Читать книгу Liebe auf der Station - 4 Arztromane: Liebe und Schicksal Großband 9/2021 - A. F. Morland - Страница 32
25. Kapitel
ОглавлениеOliver Wiechert riss entsetzt die Augen auf. „Sandra!“, brüllte er. Beinahe hätte er den Halt verloren und wäre ebenfalls abgestürzt. „O mein Gott!“
Wie ein Stein war Sandra an ihm vorbeigesaust, und das dumpfe Aufprallgeräusch, das gleich danach folgte, zerriss ihm fast das Herz.
„O nein …! Sandra! O Himmel …! Karsten! Sandra ist abgestürzt!“
Hastig kletterten sie zu der Freundin hinunter. Angst und Panik verzerrten Olivers Gesicht. Er rutschte mit dem linken Fuß ab, hielt sich mit beiden Händen an einer Felsnase fest, schürfte sich die Handrücken auf, doch das spürte er nicht. Der Schmerz, den die Sorge um Sandra in ihm freigesetzt hatte, war viel größer. „Sandra!“, stieß er krächzend hervor.
Julian Krautmann war auch schwer geschockt. Er hatte befürchtet, dass Sandra sich irgendwann übernehmen würde, gleichzeitig aber hatte er gehofft, dass es nicht dazu kommen würde.
Er hatte diese Klettertour vor allem deshalb mitgemacht, weil er sich eingebildet hatte, ein wenig auf Sandra aufpassen zu können.
Er hatte sie zurückpfeifen wollen, sobald er merkte, dass sie sich zu viel zumutete. Schutzengel hatte er spielen wollen, aber es war nicht dazu gekommen.
Das Schicksal hatte schneller und unverhoffter zugeschlagen, als er zu reagieren vermochte. Wie hatte er glauben können, Sandra Falkenberg vor Schaden bewahren zu können?
Wofür hast du dich eigentlich gehalten?, verhöhnte ihn nun eine innere Stimme, während er so rasch wie möglich zu Sandra hinunterkletterte. Sie regte sich nicht, lag auf dem Rücken, ihre Augen waren geschlossen. „Sandra!“ Oliver warf sich neben ihr auf die Knie.
„Nicht bewegen!“, rief Karsten Rüge. „Wir dürfen sie nicht bewegen. Sie kann innere Verletzungen haben.“
Julian bewies, dass er der Sohn eines Arztes war. Er legte zwei Finger auf Sandras Halsschlagader und fühlte ihren Puls. „Sie ist nur ohnmächtig“, informierte er die andern.
„Wir dürfen ihre Lage nicht verändern“, sagte Karsten noch einmal eindringlich.
„Mein Gott, wie können wir sie nur dazu bringen, dass sie zu sich kommt?“, stöhnte Oliver Wiechert verzweifelt.
„Schmeiß jetzt nicht die Nerven weg, Oliver“, sagte Karsten rau.
„Sandra!“, rief Julian Krautmann. „Sandra, hörst du mich? Sandra!“
„Sandra, bitte wach auf!“, flehte Oliver. Er sah Julian und Karsten verstört an. „Wir müssen irgendetwas tun! „Ein leiser Seufzer kam über Sandras Lippen.
„Sie – sie kommt zu sich!“, stieß Oliver Wiechert aufgewühlt hervor. „Sandra! Sandra!“
„Lass ihr Zeit“, sagte Karsten Rüge.
Julian hob den Kopf und schaute nach oben. Wie hoch mochte Sandra abgestürzt sein? Acht Meter? Zehn? Sie hätte tot sein können!
„Sandra!“, rief Oliver Wiechert unglücklich. „Sieh mich an! Sieh mich bitte, bitte an!“
Ihre Augenlider zuckten. Es schien sie unendlich viel Kraft zu kosten, sie zu heben. Ihr Blick war seltsam leer. Sie war geistig noch nicht ganz da.
„Sandra, o Sandra!“, schluchzte Oliver.
Sie musterte ihn verloren, schien seinen Schmerz und seine Verzweiflung nicht zu verstehen. „Was – ist – passiert?“, fragte sie stockend. Ihre Stimme war so leise, dass sie kaum zu hören war.
„Abgestürzt bist du“, sagte Oliver heiser. „Weißt du’s nicht?“
„Abgestürzt …“, hauchte sie.
„Hast du Schmerzen?“, fragte Karsten Rüge.
„Schmerzen?“, echote Sandra.
„Ja. Tut dir irgendetwas weh?“
Sandra schloss kurz die Augen. „Ich weiß nicht.“
„Versuch deine Beine vorsichtig zu bewegen“, verlangte Karsten.
„Ich glaube, das kann ich nicht.“
„Versuche es, Sandra.“ Karsten beobachtete ihre Beine, doch sie bewegten sich nicht. „Die Arme“, sagte er. „Versuch die Arme zu bewegen.“ Sandra gehorchte, und sie konnte die Arme heben.
„Noch mal die Beine“, sagte Karsten.
„Ich spüre meine Beine nicht“, sagte Sandra.
Oliver stieß die Luft entsetzt aus. „Wenn sie ihre Beine nicht bewegen kann, wenn sie sie nicht einmal spürt …“
„Sei still, Oliver“, zischte Karsten. Er wollte nicht, dass Sandra hörte, was Oliver vermutete – und was auch er befürchtete.
„Sie ist auf den Rücken gefallen!“, sagte Oliver mit belegter Stimme.
„Halt den Mund!“, herrschte Karsten ihn an. Er packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn heftig. „Mensch, reiß dich zusammen!“
„Sandra braucht Hilfe“, stieß der Junge aufgewühlt hervor und kramte gleichzeitig im Rucksack nach seinem Handy. „Wir müssen Hilfe holen!“ Ein Blick auf das Display zeigte ihm eine weitere Katastrophe: „Kein Empfang, so ein Mist!“ Wütend steckte er das Handy zurück in seine Tasche und sah die beiden anderen erwartungsvoll an. Auch bei ihnen sah es nicht besser aus: Ihre Handys hatten an dieser Stelle keinen Empfang und somit war es ihnen unmöglich, schnell die nötige Hilfe zu holen.
„Der Wirt der Bärenlochhütte hat ein Funkgerät“, sagte Karsten Rüge. „Ihr bleibt bei Sandra. Ich sorge dafür, dass sie sofort Hilfe bekommt.“ Karsten kletterte die Felswand wieder hoch. Er war bald nicht mehr zu sehen. Oliver sah Julian verzweifelt an. „Ich hätte nicht zulassen sollen, dass sie sich für diese gefährliche Route entscheidet.“
„Denkst du, du hättest sie daran hindern können, mit Karsten zu gehen?“
Oliver schwieg. Er wusste, dass er das nicht geschafft hätte. Sandras Finger schlossen sich um Olivers Hand. „Es tut mir leid, so leid“, flüsterte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Ich habe es übertrieben.“
Er drückte ihre kraftlosen Finger. „Mach dir keine Vorwürfe, Liebling. Wir haben beide Fehler gemacht. Ich zuerst.“
„Ich habe mich so schrecklich dumm benommen.“
„Du warst enttäuscht und gekränkt.“
Julian kam sich überflüssig vor. Er hätte sich gern zurückgezogen und die beiden allein gelassen, aber er wusste nicht, wohin er gehen sollte. Wie wird man Sandra von hier fortbringen?, fragte er sich. Mit einem Hubschrauber?
„Ich liebe dich, Oliver“, hauchte Sandra.
„Es wird alles gut, Sandra“, sagte Oliver bewegt. „Ich liebe dich auch.“
„Kannst du mir meine Dummheit verzeihen?“
„Aber ja.“ Er strich ihr übers schweißfeuchte Haar. „Aber ja.“
Julian überlegte, wie weit Karsten inzwischen gekommen war. Schneller als er kann keiner die Schutzhütte erreichen, dachte er, und im nächsten Augenblick rann ihm ein eiskalter Schauer über den Rücken, denn ihm war ein schrecklicher Gedanke gekommen: Was, wenn Karsten vor lauter Hast auch etwas zustößt? Dann dauert es viele Stunden länger, bis uns jemand hier findet.
„Mein Rücken“, sagte Sandra leise.
„Tut er dir weh?“, fragte Oliver sofort.
„Nein, ich spüre ihn überhaupt nicht, und ich habe kein Gefühl in den Beinen. Ich spüre gar nicht, dass ich Beine habe.“
Oliver beugte sich über sie und gab ihr einen tröstenden Kuss auf die Stirn. „Es kommt alles wieder in Ordnung.“
„Und wenn nicht?“
„Du musst positiv denken, Liebes. Es gibt immer eine Hoffnung.“
„Wenn ich meine Beine nie mehr bewegen kann … Nie mehr.“
„Rede doch nicht solchen Unsinn.“
„Ich hab’ so eine schreckliche Ahnung, Oliver.“ Ihre Stimme klang rau.
„Sie trügt dich. Sie trügt dich ganz bestimmt.“ Oliver sah Julian an, und in seinem Blick flackerte die bange Frage: Wann kommt endlich Hilfe?
Doch Julian wusste es nicht. Er fragte sich das ja selbst ununterbrochen.