Читать книгу Waldlichter - A. V. Frank - Страница 24
Kapitel 9
ОглавлениеNicja sah dem Falken traurig nach. Sie bedauerte es, ihn wegschicken zu müssen, doch sie hatte keine Wahl. Nun flog er dem fernen England entgegen, ohne zu wissen, wohin er genau musste oder was das für eine Toúta war, in die sie ihn geschickt hatte. Aber sie konnte es nicht riskieren, ihn bei sich zu behalten. Sein Verrat war zwar verständlich, deswegen aber nicht weniger gravierend gewesen. Und auch wenn es nicht hätte sein müssen, so war sie doch von anderen dazu gezwungen worden. Sie, die mächtigste Frau der Toúta. Die Umstände hatten sie zu einer anderen werden lassen. Hatte ihr Bruder recht? Verlor sie das Vertrauen ihrer Schutzbefohlenen? Das ihres Pflegeneffen hatte sie durch ihre Entscheidung auf jeden Fall eingebüßt.
Plötzlich fassten Nicja von hinten zwei starke Hände sanft an den Schultern. Sie stieß einen spitzen Schrei aus und sprang einen Meter nach vorne, während sie sich umdrehte. Ihre Hand war an den Schwertgriff gefahren.
Mit einem spöttischen Grinsen im Gesicht stand Morin nun einen Meter vor ihr und zog überrascht eine Augenbraue nach oben. „Worüber grübelst du so vertieft?“ Er kam übertrieben langsam auf sie zu, damit er sie nicht wieder erschreckte.
„Es gibt viel, was meiner Aufmerksamkeit bedarf. Und zu viele Probleme, für die ich keine Lösung habe. Wie konnte ich ihm das antun? Diese Toúta in England ... das ist nicht gerechtfertigt. Oder etwa doch?“ Sie schaute ihn unglücklich an und er schloss sie in seine Arme.
„Diese Frage kann ich dir nicht beantworten, das weißt du. Ich könnte dich jetzt mit Lügen abspeisen, doch es würde dir nicht helfen. Was willst du also hören?“, fragte er mit sanfter Stimme.
„Wie wäre es mit: Es wird alles gut?“
„Das kann ich nicht wissen, wie könnte ich es dir dann sagen?“ Sie ließ müde ihren Kopf gegen seine Brust sinken und schloss die Augen. Er strich ihr sacht über das Haar, dann fügte er hinzu: „Ich bin gekommen, um dich daran zu erinnern, dass du heute auf die Versammlung musst. Du solltest bald losfliegen.“
„Das werde ich. Die anderen Mycidjae werden nicht auf mich warten müssen.“ Sie küsste ihn zart und machte sich auf die Suche nach ihren Geschwistern. Cobruna fand sie in ihrem Gemach vor, wo sie dabei war, ihren schwarzen Umhang überzuziehen.
„Du bist ja immer noch nicht reisefertig“, stellte sie fest, als Nicja den Raum betrat. Schnell reichte sie ihr ein elegantes Reisegewand mit kunstvollen Stickereien und sagte: „Beeil dich mit dem Umziehen, ich rufe unsere Brüder zusammen, sonst kommen wir zu spät.“ Und schon rauschte sie aus dem Zimmer.
Nicja zog schnell die Kleidung über, die genau wie die ihrer Schwester in Schwarz gehalten war, bürstete sich ihr Haar und strich die Gewänder glatt. Als sie mit ihrem Aussehen zufrieden war und vor die Tür trat, wurde sie schon erwartet. Drei große Eulen, ein Uhu, Rijon, eine Schleiereule, Cobruna, und ein brauner Waldkauz, Conàed, saßen dort und schuhuten leise. Sie lächelte und verwandelte sich selbst in eine große Schneeeule.
Zusammen flogen sie ostwärts, über Irland hinweg, welches langsam in der Dunkelheit verschwand. Sie flogen einen ganzen Tag, passierten das Meer und zahlreiche kleine Inseln, ebenso wie England. Dann drehten sie ab, flogen nach Norden, bis sie die Insel Unst erreicht hatten. Diese gehörte zu den Shetlandinseln, dort gab es außer vielen großen Wiesen einen riesigen, naturbelassenen Wald zwischen den Seen North Water und Heimar Water, wie die Menschen sie nannten. Dieser war das Ziel der Eulen, denn hier stand der Hochaltar Varas. Dort trafen sich alle zwei Jahre in der Mittsommernacht die Mycidjae der Toúten im gesamten Westen.
Bald schon sahen sie von überallher die verschiedensten Vögel auf den Wald zusteuern, viele hatten sich zu größeren Gruppen zusammengeschlossen. Nicja entdeckte eine große Adlerdame und stürzte auf sie zu. Die beiden umkreisten sich und jagten einander spielerisch durch die Lüfte. Das war Sally, die Führerin einer anderen Toúta in Irland, und die beiden waren seit Jahrzehnten beste Freundinnen. Cobruna wiederum flog zu einer kleinen Blaumeise, sie war die Zwillingsschwester der Mycidja einer Toúta aus Deutschland. Conàed und Rijon gesellten sich zu ein paar Kriegern, die eine Mycidja aus Spanien begleiteten. Normalerweise war das Mitbringen von Kriegern untersagt und auch unnötig, aber diese Mycidja war bis zu diesem Tag die oberste gewesen. Dadurch hatte sie bestimmte Privilegien, zum Beispiel dass sie gewissen Untertanen die Ehre erweisen konnte, sie zu begleiten. Da es jedoch unter den einzelnen Toúten so gut wie nie Krieg gab, waren Beschützer unsinnig. Es schien eine interessante Versammlung zu werden.
Bald hatten alle den Hochaltar erreicht. Sie verwandelten sich zurück in ihre Allyngestalten und stellten sich rundherum um den großen Obelisken auf. Auf ihm waren die einzelnen Symbole der Göttinnen eingemeißelt, die sich zu bewegen schienen, auch wenn es keinerlei Bewegung im Licht oder um den Stein herum gab.
Alle standen ruhig und reglos und sahen Cjana, die oberste Mycidja, an. Diese thronte auf einem einfachen Steinpodest und sagte mit leiser, eindringlicher Stimme in Vascja, der Sprache der Draugrande: „Seid gegrüßt, Mycidjae! Es gibt sicherlich viel zu berichten und so fangen wir denn an unter dem Schutz von Midjis, Lifrana, Pesrentrae, Billingra, Ethlirikdoma, Blawde und Nykra.“
Alle echoten: „Unter dem Schutz von Midjis, Lifrana, Pesrentrae, Billingra, Ethlirikdoma, Blawde und Nykra.“ Sowie die Göttinnen genannt wurden, flammten in der jeweiligen Farbe die Symbole im Obelisken auf. Wie Meteoriten schlugen verschiedenfarbige Flammen in die sieben vorbereiteten Holzhaufen ein, die einen Kreis um die Lichtung bildeten, und entzündeten ein munteres Feuer. Die Versammlung hatte begonnen.
Nach weiteren einleitenden Worten wurden im Kreise aller Mycidjae die Veränderungen und Probleme der einzelnen Toúten besprochen und schon bald wurde klar, dass etwas nicht stimmte. Zum Beispiel hatte in diesem Jahr eine Seuche, die es normalerweise nicht mehr geben sollte, die Hälfte der Draugrande umgebracht. Die schwarze Beulenpest war umgegangen, die einzige Krankheit, die den Allyn wirklich schaden konnte.
Eine Krankheit, die den Menschen nichts mehr anhaben konnte, wurde von den Draugrande einfach nicht besiegt, selbst mit den stärksten magischen Kräften oder gar menschlichen Medikamenten, erzählte die Mycidja einer französischen Toúta.
Und in einer anderen Toúta in Norwegen hatte es auf einmal vermehrt Tierangriffe auf Allyn gegeben, trotz der Fähigkeit der Draugrande, Tiere zu lenken und zu beherrschen, auch wenn diese Kraft nur ungern benutzt wurde.
Nicht nur bei Nicja schienen sich die Probleme zu häufen. Jede Toúta hatte in diesem Jahr offenbar mit Schwierigkeiten zu kämpfen. Viele dieser Fälle wurden vorgetragen, manche einschließlich einer Lösung, die gefunden worden war, die meisten jedoch mit der Bitte um Hilfe. Nicja selbst berichtete vom Wiedererstarken der Duorc und dem rätselhaften Hinweis, den Vara ihr gegeben hatte.
Im Laufe der Nacht hörten die Mycidjae von einer Vielzahl schrecklicher Ereignisse: einer riesigen Flut, einem Überfall von Menschen, einem drohenden Werwolfangriff (die gab es nur noch in Deutschland und sie waren Todfeinde der Draugrande) und noch vielem mehr. Sogar Sidhe waren in Schottland wieder zum Problem geworden.
Nachdem jede Mycidja ihr Anliegen vorgetragen hatte, kam es bald zum Höhepunkt der Versammlung. Von jedem der kleinen Feuer wurde ein brennendes Scheit genommen und damit unter dem Hochaltar, dem noch immer glühenden Stein, ein riesiger Holzhaufen angezündet. Das Feuer war vielfarbig wie ein Regenbogen. Nun wurde Vara angerufen und gebeten, ihnen die Mycidja zu zeigen, die ihre Schwestern für die folgenden zwei Jahre anführen sollte. Dabei traten alle anwesenden Draugrande vor und warfen eines ihrer Haare in die Flammen. Statt Gestanks erhob sich der Duft mehrerer Kräuter ‒ Heilkräuter, wie Cobruna stirnrunzelnd flüsterte ‒ und durchdrang den Wald, die Feuer und die auf die Knie gesunkenen Draugrande. Dieses Mal wurde der Geruch, der bei jedem Treffen ein anderer war, von einem Windstoß weggeblasen und der Obelisk glühte nur noch weiß. Dieses Weiß verwandelte sich erst in ein Rot, dann in ein Violett und schließlich in ein intensives Blau. Nykra trat in Allyngestalt aus dem Stein und schritt durch die Menge der Draugrande.
Die Göttin des Todes hatte schon lange keine oberste Mycidja mehr erwählt und gebannt hing die Aufmerksamkeit aller an ihr. Sie schritt langsam und bedächtig auf Nicja zu, dann blieb sie stehen und schaute Rijon lange an. Er starrte zurück, nicht fähig, sich zu bewegen. Doch die Göttin wandte sich um und berührte Sally an der Stirn. Licht schien sie wie eine Flutwelle zu durchströmen und ein blaues Amulett erschien in ihrem Dekolleté. Dann erlosch sämtliches Glühen, Nykra löste sich in einem Nebelfetzen auf und ließ die Mycidjae im Mondlicht zurück.
Benommen schritt Sally auf das Podest zu und erklomm es, während Cjana ihr Platz machte. Deren Amtszeit war somit abgelaufen und das grüne Amulett, das bis dahin auf ihrer Brust gelegen hatte, löste sich ebenfalls in Nebel auf.
Nicja stand am Waldrand und schaute zu Sally. Sie freute sich für ihre Freundin, denn es gab kaum eine größere Ehre, als zur obersten Mycidja erwählt zu werden, doch der Gedanke an Nykra brachte sie dazu, sich zu Rijon umzudrehen und ihn scharf anzusehen. Er hatte sich komplett in sich zurückgezogen und schien seine Schwester nicht einmal zu bemerken. Hatte Nykra ihm etwas gezeigt, obwohl er keiner ihrer Nadr war? Was konnte sonst passiert sein? Bedeutete es etwa, dass er sterben würde?
Rijon war ein glühender Nadr Midjis’, und wenn sich mehr zwischen Nykra und ihm abgespielt haben sollte, es zwischen ihnen eine Verbindung geben sollte, konnte das den Untergang ihrer Toúta bedeuten.
Nykra und Midjis hatten schon einmal Krieg geführt, damals war der Grund dafür ein Allyn gewesen, ebenfalls ein Nadr Midjis’, der sich jedoch umbrachte, weil er in Liebe zu Nykra entflammt war. Um ihn hatten sich die Göttinnen, die beide Anspruch auf ihn erhoben, gestritten, bis Blawde eingeschritten war.
Blawde war eine Ausnahmegöttin, die nicht nur für Musik, Freude und die Künste zuständig war, sondern auch für den Frieden und das Gleichgewicht. Bis auf sie waren alle Göttinnen Schwestern, welche im Tairnan’ogg lebten, während Blawde in der Zeit der großen Kälte, welche sogar das Tairnan’ogg mit Eis und Schnee überzogen hatte, als Allyn zu ihnen kam und sie um Hilfe anflehte, die ihr schließlich gewährt wurde. Als Blawde erschöpft eingeschlafen war, erkannten die Zwillinge Lifrana und Billingra ihre große Macht und formten ihr heimlich einen Körper, ähnlich ihren eigenen Gestalten, und machten sie so zur Göttin. So lautete zumindest Nicjas liebste Legende über Blawde.
Sie schaute noch immer in Rijons Richtung, sodass sie bemerkte, als er sich davonstehlen wollte, und rief ihn zu sich. Er jedoch schien sie nicht zu hören und verschwand im Dunkel des Waldes. Nicja wollte ihm gerade folgen, als eine Mycidja aus Österreich zu ihr kam und sie über die Duorc ausfragte. Sie konnte also nur hoffen, dass Rijon keine Dummheiten machte.
Der Morgen kündigte sich bereits an, als die Versammlung weiterging. Bis zum Abend wurden Ratschläge erteilt, Verhandlungen geschlossen, Termine für Besuche gemacht und noch vieles mehr. Sally versprach, im Laufe ihrer beiden Amtsjahre jede Toúta zu besuchen, und entfernte sich dann lachend und schwatzend mit ein paar Freundinnen. Nicja sprach mit anderen Mycidjae, holte ihren Geschwistern Essen und verbrachte viel Zeit damit, sich Ratschläge wegen der Duorc-Bedrohung anzuhören. In der Abenddämmerung wurde schließlich ein riesiges Ritual gefeiert, in dem zu Vara gebetet und sie verehrt wurde.
Rijon allerdings hatte sich die ganze Zeit, also einen Tag lang, nicht gezeigt und Nicja machte sich nun ernsthafte Sorgen um ihren geliebten Bruder. Sie tüftelte gerade an einer Ausrede, um ihn suchen zu können, als auf einmal Cobruna einen erstickten Schrei ausstieß und in die Knie ging. Schnell rannte Nicja zu ihr, genau wie Conàed und Rijon, der vom Schrei seiner Zwillingsschwester endlich wieder aus dem Wald gelockt worden war. Sie fassten sie besorgt an den Schultern, aber da ging es ihr schon besser. Der Schweiß, der ihr schlagartig ausgebrochen war, trocknete nun ebenso schnell wieder und ihre Beine, die sie nicht mehr hatten tragen wollen, ließen sie wieder aufstehen. Auch in ihr kalkweißes Gesicht kehrte ein Hauch Farbe zurück.
Schwer keuchend richtete sie sich auf, sah Nicja an und sagte: „Menschen haben unseren Schutzzauber durchbrochen und sind in Sarscali. Wir müssen sofort zurück!“
Ein paar Mycidjae, die in der Nähe gestanden und alles mit angehört hatten, schnappten nach Luft. Nicja schaute Cobruna noch einen Moment abschätzend an, dann rannte sie zu Sally. Sie erntete böse, pikierte Blicke, denn es war verboten, in dieser Zeit und an diesem Ort Hast und Eile zu zeigen.
Sally schaute sie ebenfalls verwirrt an, doch als Nicja ihr die Situation kurz erklärt hatte, sagte sie nur: „Fliegt los und mögen der Wind und das Glück mit euch sein!“
Dankbar nickte Nicja ihr zu und schneller, als sie es je zuvor vermocht hatte, wurde sie zur Schneeeule und stieg mit ihren Geschwistern in den Nachthimmel auf.
Ganze zwei Tage hatten sie ihren Stamm allein gelassen und nun, kurz nach Mitternacht, war das Unfassbare geschehen, irgendwelche Menschen hatten es geschafft, den starken Zauber zu brechen, der sie alle beschützte. Sie fürchteten den Entdeckerdrang der Menschen und ihre Art, mit fremden Kulturen umzugehen, fast so sehr, wie sie die Duorc fürchteten.
Da kam Nicja eine Zeile aus dem Orakelspruch in den Sinn, die sie bisher nicht in Ruhe gelassen hatte. „Ihr werdet Hilfe finden bei denen, die ihr fürchtet.“ Konnte das möglich sein? Sollten erneut Menschen das Geschick ihres Stammes lenken? Waren etwa nun genau diese Menschen zu ihnen gestoßen? Was, wenn Morin sie töten ließ? Diese Gedanken lagen schwer wie ein ganzer Berg auf ihren Schultern und verpassten ihr zugleich solch einen Energieschub, dass sie schneller flog denn je. Doch sosehr sie sich auch beeilten, der Morgen kam, machte der heißen Mittagssonne Platz, die dann erschreckend schnell im Meer verschwand.
Endlich strebten sie auf ihren Wald zu. Sie landeten schwer atmend in ihrem Palast, verwandelten sich sofort zurück und rannten auf den großen Versammlungsplatz, wo die anderen Draugrande sie bereits erwarteten. Dort standen Tyr und Morin und betrachteten prüfend drei Mädchen, die an die Linde gefesselt worden waren.
„Macht sie sofort frei!“, rief Nicja mit donnernder Stimme.