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ОглавлениеKapitel 2 – Die Regeln
Es brauchte ungefähr zwei Stunden, bis Vanny sich wieder erholt hatte. Ihren kleinen dunkelblauen Funkwecker hatte sie auf dem schäbigen Hocker neben dem Bett deponiert, neben einem Bild mit ihrer Familie. Mittlerweile war es 16 Uhr und von ihrem Onkel hatte sie nichts mehr gehört. Sie beschloss, sich im Haus umzusehen und sich mit ihrer vorübergehenden Umgebung etwas vertraut zu machen. Sie musste mit ihrem Onkel über ihr Zusammenleben, falls man es so nennen mochte – was ja zum Glück zeitlich begrenzt war - sprechen. Mit trübsinnigen Gedanken trat sie in den kahlen Flur. Gegenüber von ihrem momentanen Schlafzimmer befand sich eine weitere mit deutlichen Gebrauchtspuren überzogene, geschlossene Tür. Zögernd klopfte sie an.
„Hallo? Ernst? Bist du hier irgendwo? Hallo?“
Sie wartete ein paar Augenblicke, dann öffnete sie langsam die Tür unter einem lauten unangenehmen Quietschen und stand mitten in einer viereckigen, düsteren Vorratskammer, die scheinbar genauso groß war wie die ihr zugewiesene Schlafkammer. Die Regale waren verstaubt und es standen vereinzelte Dosen und Gläser herum, die nicht viel herzugeben schienen. Auch hier roch es nach alter, abgestandener Luft. Vanny überkam ein leichter Reizhusten und sie blickte sich um. Außer Regalen und einem alten verzottelten Teppich auf dem Boden, der schon lange kein Wasser mehr gesehen hatte, gab es hier nichts zu sehen. Deshalb ging sie zurück und steuerte auf die beiden Türen zu, die genau in der Mitte des schmalen Ganges lagen. Zuerst öffnete sie zaghaft die rechte Holztür und spähte neugierig in das unbekannte Zimmer, das sich als Küche entpuppte. Die Küche machte einen sehr bäuerlichen Eindruck und wies auf den ersten Blick nichts Besonderes auf, doch es schien zumindest alles vorhanden zu sein, was man im Alltag so braucht, um sich ein schmackhaftes Essen zu zaubern. Neugierig trat sie ein und stand links von einer weißen Waschmaschine. Daneben befanden sich der Herd mit Backofen und wiederum daneben eine alte Spüle und Schränke. Frontal zur Tür standen in einigen Metern Entfernung ein breiter Esstisch mit Essbank und vier Holzstühlen vor einem großen Doppelfenster, die, wie wohl das ganze Haus, länger nicht mehr sauber gemacht worden waren. Auf der linken Seite standen Schränke mit Geschirr und anderen Küchengegenständen. Auch hier hatte sich eine dicke Staubdecke darübergelegt.
Ein ungutes Gefühl beschlich die Jugendliche und die Vorstellung, dieses Haus reinigen zu müssen, machte sich albtraumhaft in ihr breit. Vanny war nicht faul, doch das schien ihr jetzt etwas zu viel des Guten. Sie schüttelte heftig den Kopf, so als wolle sie mit dieser Geste diesen immer größer und mächtiger werdenden Gedanken loswerden, und wandte sich schnell dem gegenüberliegenden Zimmer zu. Als sie in dieses hineinsah, traute sie ihren Augen nicht. Der Raum, ein weiteres Schlafzimmer, machte einen sehr ordentlichen Eindruck. Das Bett war gemacht und nichts lag auf dem Boden herum. Sogar die Tapeten waren unbeschädigt und strahlten in einem seichten Blautürkis eine gewisse Wärme aus. Die Möbel waren so gut wie neu und die bisher schönsten im ganzen Haus. Dieses Schlafzimmer, in dem wohl ihr Onkel nächtigte, war der komplette Kontrast zu den bisherigen Räumen und passte ganz und gar nicht zu dem, was sie bisher gesehen hatte. Doch noch hatte sie nicht alles erkundet und so wollte sie keine voreiligen Schlüsse ziehen, auch wenn es ihr schwerfiel. Eilig ging sie hinaus. Sie wollte nicht mehr als nötig in der Privatsphäre ihres Onkels stöbern. Ihr schlechtes Gewissen meldete sich, doch verdrängte sie dieses gleich wieder. Immerhin wäre es die Aufgabe ihres Verwandten gewesen, sie herumzuführen. Sorgfältig schloss sie die stabile Holztür hinter sich und ging in Richtung Haustür, wo noch zwei unentdeckte Räume auf sie warteten. Neben der Küche befand sich ein grün gefliestes Badezimmer, das einen sehr erdrückenden und durchaus versifften Eindruck machte. Die Badewanne und das Waschbecken strotzten nur so vor Dreck und die Schülerin traute sich erst gar nicht, einen Blick auf die Toilette zu werfen. Ekel und Übelkeit überkamen sie. Fluchtartig verließ sie das Badezimmer, ohne sich weiter umzusehen. Ein Schauer durchlief ihren Körper. Diese Zustände hätte mal ihre auf penible Sauberkeit achtende Mutter sehen sollen! Seufzend betrat sie den letzten Raum gegenüber dem ungepflegten Bad – das Wohnzimmer. Die durchgesessene braune Schlafcouch stand links an der einmal weiß gewesenen Wand, davor ein kleiner Plastiktisch, der so ganz und gar nicht dazu passen wollte. Zwei kahle miteinander verbundene Holzschränke, ebenfalls von Staub bedeckt, füllten die rechte Seite des Raumes aus. Einen Fernseher oder ein Radio gab es hier nicht, aber eine kleine, nach oben führende Wendeltreppe vor dem Fenster. Auf diese ging Vanny zu, denn sie schien oft benutzt: Die Staubschichten waren sehr dünn und unterbrochen. Doch bevor sie auch nur einen Schritt hinaufsetzen konnte, ertönte hinter ihr eine scharfe Stimme.
„Du hast dort oben nichts zu suchen!“
Sie zuckte erschrocken zusammen und drehte sich langsam, als würde jemand eine Waffe auf sie richten. Die Augen ihres Onkels sprühten vor Zorn und schienen sie zu durchbohren, als hätte sie etwas Unverzeihliches getan. Ihr wurde gleichzeitig heiß und kalt. Ängstlich zuckte sie wie ein verschrecktes Reh zusammen und stammelte eine Entschuldigung vor sich hin. Er schien jedoch nicht daran interessiert.
„Wir sollten nun über die Regeln hier sprechen!“, unterbrach er seine Nichte grob und dirigierte sie mit strengen Blicken in die Küche.
*
Die Regeln waren klar, einfach und alles andere als zufriedenstellend. Er verlangte von ihr, dass sie täglich putzte und das Abendessen pünktlich um 19 Uhr auf dem Tisch stehen sollte, sonst gab es keine festen Essenszeiten. Der Gedanke, sich mit ihm allein an einen Tisch für die Mahlzeiten setzen zu müssen, bereitete ihr Bauchschmerzen. Heute blieb sie davon noch verschont. Das einzig Gute war, dass sie so lange schlafen konnte, wie sie wollte. Im Erdgeschoss durfte sie sich frei bewegen, das obere Stockwerk war für sie tabu. Vanny traute sich nicht zu fragen, warum dies so war, obwohl ihre Neugier sie dazu drängte. Seine impulsive Reaktion von vorhin reichte ihr zur Genüge. Die Forderung, täglich eine Art Bericht zu schreiben, in dem sie schildern musste, welche Aufgaben sie am Tag verrichtete, ließ sie schwer schlucken. Kontrolle durch und durch …
Sie krallte ihre Finger verkrampft in ihre Jeans. Das Ganze kam ihr unwirklich, wie ein schlechter Traum vor – einer mit abscheulichem Nachgeschmack.
„Das ist alles. Am besten, wir sehen uns nicht ganz so oft – das dürfte in unserem beidseitigem Interesse liegen!“, beendetet Ernst seine Ansage. Vanny nickte stumm. Das erinnerte sie wiederum an einen Film, nur dass dies schreckliche Realität war und sie sozusagen die Arschkarte gezogen hatte. Allerdings wollte sie so schnell die Hoffnung auf etwas Annäherung und ein harmonisches Zusammenleben nicht aufgeben.
„Und wann stehst du auf? Möchtest du Kaffee oder Tee zum Frühstück?“, fragte sie deshalb vorsichtig nach, obwohl sie ihm am liebsten den Mittelfinger gezeigt hätte und weggerannt wäre. Aber sie wollte beweisen, dass sie bereit war, sich extra mit dem Aufstehen nach ihm zu richten und sogar das Frühstück für sie beide zuzubereiten. Einem gemütlichen Frühstück, der ersten Mahlzeit des Tages, konnte eigentlich keiner widerstehen, oder? Doch sein Blick war unberührt und schwer zu deuten. Immerhin antwortete er ihr nach einigen Minuten, in denen er sie misstrauisch musterte:
„Meistens um sieben Uhr, nur Kaffee.“
Er wandte sich ab, um zu gehen, und sie sah ihre Hoffnung auf ein harmonisches Miteinander in weite Ferne schwinden.
„Was ist mit Einkaufen?“, gab sie schnell zu bedenken und wunderte sich über den plötzlich aufgekommenen Mut. Ihr Onkel hielt noch einmal kurz inne, drehte sich abermals zu ihr um und starrte sie nachdenklich an.
„Dir stehen wöchentlich 50 Euro zur Verfügung, die ich dir hier in den Schrank lege. Ich möchte alle Belege sehen und das Wechselgeld wieder zurück! Das nächste Dorf ist vier Kilometer in Richtung Norden entfernt. Busverbindungen oder Ähnliches gibt es hier nicht, du musst also laufen.“
Ohne ein weiteres Wort verließ er Zimmer und Erdgeschoss über die Wendeltreppe im Wohnzimmer. Vanny war sprachlos und starrte ihm wie hypnotisiert hinterher. Die Einsamkeit schien sie hämisch lachend zu umarmen. Wütend vor sich hinfluchend ging sie in ihre Kammer.
*
Die Sonne schien hell und wärmend auf die trockene Erde herunter und streichelte sanft Vannys Haut. Blumen blühten farbenfroh und lockten mit ihrem süßen Duft die Bienen an, die fleißig ihre Arbeit verrichteten. Kinderlachen erfüllte die Luft, gemischt mit den ermahnenden Stimmen der Eltern im Park. Mandy sprang vergnügt umher und Vanny genoss diesen herrlich warmen Tag und den gemütlichen Spaziergang durch den grünen Park. Solche Tage, so einfach und doch so wertvoll, wollte sie nie missen.
„Hey Vanny! Na, wieder mit Mandy ne Runde drehen?“
Lächelnd kam Katrin, ihre beste Freundin, auf sie zu und die beiden umarmten sich freudig. „Wie geht es dir? Den Kater gut ausgeschlafen?“
„Mehr oder weniger“, gab Vanny schelmisch grinsend zu. „Die Party gestern war hammerstark! Und hast du Gil gesehen? Sah der wieder gut aus!“
Kichernd setzten die beiden Mädchen ihren Tratsch fort und vergaßen alles um sich herum. Die Stimmung war perfekt, nichts schien sie trüben zu können. Erst ein lauter Knall und ein heulendes Jaulen holten die beiden in die Realität zurück. Erschrocken wandten sie sich in die Richtung, aus der die unheilverkündenden Geräusche gekommen waren, und Vanny lief es eiskalt den Rücken herunter. Sofort hetzte sie zur Straße hin und kniete sich zu Mandy, deren kleiner Körper von heftigen Zuckungen geschüttelt wurde. Der Aufprall des Autos war hart gewesen. Die Augen der Hündin waren im Todeskampf weit aufgerissen und ihre Pupillen rasten verwirrt umher.
„Bitte nicht ... bitte halt durch!“
Doch Mandy hielt nicht durch – nach ein paar letzten Atemzügen schloss sie ihre Augen. Um sie herum war Blut, so viel Blut ...
*
Weinend schrak Vanny auf. Ihre Augen waren glasig und vor Schreck geweitet. Tiefer Schmerz breitete sich in ihr aus, als die Erinnerung von damals wieder Besitz von ihr ergriff, die sie sonst so erfolgreich verdrängt hatte. Schuldgefühle übermannten sie und ihr verzweifeltes Schluchzen erfüllte das kleine Zimmer. Sie hatte das nicht gewollt. Könnte sie doch bloß die Zeit zurückdrehen, könnte sie nur alles ungeschehen machen. Bestimmt wäre sie dann nicht hier, sondern zu Hause, und könnte ihre Ferien genießen.
„AAAAH!“
Vanny schrak auf, als sie den grellen, markdurchdringenden Schrei hörte. Zusammengekauert und mit weit aufgerissenen Augen saß sie auf dem Bett und lauschte in die Finsternis. Minuten erschienen wie Stunden, während sie auf dem Bett saß und auf ein weiteres Geräusch wartete. Hatte sie sich den Schrei nur eingebildet? War sie es vielleicht sogar selbst gewesen, ohne dass sie es bemerkt hatte?
„Du bist so eine dumme Nuss“, beschimpfte sie sich traurig lächelnd und wischte sich die Tränen vom Gesicht, doch da hörte sie es wieder.
„AAAAAARGH!”
Ein Schauer lief ihr über den Rücken und sie begann zu zittern. Sie schlang die Arme wärmend um ihren bibbernden Körper und wünschte sich nach Hause, in ihr eigenes Bett. Doch vergebens. Als erneute Schreie folgten, verkroch sich die Jugendliche voller Furcht und halb an ihrem Verstand zweifelnd zitternd unter ihre Bettdecke und wartete voller Furcht auf das Morgengrauen.