Читать книгу Das Walmuseum, das Sie nie besuchen werden - A. Kendra Greene - Страница 11

KABINETT A DAS MUSEUM FÜR ETWAS GEMURMELTES

Оглавление

Es herrschte Hungersnot. Und die Familie beschloss, dass sie einen Sohn würde retten können, indem sie ihn wegschickte. Oder vielleicht, dass sie alle anderen retten könnte, wenn sie ein Maul weniger zu stopfen hätte. Also organisierten sie seine Überfahrt nach Nordamerika, eine sehr lange, beschwerliche Schiffsreise. Als das Abfahrtsdatum näher rückte, war der Junge zu krank, um die Fahrt anzutreten – aber alles war arrangiert, und jemand musste gehen, also schickten sie einen anderen, noch jüngeren Sohn an seiner Stelle.

Die Verwandten in Nordamerika kamen pflichtschuldig zum Schiff, aber als sie den Namen des älteren Sohnes nicht auf der Passagierliste fanden und auch den Jungen nicht, den sie abholen sollten, und da sie nicht wussten, dass sie nach einem anderen suchen sollten, kehrten sie allein nach Hause zurück. Es spielte keine Rolle, wann sie von dem Ersatz erfuhren oder ob überhaupt. Niemand hörte etwas von dem Jungen, der auf das Schiff geschickt worden war, und keiner wurde gefunden, der bezeugte, ihn gesehen zu haben. Keiner konnte feststellen, wo der verlorene Sohn gestorben war.

Nur war er gar nicht tot. Über ein Jahrzehnt nachdem das Schiff aus der Heimat in Amerika angedockt hatte, kehrte er mit einem anderen nach Island zurück, in der Absicht, sich eine Braut zu suchen. In all dieser Zeit hatte er nie geschrieben, in all dieser Zeit hatte er nie eine Nachricht geschickt. Er hatte auch jetzt kaum mehr als ein paar Worte zu sagen: Er murmelte kurz etwas über die Eingeborenen und dass sie besser behandelt werden sollten, aber keinen weiteren Bericht über sein Überleben, darüber, wie aus dem hungernden Kind ein Mann geworden war, der nun in einem Büffelmantel vor ihnen stand.

Ich selbst weiß nichts weiter über ihn oder seine Geschichte, ja, ich wüsste nicht einmal so viel, wenn nicht der Büffelmantel hier in einer Vitrine hinge, als wäre er in eine Telefonzelle getreten, um anzurufen. Und selbst das, was ich weiß, fühlt sich unzulänglich an, obwohl es passt wie ein Schlüssel ins Schloss.


Es wirkt wie eine Geschichte, die nicht für mich bestimmt ist, zum Teil, weil die Gegenstände, die sie erzählen, nur sparsam und nur am Rande ausgestellt sind. Und auch nicht im Hauptmuseum, sondern in einem Eingangsgebäude, in einer Art Lobby vor den Wechselausstellungen, am anderen Ende des Museumscafés. Der Mantel in seiner Vitrine hat nur eine kleine Fußnote erhalten, ordentlich gedruckt und sauber formatiert. Die Information ist noch kürzer als die Geschichte, die ich hier erzähle, und nur auf Isländisch, sodass sie niemand von außerhalb Islands lesen könnte, der diesen Mann oder den verlorenen Jungen lange genug gekannt hatte, bis seine Schultern diesen Mantel ausfüllten. Ich nehme an, dass auch der Text etwas Kurzes und Gemurmeltes ausdrückt.

Das ist die Geschichte, die mir erzählt wurde, obwohl ich eigentlich auf der Suche nach einem Pfarrer war, als mir der Mantel und die Schuhe dieses Mannes gezeigt worden waren. Das ist die Geschichte, die ich erfuhr, nachdem ich wiederholt nach einem anderen Boot gefragt hatte: dem alten Fischerboot, das auf dem Rasen des Museums verrottete, weil nie genug Geld da war, um es instand zu halten. Inzwischen war es zu gefährlich, es zu besteigen, obwohl jeder, der hier aufgewachsen war, als Kind über seine Planken und die Reling geklettert war.

Ich bewahre dieses verirrte Kleinod auf, wie man es mit jeder kostbaren Sache tut. Ich bin so geistesgegenwärtig, diese Geschichte aufzuzeichnen, wegen der ich nicht gekommen war und nach der ich nicht hätte fragen können. Ich erkannte den Glücksfall sofort. Das ist die Geschichte, die ich erst zu hören bekam, nachdem ich die große Führung mitgemacht hatte, nachdem man mich eingeladen hatte, mich im Museumscafé auszuruhen, nachdem ich glaubte, meine Fragen wären beantwortet, nachdem ich Kaffee und Kuchen bekommen hatte, bis ich nicht mehr konnte.

Das Walmuseum, das Sie nie besuchen werden

Подняться наверх