Читать книгу Das Walmuseum, das Sie nie besuchen werden - A. Kendra Greene - Страница 14

KABINETT B DAS MUSEUM DER GESCHICHTE, DIE MAN MIR ERZÄHLTE

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In der Version der Geschichte, die man mir erzählt hat, war er ein Bühnenbildner. Er war ein Mann, der sein ganzes Leben im Theater verbracht hatte: Er baute Steigleitungen, Vorhänge, Kulissen und Falltüren und verwandelte damit eine Bühne; er entwarf Wälder, Segelschiffe, Utopien und Apokalypsen, gestaltete die Zukunft und die Vergangenheit. Ein solcher Mann war er, einer, der unwirkliche, unheimliche Räume schuf, der Licht und Schatten eine Geschichte erzählen ließ.

Als sich dieser Mann schließlich dem Ende seiner beruflichen Laufbahn näherte, sah er sich um und erkannte, dass von allem, was er je gebaut hatte, jeder Treppe und jedem Turm, jeder Stütze und jedem Rigg, jedem Fluss und jedem Nachthimmel, nichts mehr zu sehen war. Alles war abgerissen – alles, mit voller Absicht, bis auf das letzte Brett –, sodass nun jedes Bild, das er je konstruiert hatte, dekonstruiert war. All diese Welten waren vergangen. Alles, was er so voller Perfektion erschaffen hatte, war rückgängig gemacht worden und verschwunden. Angesichts dieses Nichts baute er stattdessen ein Museum.

Ich liebe diese Geschichte. Ich liebe ihre Eleganz und das Revolutionäre an ihr. Ich liebe es, wenn ein Problem sauber gelöst wird. Ich habe diese Geschichte aus verschiedenen Quellen gehört, und gelegentlich habe ich sie auch im Zusammenhang mit anderen Museen erzählt bekommen. Aber ich höre diese Geschichte niemals, niemals von ihm.


DIE GESCHICHTE, die er erzählt, handelt von Wanderritten ins Hochland, von den Gruppen, die er mit seiner Frau in den Sommern geführt hat. Doch nicht einmal in diesen Geschichten erzählt er alles. Er spricht nicht über ihre Lieblingspferde. Er beschreibt nicht die wilde Gegend, die uralten winzigen Moose, die windgepeitschten ungeschützten Einöden, das Wetter, das sich jeden Augenblick ändern kann, den von der Seite peitschenden Regen und die vom Graupel gefrorenen Hände. Er erzählt von den langen Tagen auf dem Pferd, davon, wie sie Sagen erzählten, um sich die Zeit zu vertreiben und um den Gegenden, die sie durchquerten, eine Bedeutung zu verleihen.

Sie erzählten von dem hässlichen Sohn und dem Kind, das auf dem Eis starb, von der Zauberkönigin und davon, wie Poesie das Leben eines Menschen retten kann. Sie erzählten diese Geschichten, und die Reiterinnen und Reiter liebten sie. Der Mann und seine Frau wunderten sich darüber, dass ihre Gefährten sie nicht kannten. Dabei handelte es sich nicht einmal um die obskuren Sagen. Es waren Geschichten, die Jahrhunderte überdauert hatten, die als Kanon überlebten und gefeiert wurden, die englische Literaturwissenschaftler in einer bestimmten Epoche dazu inspirierten, Isländisch zu lernen, nur um sie lesen zu können, und hier, in Island, schienen sie nur so wenige zu kennen. Daraus zogen sie ihre Schlüsse. Ein Museum. Und dann fassten sie gemeinsam einen Entschluss. Sie schmiedeten Pläne und trafen eine Auswahl, und sie schufen einen Ort, den man begehen konnte. Sie bauten etwas, das sich Gehör verschaffen sollte.

Das Walmuseum, das Sie nie besuchen werden

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