger um die Schultern.
„Wir sollten uns beeilen.“ Jack riss Emma vom Geländer weg. Er blickte sich um. Neben der Tür entdeckte er einen dreissig mal fünfzig Zentimeter grossen grünen Kasten an der Wand. Eine einsame Taschenlampe und ein Vierkantschlüssel waren darin, mehr gab der Kasten nicht her. Vorsorglich steckte er beides ein. „Dann mal los, ab nach oben!“ Er schob Emma voran. „Unsere Frau Architektin übernimmt ab jetzt die Führung.“
Auf jeder Etage ging eine seitliche Türe ab. Stockwerk um Stockwerk legten sie so zwischen sich und das steigende Wasser. Sie waren fünf Stockwerke aufgestiegen, dann endete das Treppenhaus. Über ihnen war nur noch eine unverputzte Betondecke. Auf diesem letzten Absatz befanden sich allerdings zwei Türen.
Die beiden Männer lasen die Antwort in Emmas Gesicht.
„Na dann“, sagte Jack, „schlage ich vor, wir fangen ganz einfach mit der hier an.“ Er zog den Vierkantschlüssel aus der Hosentasche und probierte ihn an der Tür rechts von ihnen aus. Er passte. Die Tür schwang auf. Vor ihnen war nichts als Dunkelheit - keine Notbeleuchtung. Jack liess die Taschenlampe aufflammen. Der gelbliche Lichtstrahl drang tief in den Betonstollen hinein und verlor sich in der Ferne. Auf seiner linken Seite verlief ein gewaltiges, mannshohes Rohr die Wand entlang. Verschiedene kleinere Rohre und etliche graue Kästen säumten die rechte Wand des Stollens, so weit der Lichtstrahl reichte.
Jack schritt mit der Taschenlampe voran. Die anderen folgten im Gänsemarsch. Sie hatten ungefähr zweihundertfünfzig Meter zurückgelegt, als sie schliesslich am Stollenende auf eine weitere Tür stiessen. Jack war schon fast wieder der Alte. Die Aussicht, schon bald heil hier rauszukommen, beflügelte seinen Charme. Gestenreich zückte er denselben Schlüssel hervor, drehte und wendete ihn wie ein Magier im Licht seiner Stablampe vor dem alles entscheidenden Trick.
Rahul beendete das Theater. Er verpasste Jack mit seinem Ellbogen einen empfindlichen Knuff in die Rippen. „Jetzt mach schon!“
Jack stülpte ihn über die Muffe. Er passte. „Na also, wir reiten auf einer Glückssträhne, ist zur Abwechslung mal was anderes.“ Er wollte gerade den Schlüssel drehen, als Rahuls Hand von hinten neben seinem Kopf vorbeischoss und laut gegen das Metall klatschte.
„Spinnst du?!“, Jack machte einen erschrockenen Satz zur Seite. „Willst du, dass ich mich vor der Lady nass mache?“
Emma grinste.
„Seid mal still! Hört ihr das nicht?“ Rahul schob Jack vollends zur Seite und trat dichter an die Tür. Er presste sein Ohr gegen das Metall. Er konnte es jetzt ganz deutlich hören. „Es hört sich nicht nach Wasser an“, sagte er, „aber was es auch ist, es verursacht mir eine Gänsehaut. Spürt ihr die Vibration?“
Emma und Jack hielten den Atem an. Auch sie hörten es, oder besser, fühlten es. Ein Bass, aber mit gleichbleibendem Rhythmus.
Jack sagte: „Ich mache jetzt auf. Wir kommen nicht darum herum, wenn wir hier raus wollen, müssen wir das Risiko eingehen. Was meint unsere Frau Architektin?“
„Ich weiss nicht. Wenn das nicht der Versorgungstunnel ist …? Allerdings ist mir vorhin schon aufgefallen, dass etwas nicht stimmen kann. Ich vermisse die Steigung. Wir sind aber nur geradeaus gegangen.“
Jack starrte sie weiterhin an. „Und?“ Er wartete noch immer auf ihr Okay.
„Ja“, sagte Emma und nickte. „Mach auf, Wasser kann's nicht sein. Dafür sind wir zu hoch.“
„Also, seid ihr bereit? Ich öffne jetzt diese Tür – komme, was wolle.“ Jack drehte den klobigen Schlüssel gegen den Uhrzeigersinn. Rahul und Emma schauten ihm dabei zu – und hielten den Atem an.
***
Der Ausblick vom Wohnzimmerfenster bot unbegrenzte Sicht auf den Zürichsee und die fernen Gipfel der dahinterliegenden Bergkette.
Der Mann stand als reglose Silhouette hinter der geschlossenen Glasfront und starrte in Gedanken versunken durch das weisse Glas hinaus in den warmen Regen. Wassertropfen brachten die blaugraue, vom Wind aufgeraute Oberfläche des Sees zusätzlich zum Kochen. Kräuselnde Wellenlinien trafen am Ufer auf lange schlanke Halme wiegenden Schilfs und bildeten kleine quirlige Wirbel, die sich gierig über das grasbewachsene Ufergelände hermachten.
Der Regen hatte etwas nachgelassen – aber die dichten schwarzen Wolken formierten sich bereits neu und versprachen nichts Gutes.
Der Mann kehrte der Natur den Rücken, stattdessen liebkoste er nun mit den Augen die präzise Reproduktion eines Gemäldes von Salvador Dalí. Das Bild Les roses sanglantes, ein Werk des Künstlers aus den Dreissigerjahren, stellt das Bildnis einer Frau mit abgewandtem Kopf dar, deren Unterleib, mit Rosenblüten übersät, sich wie Blut über ihre Schenkel ergiesst. Wann immer er das Gemälde betrachtete, überwältigten ihn die unterschiedlichsten Gefühle. Er hatte das Bild in einem Kunstband über das Leben und Wirken des Künstlers entdeckt. Als er es zum ersten Mal sah, war ihm sofort klar gewesen, dass er es besitzen musste. Etwas an dem Bild hatte ihn zutiefst berührt. Etwas, das ihn niemals vergessen liess, was geschehen war.
Aber das Gemälde blieb unerreichbar für ihn. Es lag nicht am Geld. Das Problem war andersartig. Das Gemälde war Teil einer Privatsammlung in Genf. Die Leute, denen es gehörte, dachten nicht daran, es zu veräussern. Immerhin hatte man ihm gestattet, eine Reproduktion anfertigen zu lassen, und diese - fünfundsiebzig Mal vierundsechzig Zentimeter grosse - originalgetreue Kopie hing nun vor ihm.
Er fühlte sich müde. Seine Stimmung entsprach der tristen Atmosphäre ausserhalb seines puristisch eingerichteten Wohnzimmers. Aber diese Stimmung konnte ebenso schnell auch wieder umschlagen. Er verglich sein Innerstes gerne mit dem Äusseren eines Chamäleons. Nach aussen war ihm nichts anzumerken, denn er hatte sich eine prächtige Fassade aufgebaut, eine Maske, die ihn schützte. Tatsächlich gab es aber ein paar wenige Menschen, die über ihn Bescheid wussten, über ihn, seine unberechenbaren Ausbrüche, und sie kannten seine Vergangenheit. Um diese wenigen kümmerte er sich bereits.
Auch sein Haus gab nichts von seinem Besitzer preis. Der weitläufige Raum beherbergte nur ein paar wenige, ganz exquisite Möbelstücke, die aber, jedes für sich genommen - natürlich am perfekten Platz -, die ganze Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zogen. Obwohl alle Zimmer im Haus zum Wasser hin ausgerichtet waren, blieb das Wohnzimmer der zentrale Punkt, der eigentliche Magnet des Hauses. Die hohen, absichtlich trist gehaltenen Betonwände standen in starkem Kontrast zur farbigen Natur hinter den gewaltigen Glasfronten. Der Raum selbst wirkte kühl, doch in Symbiose mit der atmenden Natur wurde er zu einem Ort der Besinnlichkeit. Hier gelang es ihm immer wieder, seine angestauten Aggressionen abzubauen. Den Hass nicht zu fühlen. Wenn auch nur für kurze Zeit.
Er riss sich von dem Anblick des Bildes los und trat an den gewaltigen Eichentisch mitten im Raum, einem knorrigen Stück Holz, im Alter erstarrt und nun hart und glänzend wie Stein. Auf seiner glatten Oberfläche lag ein Foto. Er griff danach. Gelassen betrachtete er die Momentaufnahme des alten Mannes.
„Du bist der Nächste“, flüsterte er. Der Hauch seines Atems überzog die matt kolorierte Oberfläche des Bildes. Niemand war da, der ihn belauschte, dennoch führte er seinen Monolog leise.
Mit einem verächtlichen Schnippen der Finger beförderte er die Aufnahme zurück auf den Tisch. Er brauchte das Bild nicht länger. Das Gesicht darauf hatte sich ihm längst eingeprägt und glühte nun hell in seinem genialen Hirn; dort würde es brennen, so lange brennen, bis er seinen Auftrag erledigt hatte. Die alten Männer verdienten zu sterben, denn sie hatten kläglich versagt, und er sorgte dafür, dass sie bezahlten. Sie alle. Er war fast am Ziel.
Es war die Gier nach Macht, Geld und Anerkennung, die sie getrieben hatte. Sie hatten Gottes höchste Schöpfung geschändet, dem Wesen der Natur zuwidergehandelt. Ihre blasphemische Schöpfung, aber auch die Übeltäter selbst mussten vollständig ausgemerzt werden und er war der Auserwählte, der diese Gotteslästerung ein für allemal ungeschehen machen würde.
***
Jack riss den Kopf zurück, pfiff, weil er überrascht war. Stechender Abgasgestank prallte ihm entgegen und frass sich wie dampfende Säure durch die empfindlichen Schleimhäute seiner Nase.
Emma beugte sich vor, schielte vorsichtig über Jacks Schulter hinweg. Ihre Augen saugten die Monstrosität dieses Nichts in sich auf, versuchten vergeblich zu erfassen, was sie da sah; ein gigantischer, leerer Raum. Ein Nichts, das sich in alle Richtungen ausdehnte und ihr ein sehr, sehr ungutes Gefühl vermittelte. Sie stand in der gewölbten Wand des grössten Silos, das sie je zu Gesicht bekommen hatte - eine Ameise im Innern eines hohlen Baumstammes.
Ein metallener Steg führte in luftiger Höhe waagrecht in die Leere hinein. Rahul, der etwas seitlich hinter Emma stand, drängte ungeduldig nach. Dabei schob er sie vor sich her auf den Gittersteg hinaus. Das schmale, in dem riesigen Raum äusserst fragil wirkende Gitter erzitterte unter seinen forschen Schritten, wobei er Emma immer weiter vor sich in den freien Raum hinein drängte, auf die kleine Plattform zu, in deren Mitte Emma sich schliesslich atemlos am Geländer festgeklammerte.
„Sieh mal, da unten!“, rief Rahul. Tief unter ihnen schwappte eine schwarze Brühe gegen den Pfeiler, auf dem sie standen. „Man kann von hier aus erkennen, dass der Pegel ansteigt.“
Emma wollte nicht sehen, sie fühlte sich elend. Sie war in Bewegungslosigkeit erstarrt und sie wusste, sie würde sich nie wieder bewegen können. Ihr Herz raste. Die panische Angst zu fallen wurde übermächtig und schnürte ihr die Brust zu. Sie atmete flach, bekam kaum noch Luft. Ihre Handflächen fühlten sich trocken an wie Sandpapier und die Finger waren Schraubzwingen, die das kalte Geländer zu verbiegen drohten.
Sie hasste diesen Zustand und sie schämte sich dafür, aber sie kam nicht dagegen an. Sie lebte damit - schon immer.
„Stimmt was nicht?“ Rahul sah sie besorgt an.
„Oh, nicht der Rede wert“, antwortete sie. „Ich kann mich bloss nicht mehr bewegen.“
„Wow! Du leidest unter Akrophobie“, rief Jack ungläubig.
„Was ist das?“, fragte Rahul.
„Sie hat Höhenangst.“
„Es ist alles in Ordnung. Ich krieg das hin – wirklich.“
„Heiliger Bimbam, du bist Architektin, wie vereinbarst du das mit deinem Beruf? Du betreust doch bestimmt auch Baustellen?“
„Ich komme klar damit. Ende und aus.“
„Jetzt gerade sieht es aber gar nicht danach aus.“
„Jack, halt endlich den Mund.“ Rahul hatte genug gesehen. „Verschwinden wir lieber von hier. Das ist eine Sackgasse. Wir müssen zurück.“
Emma legte den Kopf in den Nacken. „Da oben ist der Grund für das unheimliche Geräusch“, sagte sie. Ein gigantischer Propeller drehte geräuschvoll seine Runden. Wuusch, wuusch, wuusch. „Wir sind im Abluftkanal gelandet.“ Ein unverzeihlicher Fehler. „Wieso habe ich nicht daran gedacht? Die verpestete Luft aus den Autobahnröhren wird angesaugt und durch dieses Silo nach oben und nach draussen gerissen.“
Jack wies auf eine schmale Wartungsleiter, die gleich neben dem Steg an der Innenwand des Silos angebracht war. „Was ist mit der Leiter da? Die führt direkt zu dem Riesenföhn da oben. Wieso klettern wir nicht einfach da hoch und drücken uns an dem Propellerchen vorbei. Wenn wir die Rotorenblättern hinter uns haben, sind wir draussen.“
„Das sieht nicht sehr vielversprechend aus“, wandte Rahul zögernd ein. „Was meinst du?“
„Wenn Jack es schafft, das Ding da oben zum Stillstand zu bringen … okay, aber leider sind wir hier nicht in einem Film mit Indiana Jones. Da ein Stöckchen dazwischen zu klemmen bringt gar nichts. An diesem Ding kommt keiner vorbei – jedenfalls nicht in einem Stück.“
„Ich könnte es doch wenigstens mal versuchen“, sagte Jack. „Der Abstand zwischen den Rotorenblättern ist riesig; ausserdem sieht es nicht danach aus, als würde sich das Ding wirklich schnell drehen. Es macht auf mich einen eher trägen Eindruck.“
„Und was machst du, wenn er plötzlich schneller wird?“
„Weisst du denn, dass das passiert?“
„Nein“, antwortete Emma wahrheitsgetreu, „aber ich kann es mir durchaus vorstellen, also lass uns lieber von hier verschwinden.“
Aber Jack hatte sich bereits entschieden. Wild entschlossen griff er in die Sprossen. Rahul wollte ihm folgen, doch Emma hielt ihn am Ärmel zurück. Wortlos wies sie auf seine verletzte Hand. Rahul unterdrückte einen Fluch.
„Ist alles okay bei dir?“, rief Rahul nach oben.
Jack hielt inne und blickte über seine Schulter nach unten. Er hing in schwindelerregender Höhe und schrie ihnen etwas zu, aber Rahul und auch Emma verstanden kein Wort; der gewaltige Sog des Riesenrotors riss Jack die Silben von den Lippen, noch ehe sie seinen Mund vollständig verlassen hatten. Rahul wäre ihm lieber gefolgt, es behagte ihm ganz und gar nicht, untätig hier unten herumzustehen, während Jack das alleinige Risiko trug.
Da passierte es.
Jack rutschte mit einem Fuss von der Sprosse. Seine linke Hand griff ins Leere. Mit dem Rücken landete er an der Silowand. Der Kampf war im vollen Gange. Rahul stockte der Atem. Tatenlos mussten er und Emma mit ansehen, wie Jack versuchte seine Hand wieder an die Leiter zu bekommen.
Vergeblich. Der Sog so nah am Propeller war mörderisch. Jeder Versuch, sich von der Wand abzustossen, wurde sofort wieder zunichtegemacht. Jacks Körper knallte immer wieder hart an die Wand. Seine Kräfte begannen zu erlahmen.
Emma hatte sich allein von der Mitte des Silos bis zu Rahul zurückgekämpft, der unten an der Leiter mit weit zurückgelegtem Kopf verharrte. Jack hing an einem Arm hilflos neben der Leiter. Emmas Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Lass nicht los, flehte sie im Stillen. Reiss dich zusammen, du schaffst das.
Rahul empfand in etwa die gleichen Ängste. Mit einem einzigen wichtigen Unterschied. Sie versetzten ihn in Rage. „Schnapp dir endlich die verdammte Sprosse!“, schrie er seinem Freund zu. Er musste schreien, er drohte sonst verrückt zu werden. „Reiss dich gefälligst zusammen, du Weichei. Wehe, du lässt uns hier unten im Stich!“
Emma erschrak über die Wildheit in Rahuls Stimme. Dieser Zorn, diese Wut, das war nicht gespielt, aber genau diese Rage verlieh seinen Worten den entscheidenden Nachdruck. Der Sog des Propellers riss Rahuls Worte nach oben. Sie sah, wie Jack gehorsam einen neuen Versuch startete - und beinahe hätte er es auch geschafft. Seine Hand griff aber erneut ins Leere. Keine Energie für den überlebensnotwendigen Schwung.
Erneut feuerte Rahul ihn an, und diesmal nicht als Einziger.
Als Jack die Sprosse endlich zu fassen bekam, schlug Rahul seine gesunde Hand klatschend auf die Reling „Ja!“, entfuhr es ihm. „Ich wusste doch, dass er das schafft.“ Die Erleichterung war ihm anzusehen. Er schenkte Emma sein breitestes Grinsen und drückte sie spontan an sich. Der Steg wankte und ihr Herz machte einen Satz. Die luftige Höhe war nicht schuld daran. Als er sie wieder losliess, trat sie schnell zurück in den Stollen, im Gesicht eine verlegene Röte.
Jack war auf dem Weg nach unten. Ein paar Minuten später stand er wieder neben seinem Freund auf dem fragilen Steg – ein breites Grinsen im Gesicht. Von der Anstrengung war ihm kaum noch was anzusehen.
„Du bist wirklich nicht mehr zu retten“, schimpfte Rahul. „Deine Sturheit hätte dich eben fast das Leben gekostet und deinem Grinsen nach zu urteilen, bist du auch nicht ein kleines bisschen klüger geworden. Es war also auch noch sinnlos.“
„Zugegeben, es war vielleicht ein bisschen gruselig da oben, aber jetzt wissen wir wenigstens, dass unsere Emma recht hatte - nicht wahr?“ Er zwinkerte ihr zu.
Emma verdrehte die Augen. „Dann führ dir das aber bitte vor Augen, wenn du wieder mal mit dem Kopf durch die Wand willst.“
„Ich habe es registriert.“ Jack drückte sich an Emma vorbei. Rahul bildete den Schluss und zog die Tür hinter sich zu. Augenblicklich herrschte wohltuende Stille.
Endlich zurück im Treppenhaus. Jack machte sich sofort an der zweiten Tür zu schaffen. „Die lässt sich mit dem Ding hier nicht öffnen“, er hob den Vierkantschlüssel in die Luft.
Emma zögerte, es ihnen zu sagen. Aber irgendwie musste sie es schnell hinter sich bringen: „Es tut mir leid, aber wenn der Zulieferstollen nicht von hier oben abgeht, dann … keine Ahnung, dann müssen wir wieder runter.“
Jack explodierte. „Was?! Wir sollen nochmals da runter? Wieso? Da ist schliesslich noch eine Tür.“
„Ja, aber wir wissen nicht mit Sicherheit, von welcher Etage der Stollen abgeht. Deshalb müssen wir mit der Suche unten anfangen“, sagte Emma.
„Das kapier ich nicht. Wieso unten, wieso nicht gleich hier? Man sollte doch meinen, dass so ein Zugangsstollen so nah wie möglich an der Erdoberfläche ist.“ Jack war irritiert.
„Bedenke, wir sind hier mitten in der Stadt, mit unzähligen Wasserleitungen“, sagte Emma. „Ausserdem ist der Zugang ziemlich weit von der Kaverne entfernt.“
„Das klingt logisch“, sagte Rahul. Ausserdem, wenn wir mit den verschlossenen Türen zu viel Zeit verlieren, während wir uns von oben nach unten vorarbeiten müssen, kommen wir womöglich nicht mehr rechtzeitig an die unteren Stockwerke heran. Das Wasser steigt noch immer. Wir müssen wieder runter!“
Jack warf einen Blick über das Geländer und folgte dem Lichtstrahl der Stablampe in die Tiefe. Der Schein traf auf unruhigen Grund. Da unten lauerte der gurgelnde, nasse Tod; wartete nur auf die Gelegenheit. „Und wir haben wirklich keine andere Wahl?“
Emma schüttelte den Kopf.
„Dann aber gleich“, sagte er und setzte sich in Bewegung.
Emma folgte ihm. Rahul bildete den Schluss. Sie versuchten sich an allen Türen, doch erst im dritten Untergeschoss hatten sie unverhofft Glück; eine der Türen gab nach. Während Jack neugierig mit der Taschenlampe den langen Korridor hinter der Tür ausleuchtete, beobachtete Rahul im Treppenhaus beunruhigt, wie schnell der Wasserpegel anstieg. Dass sie vom dem Sicherheitsraum losgegangen waren, lag höchstens eine halbe Stunde zurück. In der Zwischenzeit war das Wasser aber bis zum zweiten Untergeschoss angestiegen. Alles, was unter der Trasse der Autobahnröhren lag - also die beiden zusätzlichen Stockwerke darunter -, war überflutet. Das Wasser schoss jetzt immer schneller durch die offene Tür des Vorraums ins Treppenhaus, konnte aber nicht mehr ablaufen. Von der Tür zur Oströhre des Tunnels, durch die sie sich in den Schutzraum gerettet hatten, war nicht mehr viel zu sehen.
„Ich muss da nochmals runter“, sagte er und war auch schon weg.
„Was tust du denn da?“, rief Emma. Für sich dachte sie, ich drehe gleich durch. Die beiden Typen sind nicht ganz dicht. „Komm zurück!“, versuchte sie es noch mal, aber Rahul stieg unbeirrt weiter die Treppe hinunter.
„Ich muss die Tür schliessen.“
Jack machte Anstalten, seinem Freund zu folgen. Emma trat ihm entschlossen in den Weg. „Seid ihr jetzt beide verrückt geworden? Wir können hier rein“, sie wies auf die offene Tür.
Jack schob sie zur Seite, ignorierte ihre Proteste. „Rahul weiss schon, was er tut. Er verschafft uns nur mehr Zeit. Zeit, die wir dringend gebrauchen können. Die Tür zum Vorraum muss geschlossen werden.“
Emma gab auf. Sie schlüpfte aus Rahuls Jacke und legte sie über das Geländer. Dann folgte sie den beiden die Treppe hinunter ins eisige, brusttiefe Wasser. Jack mit seinen eins neunzig kam noch am besten voran. Er und Rahul zogen mit aller Kraft an der Bunkertür, kämpften gegen die Schwerelosigkeit im Wasser an.
„Seid ihr sicher, dass das eine gute Idee ist?“
„Ich weiss nicht, ob die Idee gut ist“, antwortete Rahul unter Keuchen, „aber ich kann dir prophezeien, was passiert, wenn wir das jetzt nicht tun.“ Er wies in den Sicherheitsraum. Das, was von der Tür über der Wassergrenze noch zu sehen war, liess nichts Gutes ahnen. Sie war stark verzogen.
„Du hattest vermutlich recht mit deiner Theorie: Die Trümmer verhindern, dass das Wasser abfliesst. Der Druck in der Röhre steigt dadurch weiter an. Wenn die Tür da draussen nachgibt – und das wird sie –, hält uns diese hier wenigstens das Wasser aus dem Tunnel fern.“
„Okay.“ Emma reichte das Wasser schon bis ans Kinn. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen.
Vereint stemmten sie sich erneut gegen die Tür. Jack bot vollen Körpereinsatz, seine Oberarmmuskulatur brannte wie Feuer, dennoch liess sich die Tür nicht mehr schliessen. „Das war's dann, verschwinden wir von hier.“
***
Keiner von den dreien hatte auch nur einen Moment daran gezweifelt, dass das Schlimmste hinter ihnen lag, als sie den Sicherheitsraum erreicht hatten. Wie man sich doch täuschen konnte. Wasser hatte offenbar die schlechte Angewohnheit, sich nicht an gängige Regeln zu halten. Sie hatten das verheerende Ausmass und die zerstörerische Kraft der Katastrophe unterschätzt - das Schreckensszenario war immer noch Wirklichkeit.
„Was zum Teufel …?“ Rahul blickte verwirrt um sich. Hunderte Kisten und Kartons stapelten sich an den farbigen Wänden entlang des Korridors bis unter die Decke. Der lange Flur und auch die seitlich abgehenden Räume waren vollgestopft mit Material. Bettgestelle, wo man auch hinsah – die meisten zerlegt, noch in der Originalverpackung.
„Denk an die vielen Menschen“, sagte Emma. „Pritschen und Trennwände für zwanzigtausend Leute - die mussten auf die verschiedenen Stockwerke verteilt werden. Die Deckenkonstruktionen hätten dem Gewicht sonst nicht standgehalten.“
Jack riss die Ecke eines der Kartons auf, griff hinein und holte eine fünf Kilogramm schwere Konserve heraus. Überlebensnahrung, stand auf dem nichtssagenden weissen Etikett. „Wenigstens verhungern werden wir hier unten nicht.“
„Ich bezweifle, dass dir das schmecken würde.“ Emma zwängte sich an einem Stapel Kisten vorbei und öffnete die nächste Tür.
„Wenn du dich da mal nur nicht täuschst.“ Rahul grinste und linste ihr über die Schulter. „Ist das ein Operationssaal?“, rief er überrascht.
„Ja, und das bedeutet, wir sind im Sanitätstrakt. Dieser Bereich ist in zwei Stockwerke aufgeteilt. Demnach müsste am Ende des Flurs ein Bettenaufzug sein.“ Darauf steuerte sie zu.
Emma drückte auf den Knopf. Der Aufzug setzte sich ächzend und unter lautem Rumpeln in Bewegung.
„Können wir es wirklich wagen, uns diesem antiken Ding anzuvertrauen?“ Rahuls klang besorgt. Ihm behagte der Gedanke gar nicht, in eine mit Notstrom betriebene Kiste zu steigen, während ihnen das Wasser von unten folgte.
Die Türen glitten auf, begleitet von dem Geräusch eines verrosteten Sägeblattes.
Rahul zögerte noch. In diesem Moment hörten sie den Knall. Ihre Köpfe flogen herum. Drei Augenpaare starrten den Korridor entlang zum Eingang ins Treppenhaus.
„Die Türen sind geborsten. Rein mit euch!“, befahl Jack. „Jetzt gibt es kein Zurück mehr.“
Rahul hielt die Luft an, als sich der Aufzug langsam in Bewegung setzte, und atmete erst wieder aus, als der Lift ein Stockwerk höher anhielt.
Die Türen glitten zur Seite.
Emma trat als Erste auf den Flur hinaus. Der gleiche lange Flur, das gleiche Chaos. Hatte der Lift sich überhaupt bewegt?
„Hier! Seht mal!“ Jacks Ruf riss sie aus ihrer Erstarrung. Neben dem Aufzug ging ein zweiter, kurzer Flur ab.
Emma atmete erleichtert auf. Auf ihrem Gesicht erschien ein befreites Grinsen. „Und da ist auch die Schleuse zum Materialtunnel. Der einzige Zugang von aussen in die Kaverne.“
Jack entriegelte die Schleusentür. Vor ihnen erstreckte sich der nach oben ansteigende, schon ziemlich marode Betriebsstollen. Da, wo der Beton ausgebrochen war, tropfte Wasser von der Decke und benetzte ihre ungeschützten Köpfe. Erschöpft, aber erleichtert rannten sie den halbrunden, ungefähr drei Meter breiten und ebenso hohen Tunnel hoch. Die rauen felsigen Wände waren übersät mit aufgemalten gelben Strichen; aufgeteilt in jeweils vier Senkrechte und eine Diagonale.
„Haben die hier drin Karten gespielt? Wie viele sind das wohl?“, fragte Jack.
„Zwanzigtausend.“ Emma zitterte vor Kälte. Die Kleider klebten ihr nass und klamm am Körper. Sie versuchte nicht mit den Zähnen zu klappern, aber es war zwecklos. So kurz vor dem Ziel fiel ihre Abwehr in sich zusammen.
„Oh, verstehe! Sie haben Symbolcharakter.“
„Du bist ja ein ganz Schlauer!“
„Genau.“ Jack legte ihr, während sie weiter den Stollen hocheilten, einen Arm um die Schulter und zog sie an sich. „Gott, du schlotterst ja richtig.“ Er rieb ihr mit der Handfläche wärmend den Oberarm, bis das unkontrollierte Zittern etwas nachliess.
Emma spürte, dass Rahul sie beide beobachtete.
Nach ungefähr dreihundert Metern hatten sie das vergitterte Ende des Stollens erreicht. Emma befreite sich aus Jacks Arm. Jetzt, da sie ihr Ziel erreicht hatten, war ihr die legere Vertrautheit etwas peinlich, schliesslich kannte sie die beiden Männer gerade mal seit ein paar Stunden.
Jack krallte seine Finger in das Geflecht des Gitters und rüttelte daran. Das Tor schepperte laut in den Angeln, gab aber nicht nach, sosehr er sich auch mühte. Er versuchte etwas von der Umgebung zu erkennen, aber dichtes Gebüsch versperrte ihm die Sicht. Das Einzige, das er hörte, war der Regen und das Rascheln von Blättern im Wind.
Rahul hob die Hand. Emma und Jack hörten es jetzt auch. Da war noch etwas: Stimmen. Stimmen und Schritte, die näher kamen, das schmatzende, saugende Geräusch von Stiefeln auf sumpfigem Boden.
Der Blättervorhang vor dem Gitter teilte sich und der behelmte Kopf eines Feuerwehrmannes tauchte auf. Der Mann starrte verblüfft auf die drei schmutzigen und völlig durchnässten Gestalten dahinter.