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Kapitel 11

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Wir gingen auf dem Weg weiter, als uns auf einmal etwa zwölf hochgewachsene Gestalten entgegenkamen. Sie hielten Bogen und Schwerter in den Händen, schienen angriffslustig und gefährlich zu sein. Sie hatten schlanke, muskulöse Gliedmaßen und ebenmäßige Züge, die jedoch unter ihren weiten Kapuzen kaum zu erkennen waren.

Verunsichert blieben wir stehen, doch die anderen marschierten weiter auf uns zu. In mir erhärtete sich der Verdacht, dass diese ... Toúta uns nicht wohlgesinnt war. Ich fing Trans Blick auf, der Verwirrung und Angst offenbarte, und runzelte die Stirn. Sie schüttelte leicht den Kopf als Zeichen, dass ich nichts unternehmen sollte. Wir sahen erneut die Fremden an, die sich nun bedrohlich vor uns aufbauten.

Nach langer Stille fragte endlich jemand aus der Menge mit klingender Stimme: „Was tut ihr hier? Wem folgt ihr und wie seid ihr in diesen Teil des Waldes gelangt? Sprecht rasch!“

Ich spürte Anas Blick auf mir ruhen, doch ich musterte konzentriert die Gestalt in dem dunkelgrünen Umhang vor mir. Sie kam mir vertraut vor. Plötzlich stieß mich Tran, die links von mir stand, an und schob mich etwas nach vorne. Das bedeutete wohl, ich sollte unsere Geschichte erzählen.

Stockend begann ich. „Wir wissen nicht, wer ihr seid oder warum wir hier sind. Aber wir haben Post erhalten. Verworrene Rätsel. Sie schienen zusammenzugehören und sie haben uns aufgefordert hierherzukommen, indem sie uns offenbarten, welche Handlungen wir dafür an der Blutbuche durchführen mussten. Es war irgendeine Art seltsames Ritual oder Ähnliches. Auf jeden Fall haben wir das gemacht. Es war ziemlich unheimlich, aber dann erschien dieser Pfad und wir sind ihm bis hierher gefolgt. Wer seid ihr, wenn man fragen darf?“ Die Worte waren ohne mein Zutun aus mir herausgesprudelt wie schon in der Gegenwart Transcas vor einer Woche, als wollte ich unbedingt der ganzen Welt meine Geheimnisse verkünden. Aber das war jetzt nebensächlich. Keiner der Fremden gab seine Kampfhaltung auf, niemand schien mit meiner Erklärung zufrieden zu sein oder mir antworten zu wollen. „Von wem erhieltet ihr diese Rätsel?“, wollte schließlich eines unserer Gegenüber wissen.

Ana antwortete, bevor ich dazu Gelegenheit hatte, und trat vor. „Sie kamen anonym. Aber wir hatten auch Träume, obwohl ich nicht weiß, was euch das angehen sollte. Darin kamen so seltsame Bezeichnungen vor. Nykra, Billingra und Blawde. Wenn ihr mich fragt, sind das absolut bescheuerte Namen. Oh, und eine komische Midjis wurde auch genannt. Vielleicht sind wir einfach verrückt geworden, aber trotzdem wollt ihr uns nichts zu trinken anbieten?“ Sie wollte anscheinend witzig sein, doch die Reaktion auf ihre Worte konnte kaum weniger amüsiert ausfallen.

„Wir wissen nicht, wie ihr von unseren Göttinnen erfahren habt, aber ihr seid nicht würdig, ihre Namen in den Mund zu nehmen. Außerdem erhielten wir keinerlei Nachricht von unserer Priesterin über menschliche Besucher.“ Dann rief der Wortführer etwas in einer unbekannten Sprache und einige aus der Menge begannen, uns zu fesseln und zu knebeln.

Obwohl wir uns wehrten, brachte es nichts, denn die Fremden waren unglaublich stark, und ehe wir uns versahen, standen wir aneinandergebunden und geknebelt in der Mitte einer wütenden Menge von seltsamen, noch immer verhüllten Gestalten. Meine Gedanken, die für ihre wilden Sprünge beinahe berühmt waren, wurden mit einem Mal auf die Geschichten über Feen und Elfen gelenkt, die ich als Kind verschlungen hatte. Die meisten dieser Wesen lebten im Wald, verborgen von Schutzzaubern.

Ich betrachtete unsere Entführer. Sie waren alle groß und sportlich, trugen bis zum Boden reichende Umhänge mit großen Kapuzen und sprachen, soweit ich das anhand der vorangegangenen Unterhaltung beurteilen konnte, ziemlich altmodisch. „Das sind noch lange keine Beweise!“, rief ich mich schnell zur Ordnung.

Fast hatte ich den Gedanken wieder verbannt, als mein Blick auf ein Mädchen fiel, welches schräg rechts vor mir ging. Ihre Kapuze war nach hinten gerutscht, ihre langen braunen Haare flatterten im Wind, sodass sie sie zurückstrich und dabei unnatürlich spitze Ohren entblößte, die ich zunächst nicht einmal wirklich registrierte, weil sie so gut zu ihr passten.

Als ich jedoch endlich begriff, was sich mir offenbarte, richtete ich meinen erstaunten Blick auf Ana und Tran, die das Mädchen ebenfalls anstarrten, und hob fragend die Augenbrauen. Auch wenn wir uns noch nicht lange kannten, so konnte ich mir doch vorstellen, dass sie meine Mimik richtig interpretierten, es hatte schließlich schon einmal geklappt. Ana runzelte die Stirn, verzog den Mund und schüttelte den Kopf, Tran zuckte mit den Schultern. Wir waren also alle drei ziemlich ahnungslos. Konnten denn Elfen, Sidhe ‒ oder wie man sie nennen mochte ‒ wirklich existieren?

Sicherlich träumte ich nur und wachte bald wieder in meinem Bett in unserer Ferienwohnung auf. Hoffte ich. Denn ich bekam ein flaues Gefühl im Magen, das mir sagte, dass ich nicht hier sein sollte, dass mir etwas Schlimmes passieren würde. Verschwommen nahm ich den Wald um mich herum wahr, wie die Bäume weiter zurückwichen und seltsame Formen bildeten. Alles sah unscharf aus, egal, wie oft ich blinzelte. Als wäre meine Brille beschlagen, doch ich wusste, dass sie komplett sauber war. Es wirkte, als beulten sich die Bäume aus, Äste verbogen sich auf unnatürliche Art, Blätter verdeckten die Sicht und schienen sich gegen den Wind zu bewegen. Ich erkannte keinen Sinn in dieser Anomalie, verstand nicht, was hier vor sich ging oder warum alles vor meinen Augen verschwamm.

Die fremden Gestalten führten uns unbarmherzig weiter, schleppten uns zu einer Lichtung, auf der bloß ein einzelner Baum stand, eine große Linde, wie ich schnell erkannte. An deren Stamm fesselten sie uns und verschwanden anschließend im Dickicht der Bäume, als ob sie nie existiert hätten. Nur zwei Wachen hatten sie dagelassen, die uns die Knebel abnahmen, bevor sie sich auf den Boden hockten und sich anscheinend einem Spiel widmeten.

Allmählich konnte ich wieder klar sehen, fing Anas ärgerlichen Blick auf und flüsterte: „Habt ihr eine Ahnung, was hier los ist? Was wollen die von uns?“

Nun hob Tran, die den Wächtern beim Spielen zugeschaut hatte, den Blick und antwortete genauso leise: „Ich hab nicht die leiseste Ahnung, nur ein paar fantastische Hirngespinste, die ich allerdings nicht aussprechen möchte. Vor allem bin ich erstaunt. Habt ihr diese tollen Baumhäuser gesehen? Das muss cool sein, dort drin zu wohnen.“

Verwirrt schaute ich mich um, denn mir war nicht klar, was sie mit Baumhäusern meinte. Ich hatte nichts dergleichen bemerkt bis auf ... Mein Blick schweifte wieder zu den seltsamen Verformungen in den Bäumen. Und tatsächlich, mein Blickwinkel schien sich kaum merklich zu ändern, bis ich Häuser erkannte, die sich so perfekt an die Stämme und Äste anpassten, dass sie kaum auffielen.

„Das ist ja toll!“, rutschte es mir heraus. Einer unserer Wächter schaute zu mir auf und ein Grinsen huschte über sein Gesicht. Dann beugte er den Kopf schnell wieder nach unten und ich war mir beinahe sicher, mir seine Reaktion bloß eingebildet zu haben.

Ana schnaubte unwillkürlich. „Toll würde ich das nicht nennen. Die leben hier im Dreck, in vermoosten und ameisenverseuchten Bäumen. Ich wette, da gibt es nicht einmal fließendes Wasser. Sind wir im alten Rom? Wie kann man das nur toll finden? Ich hatte nicht vor, eine Zeitreise ins Mittelalter zu machen.“

Nun bildete ich mir den erbosten Blick der Wächter sicher nicht ein, sie funkelten Ana aufgebracht an. Ich trat ihr gegen das Schienbein und schüttelte verstohlen den Kopf. Darüber, dass die reicheren Römer selbst damals schon fließendes Wasser gehabt hatten, sagte ich nichts, ich wollte keinen Streit vom Zaun brechen. Sie verdrehte zwar theatralisch die Augen, hielt aber den Mund.

Ich war mir nicht sicher, wie lange wir so dastanden und unsere Umgebung beobachteten. Die Dunkelheit, die nur von vereinzelten Laternen durchbrochen wurde, zerstörte mein Zeitgefühl komplett. Ab und an sahen wir die Bewohner dieses Ortes, doch sie huschten im Schutz der Bäume vorbei, alle darauf bedacht, sich nicht sehen zu lassen. Es schienen ziemlich viele zu sein, sehr viel mehr, als ich gedacht hatte. Das wurde mir klar, als ich weitere Häuser entdeckte.

„Das muss ein richtiges Dorf sein. So viele Baumhäuser!“, raunte ich meinen Gefährtinnen zu, die als Antwort nickten, Tran verzaubert, Ana genervt. Es schien ihr nicht zu gefallen, im Dunkeln an einem baumverseuchten Plätzchen ohne Spiegel und Fußbodenheizung festgehalten zu werden. Im Gegensatz zu ihr fand ich es inzwischen sogar recht aufregend.

Doch als die Sonne endlich aufging, war ich schon nicht mehr an der Umgebung interessiert. Ana war eingeschlafen und Tran betrieb einseitige Konversation mit unseren Bewachern. Auch mir wurden die Lider schwer und ich suchte nach etwas Neuem, das ich betrachten konnte. Da bemerkte ich einen Anwohner, der soeben eine Treppe hinunterlief, sich dann, auf dem Boden angekommen, krümmte und langsam in einen Hasen verwandelte. Auch wenn sich das schräg anhörte, genau so war es.

Ungläubig schaute ich zu, wie der Körper schrumpfte und sich Fell darauf ausbreitete, wie die Gestalt auf alle viere fiel, sich die Ohren verlängerten und der Fremde schließlich als Hase in den Wald hoppelte. Ungläubig blinzelte ich ein paarmal, doch der Hase verschwand nicht, ich war eindeutig wach und gerade wirklich und wahrhaftig Zeuge einer Verwandlung in Tiergestalt geworden.

Völlig verblüfft und sprachlos schüttelte ich den Kopf. Ich hatte es mir bloß eingebildet, da war ich mir sicher. So etwas war komplett unmöglich, die Verwandlung eines Menschen in ein Tier war nur ein Hirngespinst meines übermüdeten Bewusstseins. Aber trotz meines Bemühens, mir ebendies einzureden, konnte ich mich einfach nicht davon abhalten, erneut zu dem Baum hinüberzuschielen.

Kein Hase, rein gar nichts. Nur Einbildung.

Ich stieß einen langen Seufzer aus und sah wieder zu der schlafenden Ana. Da wir sehr dicht aneinander festgebunden worden waren, gelang es mir mit ein paar Verrenkungen meiner Hand, ihren Arm zu fassen und sie zu zwicken.

Mit einem empörten Aufschrei wachte sie auf und rieb sich den Arm. „Was soll das? Geht’s dir noch gut? Also echt, wie kommst du auf die verblödete Idee, mir in den Arm zu kneifen? Äh, ihr Wachen? Bindet sie bitte am anderen Ende des Baums fest, weit entfernt von mir! Ich will schlafen, ohne misshandelt zu werden.“

Ich prustete los. So wie sie sich aufführte, erinnerte sie mich an ein kleines, verwöhntes Mädchen, dem mitgeteilt worden war, dass es keine Prinzessin sei. Doch andererseits mochte ich Ana in diesem Moment total, denn sie war endlich einmal natürlich und trug keine Maske zur Schau. Okay, zugegeben, sie hatte auch keine Zeit dazu gehabt, eine aufzusetzen.

Ich konnte mich dennoch nicht beherrschen, lachte immer weiter und lauter, ein eindeutiges Indiz dafür, wie fertig ich mit den Nerven war. Als ich mich schließlich etwas beruhigt hatte, brachte ich atemlos heraus: „Ich wollte dich nur wecken, damit du uns später nicht die Ohren volljammerst, dein Nacken tue weh.“

Wenn Blicke zu töten vermocht hätten, dann hätte ich endlich aufgehört, derart belustigt zu sein, aber leider konnten sie es nicht. Das schien auch Ana eingesehen zu haben, denn sie wandte ihren Blick ab.

Tran redete immer noch mit den Wachen, die inzwischen schon ziemlich genervt zu sein schienen. Ich betrachtete sie und fragte mich, was sie mit ihrem Geplapper bezweckte. Ana, die sie ebenfalls verwirrt gemustert hatte, verlor das Interesse an ihr und summte lieber irgendetwas von Rihanna vor sich hin, während ich weiterhin Transca beobachtete. Meine Aufmerksamkeit wurde plötzlich von etwas weitaus Interessanterem als ihrem Gesicht angezogen. Tran fummelte an den Knoten, die ihre Hände zusammenbanden, herum, sie schien eine Hand bereits befreit zu haben. Nun endlich verstand ich, was sie da machte. Sie lenkte die Wächter ab, um sich in Ruhe entfesseln zu können. Ich war ziemlich stolz auf meine Entdeckung, bis ich bemerkte, dass Ana das Gleiche versuchte.

Mal wieder war ich die Letzte, die kapierte. Typisch.

Mir fiel ein Gedicht ein, das ich mal in der Schule hatte lernen müssen, und begann, es zu rezitieren. Infolgedessen traf mich nun ebenfalls der genervte Blick eines Wächters, dann wandte er die Augen wieder ab und ich begann, meine Hände zu drehen und zu biegen, um an den Knoten heranzukommen.

Ich war noch nicht sehr weit gekommen, als Tran aufhörte zu brabbeln. Verwirrt hielt ich inne und musterte sie. Sie starrte mit leerem Blick nach vorne, doch schien dabei nichts zu sehen. Zumindest nicht ihre Umgebung. Ganz leise, sodass es niemand verstehen konnte, murmelte sie vor sich hin. Wenigstens dachte ich, dass niemand es verstehen konnte, bis ich bemerkte, wie die Wächter jeweils ihren Kopf hoben und ihn leicht zur Seite neigten. Wie eine Katze, die ortete, woher ein bestimmtes Geräusch kam. Konnte es etwa sein, dass sie Tran verstanden?

Kurz schob sich mein anfänglicher, unglaublicher Verdacht wieder in meine Gedanken, bis ich ihn rüde daraus verbannte. Es gab keinen Grund für eine solche Annahme.

Das Murmeln verstummte und Tran blinzelte ein paarmal. Dann fragte sie laut, wo sie stehen geblieben war, und fuhr in ihrem Selbstgespräch fort, während die Sonne im Westen versank.

Die nächsten Stunden waren furchtbar langweilig, denn wir hatten es aufgegeben, die Knoten lösen zu wollen. Tran hatte zwar eine Hand befreit, aber als sie an einem Ende gezogen hatte, die Hand noch immer in der Schlaufe, hatte sich die Fessel wieder geschlossen. Völlig verärgert und erschöpft bat sie die Wächter daraufhin, sie so anzubinden, dass sie sich setzen konnte. Sie stimmten zu, uns eine Viertelstunde die Möglichkeit zu geben, uns zu setzen, waren sogar bereit, uns ein paar Schritte gehen zu lassen.

Wir saßen also eine Weile auf dem kalten Waldboden und konnten etwas herumlaufen, ansonsten standen wir nebeneinander, unterhielten uns und starrten in die Dunkelheit. Einen ganzen Tag waren wir bereits gefesselt, hatten nur zur Mittagszeit jeweils einen Apfel bekommen und uns die Zeit mit dem unsinnigen Versuch freizukommen vertrieben. Ich wusste mir nicht mehr zu helfen, so langweilig war mir, dass ich unsere Wächter nach ihren Namen und den Regeln ihres Spieles fragte. Sie schauten sich eine Sekunde lang fragend an und stellten sich dann als Candaro und Conall vor. Ihr Spiel hingegen erklärten sie mir nicht.

Also grübelte ich über die seltsamen Namen nach, bis ein Kopf auf meiner Schulter landete. Ana war wieder eingeschlafen und hatte mich als Kissen ausgesucht. Auch meine Lider waren schwer, also legte ich meinen Kopf auf ihren und schloss ebenfalls die Augen. Aber obwohl ich völlig erschöpft war, konnte ich nicht einschlafen. Mit geschlossenen Augen klangen die Geräusche des Waldes noch viel intensiver, viel näher.

Als es im Unterholz laut knackte und ich zusammenzuckte, kapitulierte ich und machte die Augen wieder auf. Staunend blickte ich mich um, denn überall in den Bäumen funkelten wieder die Laternen in allen möglichen Farben des Regenbogens. Durch das Licht wurde alles in einen magischen Schein getaucht und in meinem übermüdeten Zustand konnte ich die fantastischen, wunderbaren und seltsamen Gedanken nicht mehr zurückhalten, die auf mich einstürmten.

„Das sind ganz sicher Feen oder Kobolde, Elfen oder sonst etwas Übernatürliches! Hier in Irland sind die Sagen über die sogenannten Sidhe ja weit verbreitet, vielleicht sind das tatsächlich welche. Vielleicht haben sie uns diese Post zukommen lassen, um uns in ihr Reich zu locken und Wechselbälger an unserer statt einzusetzen. Ob es wohl auch Zwerge gibt? Oder vielleicht Kobolde, das würde auch den Namen des Pubs in Grettersane erklären. Aber es muss solche übernatürlichen Wesen geben, ich meine, die spitzen Ohren, das Leben in Bäumen, die Verwandlung in einen Hasen ... Vielleicht müssen wir ihnen Milch und Obst besorgen, damit sie uns freilassen. Sind das vielleicht solche Elfen, die kleine Babys auffressen, um jung zu bleiben? Was wollen sie dann von uns? Vielleicht sind es auch ganz liebe, nette Elfen ...“

Es wäre interessant, auf Feen zu treffen ... oder Sidhe ... oder was auch immer. Schlagartig begriff ich, was ich da dachte, was ich so gern glauben wollte, und verbannte die Gedanken umgehend aus meinem Kopf. Allerdings nur mit mäßigem Erfolg, die Vorstellung von etwas Übernatürlichem spukte weiterhin darin herum.

Tran schien ebenfalls zu schlafen, ihr Kopf war gegen den Stamm gesunken und sie hatte die Augen zu. Da sich niemand dafür zu interessieren schien, fing ich leise an zu singen. Elton Johns Can You Feel The Love Tonight hatte es mir angetan, seit ich König der Löwen das erste Mal gesehen hatte. Leise trällerte ich vor mich hin und die Musik nahm mich komplett ein, erfüllte mich. Bald vergaßen die Wächter weiterzuspielen, stattdessen starrten sie mich mit beinahe glasigen Augen an, die zwischendurch immer wieder klar und argwöhnisch wurden. Doch dieser Argwohn wich stets einem träumerischen Ausdruck, den ich gleichermaßen in den Gesichtern der Baumbewohner, die sich zu mir heruntergelehnt hatten, wahrnahm. Verwirrt und verängstigt sah ich mich um, als mir einfiel, wie die Menge bei meiner Karaokedarbietung im Pub mitgegangen war, und ich entsetzt den Mund zuklappte.

Seit wann konnte ich denn so singen? Ich hatte mich im Musikunterricht immer davor gedrückt, und wenn ich es doch machen musste, dann war es nichts Besonderes gewesen. Wieso also konnte ich es jetzt? Vielleicht war es nur Einbildung und es passierte eigentlich gar nichts, dieser Illusion hatte ich mich zumindest nach dem Karaokeabend hingegeben, aber sehr wahrscheinlich war das nun nicht mehr.

Die Gesichter der Baumbewohner verschwanden wieder hinter den Blättern, aber die Wächter waren noch argwöhnischer geworden und ließen mich ab jetzt gar nicht mehr aus den Augen.

Tran schlug die Augen auf und sagte bewundernd: „Das war echt schön. Wie kannst du nur so wundervoll singen?“

Verwundert schaute ich sie an. „Danke, aber ich weiß es ehrlich nicht. Ich dachte, du würdest schlafen. Was hast du denn gemacht?“

„Ich habe mich etwas ausgeruht, aber ich hab mich nicht getraut, richtig zu schlafen, schließlich könnte ich etwas Wichtiges verpassen. Aber Ana scheint komplett weggetreten zu sein.“

Ich nickte, grinste und fügte spöttisch hinzu: „Dabei müsste sie eigentlich am längsten durchhalten, schließlich ist sie diejenige, die immer bis zum Morgen feiert.“

Da murmelte besagte Partytante verschlafen: „Haha. Ich hab noch nie zwei Nächte am Stück gefeiert. Und sagt jetzt bloß nicht, ihr wäret nicht auch müde.“ Sie hob verschlafen den Kopf von meiner Schulter und blinzelte uns an. Ich konnte mich meiner wachsenden Zuneigung ihr gegenüber nicht erwehren.

„Doch, ich bin echt hundemüde, aber ich kann nicht schlafen. Nicht hier, nicht gefesselt.“ Ich warf Candaro und Conall einen schnellen Blick zu, den sie ungerührt erwiderten. Sie beobachteten mich noch immer aufmerksam.

Tran wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als zwei Gestalten auf uns zueilten. Zwei junge Männer, die in schicke Hemden und weite Hosen aus Stoff gekleidet waren, schienen es eilig zu haben, denn der eine joggte regelrecht. Ihre braunen, kurzen Haare wippten im Takt ihrer Schritte, verdeckten allerdings die runden Ohren nicht. Nicht spitz, nicht außergewöhnlich, ganz normale Ohren.

Der eine blieb vor uns stehen und begrüßte uns knapp mit einem seltsamen Akzent. Der andere redete in einer fremden Sprache mit Candaro und Conall, die nickten und ihr Spiel endgültig wegpackten. Der, der uns begrüßt hatte, stellte sich als Tyr vor. Er betrieb etwas Konversation mit uns, was uns sehr angenehm war, starrte aber zumeist Ana an, was diese wohl noch als viel angenehmer empfand.

Wieso standen immer alle Kerle auf sie? Nur weil sie blond war?

In gewisser Weise war es mir allerdings ganz recht, so konnte ich nicht in Verlegenheit oder ins Rampenlicht geraten, dabei stellte ich mich nämlich immer töricht an.

Der andere, Morin, wie Tyr uns informierte, rief laut etwas in der fremden Sprache und schon bald kamen von überallher Baumbewohner, wie ich sie getauft hatte, herbei und versammelten sich um uns herum. Unsere Wächter, die nun einen Punkt über unseren Köpfen fixierten, richteten sich auf. Automatisch reckten auch wir uns in die Höhe, doch ich bemerkte, dass Ana ihren Blick unruhig umherschweifen ließ und Tran ganz leicht zitterte. Ich spürte, wie meine Handflächen feucht wurden und sich mein Puls beschleunigte. Was hatten die vor? Was bedeutete diese Versammlung? Hatte das etwas mit uns zu tun? Ich hatte ein wirklich ungutes Gefühl.

Da begann Morin zu sprechen. „Ich habe euch zusammengerufen, um zu entscheiden, was mit diesen Verräterinnen passieren soll. Sie haben unsere Göttinnen beleidigt, als sie deren Namen in ihre Münder nahmen, und sind unerlaubt in unser Reich eingedrungen. Was sollen wir also mit ihnen tun? Da Nicja, Conàed, Cobruna und Rijon noch nicht zurück sind, liegt es bei mir, über sie zu entscheiden. Wir müssen darüber beratschlagen, ob wir sie ihrer Erinnerungen berauben oder sie verschwinden lassen. Letztere Maßnahme hätte zur Folge, dass die Menschen in unserem Wald herumtrampeln und sie suchen. Also, was denkt ihr, was wir mit ihnen machen sollen?“

Es blieb still, zumindest eine halbe Minute lang, dann trat ein sehr muskulöser Mann vor und sprach mit bedächtiger Stimme: „Ich denke, wir müssen uns noch nicht entscheiden. Sie sagen, sie hätten Briefe bekommen und darin die Namen der Göttinnen gelesen, deshalb seien sie gekommen. Lasst uns doch warten, bis Nicja wiederkommt. Sie soll entscheiden.“

Ich sah einige der Anwesenden nicken und wollte schon aufatmen, aber Morin schüttelte entschieden den Kopf. „Wir wissen nicht, wie lange es dauert, bis sie zurück ist, und je länger wir die drei hierbehalten, desto schwerer wird es, die erste Maßnahme erfolgreich zu vollziehen. Außerdem wissen wir nicht, ob sie vielleicht in Verbindung zu jenen stehen, für die sie spionieren. Doch sicher ist, dass sie uns gefährlich werden können, je länger wir sie hierbehalten.“

Die Blicke unserer Wächter richteten sich auf mich. Na super!

In diesem Moment glaubte ich, durch das bisschen Gesang alles verdorben zu haben. Ich befürchtete, wir könnten uns gleich entweder an nichts mehr erinnern oder würden sogar sterben. Da bröckelte etwas in mir, ein Teil meiner selbst verschwand komplett und ich sagte mit leiser, durchdringender Stimme: „Wir wurden von euren Göttinnen geschickt, weil sie meinten, ihr hättet Hilfe nötig und wir könnten euch diese gewähren. Auch wenn wir nicht wussten, was eine Toúta ist, was wir tun können, um zu helfen, haben wir uns weggeschlichen und sind in tiefster Nacht in den Wald gegangen, lediglich aufgrund solch merkwürdiger Rätsel. Um zu helfen. Und wie wird es uns gedankt? Wir werden gefesselt, festgehalten und als Verräterinnen beschimpft. Uns wird mit Gedächtnisverlust oder sogar dem Tod gedroht, weil wir helfen wollten. Wir sind komplett unwissend! Ist dies das Werk eurer Göttinnen? Wenn ja, dann können sie mich mal.“

Der letzte Satz war wohl nicht sehr schlau gewesen, das bestätigten mir allein die entgeisterten Blicke meiner Gefährtinnen, aber ich war zu wütend, zu müde und zu frustriert. Ich ließ meine Augen über die Menge wandern und war erfreut, mehrere zweifelnde Mienen zu entdecken.

Morin jedoch hatte sich nicht beeindrucken lassen, er deutete auf mich und sprach in überheblichem Ton weiter. „Dies sind die Worte einer wahren Spionin. Einer gefährlichen, kaltblütigen Spionin noch dazu. Doch nun hat sie ihre Wut auf uns offen gezeigt. An ihrer Schuld besteht kein Zweifel mehr, das haben ihre Worte, diese wohldurchdachten Ausreden, bestätigt. Sie sollte ohne jeden Zweifel Nykra übergeben werden. Sie muss sterben.“

Das Ende seiner Rede erreichte mich nicht. Viel zu sehr wunderte ich mich darüber, wie alles, was ich gesagt hatte, gegen mich verwendet wurde. Mussten sie mir nicht vorher meine Rechte vorlesen oder so etwas? Ich sollte gefährlich sein? Ich kannte nicht einmal den Vorgang bei einer Festnahme und der Kerl hielt mich wirklich für gefährlich? Er musste verrückt sein, komplett verrückt. Es fiel mir ja schon schwer, jeden Morgen an alles zu denken, was ich in meine Tasche packen musste. Oder mich gegen meine Eltern zu behaupten. Mich bei Pan zu etablieren. Oder über meine Schwester zu reden. Wie sollte ich da bitte gefährlich sein?

Plötzlich ‒ mit einiger Verspätung ‒ erreichte mich auch der Rest seiner Worte. Ich sollte sterben. In diesem Moment registrierte ich, dass diejenigen, die mir zuvor geglaubt hatten, mich hasserfüllt ansahen. Niemand glaubte mir. Und ich dachte, wir befänden uns im einundzwanzigsten Jahrhundert. Mit Gerichtsverfahren und Gerechtigkeit!

Sie stimmten darüber ab, was mit uns passieren sollte, so viel bekam ich noch mit, doch als ein einstimmiges „Ja“ ertönte, schwanden mir die Sinne und dankbar ließ ich mich in die Schwärze sinken.

***

Als Vici ohnmächtig wurde, sackte sie kaum zusammen, so stramm waren die Seile, die alle drei fesselten, gebunden. Ana starrte sie einen Moment fassungslos an, dann richtete sie ihren Blick auf Tyr, der hinter Morin stand, und schrie: „Ihr Bastarde! Ihr bescheuerten, in Drecklöchern lebenden Parasiten, ihr habt keine Befugnis dazu, sie zum Tode zu verurteilen.“ Sie hatte einmal ein juristisches Praktikum gemacht, das kam ihr nun zugute. „Die Todesstrafe ist nur noch in einigen Staaten der USA zugelassen und wir befinden uns in Irland, in einem baumverseuchten Wald, der noch dazu stinkt und einen schmutzig macht. Verräter werden heutzutage nur noch zu Geldstrafen oder Gefängnis verdonnert, selbst ihr könnt für Verrat keine schlimmere Strafe verhängen. Vor allem nicht, wenn kein eindeutiger Beweis für ihre Schuld vorliegt.“

Sie schnappte nach Luft und in diesem Moment erklang schallendes Gelächter auf der sonst ruhigen Lichtung. Es stammte von einem der Männer aus der Menge, er hatte seinen erstaunlich mädchenhaften Kopf in den Nacken geworfen und lachte Ana aus. Dann sah er ihr in die Augen und sagte: „Wir sind hier weit entfernt von jedem menschlichen Gericht und es gibt niemanden, der uns daran hindern könnte, unsere eigenen Strafen zu vollstrecken.“ Mit einem Mal wurde er still und ernst. „Und doch, Morin, lass deine Óndra darüber entscheiden, was mit ihnen geschehen soll, sie und ihre Geschwister, denn vielleicht hat sie etwas von Vara empfangen, von dem sie uns nichts erzählt hat.“

Morin zögerte mit einer Antwort, doch als er sie gab, klang sie bestimmt. „So etwas Wichtiges hätte sie mir nicht verschwiegen. Und auch Tyr hätte es in ihren Gedanken lesen können. War da etwas, Tyr?“ Dieser schüttelte den Kopf.

Im Stillen wunderte sich Ana darüber, dass Tyr irgendetwas in den Gedanken eines anderen gesehen haben sollte. Gab es jetzt etwa auch noch dieses Gedankenlesezeug?

Sie hörte nicht weiter zu, als Morin mit demjenigen, der sie ausgelacht hatte, diskutierte, ob sie auf irgendwen warten sollten oder nicht, denn sie wurde von Vici abgelenkt, die langsam den Kopf hob und sich verwirrt umsah. Ihr schien das Geschehene wieder einzufallen, denn sie zuckte zusammen und sah dabei ziemlich erschrocken aus.

Ana fasste sie am Handgelenk, um sie zu beruhigen, und Vici verstand. Schlaues Mädchen.

Doch auch den anderen war nicht verborgen geblieben, dass Vici erwacht war, denn Morin und Tyr waren einen Schritt auf sie zugetreten und beobachteten sie genau.

In dem Moment stürmten vier weitere Gestalten den Platz und die vorderste von ihnen rief: „Macht sie sofort frei!“

Die Menge teilte sich vor der Frau, die auf die Gefangenen, Morin und Tyr zusteuerte. Ana nahm an ihr sofort das lange schwarze Haar und das schwarze Kleid mit Ledermieder wahr, das ihre Figur betonte. Als Letztes registrierte sie die durchdringenden, großen grauen Augen, die die Umgebung geschäftsmäßig und kalt musterten. Anas Blick huschte prompt zu Tran, die schweigend und ungläubig die Szene verfolgt hatte und nun ihrerseits völlig entgeistert die Neue musterte.

Die beiden sahen sich extrem ähnlich, ihre schwarzen Haare waren gleich lang, die Augen grau und groß, und wenn Ana sich nicht täuschte, hatten sie sogar die gleiche Körpergröße. Die Gesichtszüge der Fremden waren vielleicht ein wenig ebenmäßiger, aber ansonsten hatten sie sogar die gleiche Gesichtsform.

Als Anas Blick zurück zu der Neuen schweifte, strich diese gerade kurz mit der Hand über Morins Schulter. Dann zückte sie ein kleines Messer und kam auf die Mädchen zu. Ana spürte, wie Vicis Hand sich anspannte, wie sie verkrampfte, und nahm dieselbe unwillkürliche Reaktion bei sich selbst wahr. Doch der Dolch richtete sich nicht gegen ihre Körper, sondern gegen ihre Fesseln, die nun von ihnen abfielen. Die drei jungen Frauen wankten, als sie wieder auf ihren eigenen Füßen standen, und sahen ihre Befreierin trotzig an.

Die anderen drei Neuankömmlinge, die nicht sogleich nach vorne gestürzt waren, traten derweil näher, vorsichtig und wachsam, wie es schien.

Da erklärte die Frau, die so aussah wie Tran: „Draugrande, diese Menschen sind fürwahr von unseren Göttinnen geschickt worden und wir werden sie aufnehmen in unseren Reihen. Eine Abstimmung ist unnötig.“ Damit drehte sie sich um, ging davon und rief über die Schulter zurück: „Kommt, Mädchen!“

Tran sah ihre beiden Gefährtinnen kurz an, ehe sie der Frau folgte. Vici und Ana tauschten einen verwirrten Blick, schlossen sich ihrer Verbündeten jedoch an. Was hätten sie sonst auch tun sollen?

Sie gingen beinahe durch das gesamte Dorf, bis die Frau vor einem riesigen Baum anhielt. Sein Durchmesser betrug etwa sechs Meter und er reichte so weit hinauf, dass Ana nicht sagen konnte, ob er überhaupt endete. Am Stamm, der wie mehrere verzierte Säulen nebeneinander wirkte, schlängelte sich eine Treppe empor und auf den Ästen, die so breit wie Bürgersteige waren, standen kleine Häuschen, deren Dächer in der Mitte spitz zusammenliefen. Stufen führten von ihnen aus durch den gesamten Baum, sie trafen sich, waren durch Stege miteinander verbunden und führten auf eine große Plattform hoch oben in der Baumkrone, an die ein riesiges, einschüchterndes Haus angrenzte. Es war verziert mit Säulen in verschiedenen Formen und Mustern, die allesamt von Efeu bewachsen waren. Das Gebäude hatte zwei Stockwerke. Die Wand des unteren wurde von zahlreichen mannshohen Fenstern durchbrochen und die des oberen wies eine ähnliche Struktur auf wie die Dächer der Hütten. Der Übergang von einem zum anderen war fließend und verwischte vor ihren Augen.

Ana war nicht aufgefallen, dass sie wie ein hirnloser Idiot mit offenem Mund nach oben gestarrt hatte. Schnell schloss sie ihn und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre nähere Umgebung. Tran und Vici glotzten immer noch nach oben, völlig verzaubert von dem Anblick, während die Neuankömmlinge sie beobachteten. Die Frau und Morin unterhielten sich inzwischen leise, zu leise, als dass Ana etwas verstehen konnte, und Tyr beobachtete sie, zumindest so lange, bis sie ihn anschaute. Da blickte er weg, ein typisches Zeichen für Scham. Wenn sie auch nicht wusste, was sie von alledem hier halten sollte, so kannte sie sich doch mit Jungs aus. Das war beinahe ein Trost, denn sie fühlte sich extrem verloren in diesem Wald. Dass sie damit die Einzige war, wurde klar, sobald man die anderen beiden betrachtete. Sie staunten über alles Neue, waren voller Bewunderung und offen dafür, während Ana ihrem Whiskey und ihren Partys hinterhertrauerte.

Sie stupste Vici und Tran an, die aufschreckten und sich sogar ein bisschen schüttelten. Es erfüllte sie mit Genugtuung, dass die anderen beiden völlig verzaubert dagestanden hatten, während sie einen kühlen Kopf bewahrt hatte.

***

Immer noch beschäftigte Tran die unglaubliche Ähnlichkeit zwischen sich und der Unbekannten, aber die Gedanken daran waren ziemlich schnell vergessen, als sie dieses riesige Baumhaus erblickte. Es war beeindruckend, so weitläufig und irgendwie magisch. Sie hätte stundenlang dastehen und es bewundern können, aber Ana holte sie in die Realität zurück.

Die anderen schienen darauf zu warten, dass sie ihnen weiterhin folgten, denn ihre Retterin hatte bereits einige Stufen der Wendeltreppe erklommen und schaute sie streng an. Die drei Mädchen zogen ihre Köpfe ein und folgten ihr gehorsam, unwissend, was sie erwartete.

Schwer schnaufend kamen sie nach einer gefühlten halben Stunde oben an. Nachdem sie zwei Nächte hindurch beinahe ununterbrochen gestanden hatten, war dieser Aufstieg noch anstrengender gewesen als unter normalen Umständen. Die ganze Zeit hatten sie die verächtlichen Blicke Morins und anderer ertragen müssen und waren nun, nachdem sie endlich oben angekommen waren, nicht nur fertig mit ihren Kräften, sondern auch mit ihren Nerven.

Sie folgten ihren Gastgebern wortlos in das Baumhaus, das innen noch größer war, als der äußere Eindruck vermuten ließ. Das Zimmer, in dem sie sich nun befanden, sah erstaunlich normal aus, so normal, wie ein Zimmer mit Wänden und Boden aus einem einzigen Stück Holz eben sein konnte. Die Einrichtung war karg, es gab bloß einen großen, langen Tisch und eine Menge Stühle rundherum. Auf dem Boden lagen kunstvoll gefertigte Teppiche, teils aus Leinen, teils aus Baumwolle, was eine sehr ungewöhnliche Mischung bildete. Durch die zahlreichen Fenster, die bis zur Decke reichten, drang ein frischer Wind ein.

Den Mädchen wurde bedeutet, sich zu setzen, dann ergriff ihre Retterin das Wort. „Willkommen in unserer Siedlung Sarscali. Ich bin Nicja, dies sind meine Geschwister Cobruna, Conàed und Rijon.“ Nacheinander zeigte sie auf diejenigen, die zusammen mit ihr angekommen waren.

Conàed war der größte der drei, hatte hellbraune Haare, Lippen, für die ein Model morden würde, ein etwas kantiges, aber bartloses Gesicht und intensive blaugrüne Augen, die nun voll Argwohn und Verachtung auf sie gerichtet waren. Sein Körperbau war beeindruckend, denn seine Schultern und seine Brust waren sehr breit, ohne nach Steroiden auszusehen, während seine Hüften schmal und die Beine sehr muskulös wirkten. Rijon war von ähnlicher Statur, wenn auch nicht ganz so ausgeprägt. Er war etwa zehn Zentimeter größer als Cobruna, hatte blaue Augen, ein etwas weicheres Gesicht als Conàed und blonde Haare, die er kürzer trug als sein Bruder, während Cobruna rote, wallende Locken, ein puppengleiches Antlitz und olivgrüne Katzenaugen besaß, die auf Nicja gerichtet waren. Sie alle wirkten blass und so elegant, als würden sie schon ihr Leben lang Ballett tanzen.

„Meinen Gefährten Morin und meinen Sohn Tyr habt ihr ja bereits kennengelernt. Zusammen bilden wir die ... Herrscherfamilie, wenn man es denn so übersetzen kann. Ich möchte mich dafür entschuldigen, wie ihr hier begrüßt wurdet. Wären wir hier gewesen, wäre es wohl etwas anders gekommen.“

Vici, deren bisher ungekannter Kampfgeist wieder aufgeflackert war, unterbrach sie. „Woher sollen wir das wissen? Vielleicht hättet ihr uns sogar sofort getötet, wie es uns schon angedroht wurde. Und was seid ihr für Menschen, dass ihr hier so lebt? Eine Sekte? Kamen von euch die Briefe, die uns hierher gelockt haben?“

Nicjas Lächeln sah gequält aus. „Ihr wäret nicht gestorben, dafür hätte ich gesorgt. Aber ich weiß von keinen Briefen oder von wem sie stammen könnten. Doch es ist nicht wichtig, aus wessen Feder sie flossen, aus ihnen spricht der Wille unserer Göttinnen. Und wir sind keine Sekte, sondern ...“

Da trat Conàed vor und sagte mit schneidender Stimme: „Du brauchst nichts weiter zu erklären, Schwester, bevor wir nicht den Beweis haben, dass sie von den Göttinnen gesandt wurden und nicht doch Verräterinnen sind. Natürlich wurde dir Hilfe prophezeit und die Vermutung, dass es Menschen sein sollen, ist gerechtfertigt, aber ich bezweifle, dass diese schwachen, zierlichen ... Mädchen uns in irgendeiner Weise helfen können.“ Seine Stimme troff vor Verachtung und Argwohn.

Alles in allem war seine Aussage extrem demütigend und Tran wusste nicht, ob sie lieber weggelaufen oder im Boden versunken wäre. Aber irgendwie hatte er recht.

Sie sah, wie Ana ansetzte, ihm etwas Beleidigendes an den Kopf zu werfen, und trat ihr unter dem Tisch gegen das Bein.

Da ergriff Nicja wieder das Wort und machte einen Kommentar Anas sowohl unmöglich als auch unnötig. „Dieses Mädchen“, sie deutete auf Tran, „ist mir erschienen, als ich aus der Großen Höhle kam. Und ich spüre den Segen Varas auf ihnen allen. Und doch, habt ihr die Briefe dabei?“

Wortlos zog Tran die drei Schreiben aus ihrem Rucksack und legte sie auf den Tisch.

Nicja und ihre Geschwister beugten sich darüber und lasen sie. Sie wirkten erschüttert und mit einem Mal von jeglichen Vorbehalten befreit. Zumindest machten sie diesen Eindruck, doch die glatten, schönen Gesichter waren um einiges schwerer zu lesen als alle anderen, die Tran jemals zuvor gesehen hatte. Bis auf eines ...

Sie verbot sich den Gedanken an Sirman sofort und richtete ihre Aufmerksamkeit, so gut es ihr gelang, wieder auf die unterschiedlichen Geschwister. Sie redeten scheinbar aufgewühlt in einer fremden Sprache miteinander, bis Cobruna das Wort an sie richtete.

„Und wieder müssen wir uns entschuldigen, diese Briefe haben euch sicherlich ziemlich verwirrt und geschockt, doch trotzdem seid ihr hergekommen. Wir müssen nun besprechen, was weiter zu tun ist, doch ihr seid sicherlich erschöpft. Ich zeige euch eine Wohnung, in der ihr bleiben könnt, solange ihr bei uns seid.“ Damit winkte sie die verwirrten und müden Mädchen herbei und ging mit ihnen zu einer der kleineren Hütten, die im selben Baum errichtet worden waren.

Tran hatte bemerkt, dass Vici noch etwas hatte einwerfen wollen, doch war sie zu erschöpft gewesen, um sie davon abzuhalten. Zum Glück war Vici schlau genug, ihren Kommentar für sich zu behalten.

Die Hütte bestand aus zwei Räumen, einem Schlafraum mit Truhen und Betten und einer kleinen Kammer mit mehreren Vertiefungen im Boden und in Hüfthöhe auf Podesten.

„Was ist das?“, fragte Ana abwertend.

Falls Cobruna der unfreundliche Ton aufgefallen war, so sagte sie nichts dazu. „Hier ist das Badezimmer. Wasser wird euch gebracht werden.“ Sie waren zu erschöpft zum Antworten. Anschließend erklärte Cobruna ihnen, wo sie etwas zu essen bekommen konnten und wann sie sich am nächsten Morgen im Palast, dem großen Baumhaus, einfinden sollten. Dann verließ sie die Hütte und die Mädchen waren zum ersten Mal seit dem Ritual an der Blutbuche wieder unter sich.

„Sie hat uns trotzdem nicht verraten, was sie sind oder was wir hier machen“, brummelte Vici müde vor sich hin, bevor sie sich in eines der Betten legte, eine dünne Decke über sich zog und den anderen eine gute Nacht wünschte. Sie schloss die Augen und war innerhalb weniger Atemzüge eingeschlafen.

Auch Tran merkte die bleierne Müdigkeit in ihren Gliedern und ging zu dem Bett, das noch nicht von Vici oder Ana, die ebenfalls schon schlief, besetzt wurde. Als sie sich hineinlegte, merkte sie erstaunt, wie weich die Liegestatt war. Und sobald sie die Decke über sich gezogen hatte, fiel sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

Waldlichter

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