Читать книгу Spätes Opfer - A.B. Exner - Страница 10
Bert Klose
ОглавлениеIhre Handschrift hatte sich nur insofern geändert, als sie jetzt ein kleingeschriebenes Z mit einem Tiefhaken wie bei einem kleinen g versah und sie wegen der besseren Übersichtlichkeit einen waagerechten kurzen Strich über den Buchstaben u setzte, damit der besser von ihrem kleinen n zu unterscheiden war. Es ginge ihr sehr gut und sie wolle sich einfach nur mal melden. Aus den folgenden Zeilen konnte ich erkennen, dass es mit Dirk und Vera wieder besser lief. Er war Stahlflechter in einem Baukombinat in Berlin, hatte einen abgeschlossenen Beruf. Sie studierte jetzt im zweiten Semester Humanmedizin und, weil sie Spaß daran hatte, lernte sie neben Russisch und Latein noch Finnisch. Sie bekäme immer nur Einsen und Zweien. Na, das kannte man ja von ihr. Das ganze Studium und die Paukerei bereiteten ihr richtig viel Spaß. Dirk habe sich gefangen, was den Alkohol betraf, rauche aber immer noch. Sie könne sich nicht vorstellen, ihr Leben mit Dirk als Partner zu beenden. Das war der erste Satz, bei dem alle Lampen angingen. Die folgenden Sätze, in denen es um den Gesundheitszustand der Elternteile meiner Freunde ging, musste ich mehrfach beginnen. Dirks Mutter hatte Krebs. Sein Vater käme mit der Situation nicht klar. Der Verfall der geliebten Frau trieb ihn immer wieder in die Kneipe. Ganz offen fragte Vera, ob das „Sich zum-Alkohol-hingezogen-Fühlen“ erblich sei. Wie vorsichtig sie sich ausdrückte. Das war der nächste Dorn in meiner Seele. Ihren eigenen Eltern ginge es gesundheitlich gut. Ihr Vater allerdings werde wohl seine Arbeit verlieren, weil er sich mit Vorgesetzten und Parteigenossen wegen der Planerfüllung nicht einigen könne. Das war wiederum sehr vorsichtig ausgedrückt. Sie wagte nicht, wie sonst absolut ihre Art, Klartext zu schreiben. Verdammt, was war da los? Je mehr ich las, umso mehr verstand ich, dass sie um Hilfe schrie. Und Angst hatte. Und befürchtete, dass wir beide nicht die einzigen waren, die diese Zeilen lasen. Die weiteren zwei Seiten waren gespickt mit Andeutungen. Ich las den Brief dreimal. Dann rannte ich runter zur Regimentskneipe. Dort gab es einen der drei öffentlichen Fernsprecher. Es standen schon zwei Leute an. Beim Clubhaus ebenso. Also rannte ich quer über den Exerzierplatz zum weit entfernten Med.-Punkt. Das Telefon war frei. Nach dem dritten Klingeln ging jemand ran. Ich hörte nicht raus, ob es Mutter oder Tochter war. Ich stellte mich mit meinem Namen vor. Es war ihr Vater. Nach kurzem Hallo, wie geht es und so, rief er Vera. Ich erklärte ihr, dass ich in vierzehn Tagen wieder frei haben könne, um nach Berlin zu kommen. Ob ihr das helfen würde? Sie antwortete nur, dass sie am 21.Mai 1976 in Stralsund sein könne. Ob ich frei bekäme? Das war morgen. Stralsund im Frühsommer war ganz in Ordnung, wenn man die Baulücken akzeptierte. Stralsund ist nicht schön. Die Stadt ist alt. Sicherlich gab es im Krieg Zerstörungen. Bei der Verteidigung der Stadt gegen die anrückende sowjetische Streitmacht gab es sogar elf Tote Hitlerjungen. Dennoch, da der Bürgermeister sich 1945 der Roten Armee sozusagen kampflos ergeben hatte, hielt sich die Zerstörungswut der Siegermacht hier in Grenzen. Somit gab es für die Planungskommission der DDR auch keine Veranlassung, Geld in die jahrhundertealte Bausubstanz der Stadt zu stecken. Seit Beginn des Krieges gab es am Stadtkern nur Ausbesserungen. Was man sah. Und dann sah ich sie. Ich nahm sie in die Arme. Sie hielt mich fest. Zwanzig Jahre zuvor hatten die Amis ihre erste transportable Wasserstoffbombe im Nauruatoll im Pazifik gezündet. Als ich Vera das sagte, hielt sie inne. Es sei die liebenswerteste Macke, die sie je bei einem Kerl kennen gelernt habe. Am Bahnhof hatte ich einen kleinen Strauß Blumen besorgt. Ich hatte ihren Rucksack in der Hand und sie den Strauß. Wir gingen die Bahnhofstraße hoch zum Tribseer Damm. Als wir das Wasser des Frankenteiches sahen, fragte sie mich, weshalb ich mich nach den Küssen im Treppenhaus nie bei ihr gemeldet habe. Die Bank direkt vor uns kam mir gerade recht, um Zeit zu schinden. Natürlich hatte ich mit dieser Frage rechnen müssen. Es hatte mich nicht gekümmert, mich auf unser spontanes Treffen vorzubereiten. Naiv wie ich war, dachte ich, dass mich eine alte Freundin besuchte. Mich besuchte, um mit mir einen moralischen Mülleimer zu haben, dem sie ihre Sorgen anvertrauen könne. Bisschen über alte Zeiten quatschen und so. Als wir saßen, sah ich aus dem Augenwinkel, dass sie mich von der Seite betrachtete. Ich hatte immer noch nicht geantwortet. Ihr zu erklären, dass Dirk mein erster und bester Freund war und es mir nach unseren wirklich fantastischen Küssen nicht gut ging, das fiel leicht. Es war eine Ausrede. Das wussten wir beide. Sie setzte zum Sprechen an und stand auf. Mit einem Strahlen sah sie mir direkt in die Augen. In jeder Faser ihres Körpers steckte eine Verve des Glücks. Ihr Leben war Leichtigkeit, das wollte sie signalisieren. Mich konnte sie täuschen. Sich selbst nicht. Dirk war ihr erster und bester Freund. Hatte ich das nicht gerade auch von mir selbst behauptet? Sie wusste nicht, wie sie sich uns beiden, Dirk und mir, gegenüber verhalten sollte. Ihr Leben sollte geplanter verlaufen, als das ihres Vaters, der inzwischen vor der Parteikontrollkommission Gefahr lief, richtige Probleme zu bekommen. Sie sehnte sich nach Sicherheit und Fürsorge. Sie hatte hinter Dirks Rücken mit seinem Vorgesetzten gesprochen und sich erkundigt, welche Aufstiegschancen Dirk denn in seinem Beruf haben würde. Die Antworten waren erschütternd. Nicht, dass man in einem solchen Beruf keine Möglichkeiten hatte, die Karriereleiter empor zu klettern, es lag an ihm. Dirk war nicht fleißig und nicht zielstrebig. Und er verdiente 100 Mark mehr, als er Vera erzählte. Ihr Zug sollte um 23.51 Uhr vom Bahnsteig drei abfahren. Wir heulten und lachten. Wollten nicht voneinander lassen. Das Zimmer im Bahnhofshotel konnte ich gerade noch so bezahlen. Am Morgen ging es uns beiden besser. Sie durfte mal heulen und lieben. Ich durfte endlich bei ihr sein. Um fünf Uhr dreißig musste ich in der Kaserne sein. Ihr Zug, ja, diesmal fuhr sie wirklich, ging um 8.21 Uhr. Heute Abend wollten wir telefonieren. Beim ersten Klingeln ging sie ran. Dirk war betrunken Moped gefahren, hatte sich dann mit seinem „Sperber“ zugedeckt und schlafend gewartet, bis die Polizei so freundlich gewesen war, ihn zu wecken. Nein, er war nicht verletzt. Nein, er hatte nicht gewusst, dass Vera bei mir war. Er hatte einfach einen getrunken mit seinen Kumpels vom Sportclub in Berlin Lichtenberg, dem die meisten seiner Kollegen angehörten. Und außerdem kostet das kleine Bier in der Vereinskneipe nur 45 Pfennige. Das sei doch nicht schlimm. Scheiße fand er nur, dass sein Moped und seine Flebben weg waren. Vera weinte. Sie liebte Dirk, vermisste mich. Beide waren wir weit weg. Räumlich der eine, seelisch der andere. Als ich wieder in meinem Zimmer war, sah ich den Brief meines Vaters. Ungeöffnet. In Gedanken bei Vera, versuchte ich zu verstehen, was der Alte mir mitteilen wollte. Als ich begriffen und meinen vietnamesischen Kumpel davon informiert hatte, waren meine Gedanken zwar woanders gebunden, meine Seele war dennoch nicht frei. Ich hatte die schönste Nacht meines Lebens hinter mir. Mit der Unerreichbaren. Der Freundin meines besten Freundes. Mein Vater hatte mich informiert, dass an Bord seines Schiffes eine vietnamesische Delegation von ehemaligen Offizieren sei, die in der DDR an Offiziersschulen Vorträge halten sollten. Der erste Anlaufpunkt des Schiffes sei Stralsund. Ich solle mich mal darauf vorbereiten, dass ich ihn am 23. Mai abholen könne. Das war morgen. 23.5.1923 da wurde die Sozialistische Arbeiterinternationale gegründet, aus der dann die Sozialistische Internationale wurde. Heute war wieder ein 23. Mai. Heute kam mein Vater in Stralsund mit einem Schiff voller vietnamesischer Veteranen an. Na toll. Von wegen Veteranen. Alle zwei Köpfe kleiner als ich, aber fit wie ein Turnschuh. Hung begrüßte die Delegation. Unsere Politstellvertreter und die militärische Führung wussten natürlich schon länger über den Besuch Bescheid. Dass mein Vater der Kapitän des Schiffes war und Hung einer der ehemaligen Kampfgefährten der Delegationsteilnehmer, wurde bis zum Erbrechen ausgeschlachtet. Vor allem propagandistisch. Nach zwei Tagen nahm der Trubel ab und Hung mich beiseite. Er habe in seiner Stube ein Präsent für mich. Nach Dienstschluss war ich den Tränen nahe. Freudentränen. Ich glaube zu wissen, dass ich in der ersten halben Stunde, in der ich mir den Kreislaufbeatmer von Hung erklären ließ, nicht einmal an Vera gedacht habe. Die Genossen aus Vietnam hatten alle Kreislaufatemgeräte ausgemustert, warum, wusste Hung selbst nicht. Die Delegation hatte sich dreißig oder vierzig davon einpacken lassen. Die genaue Zahl wusste kein Mensch an Bord. Fünf sollten nach Berlin gehen, zum Tauchclub Nautilus. Zehn sollten die Seelandeeinheiten in Peenemünde erhalten und den Rest sollten die Offiziere der Tauchausbildungsschule auf dem Dänholm in Stralsund nutzen. Die Vietnamesen hatten nichts anderes als diese Art Gastgeschenke. Maximal hätten sie noch amerikanisches Napalm mitbringen können, davon hatten sie ja auch genug. Mit meinem Vater konnte ich einen ganzen Abend allein verbringen. An Bord seines Frachters. Wir redeten über dies und das. Ein Gespräch? Nein, sowas entwickelte sich nicht. Wir warfen einander offene Fragen an den Kopf und hofften auf ausführliche Antworten des anderen. Dennoch erzählte ich ihm alles von Vera. Er erinnerte mich daran, dass ich noch achtzehn Monate bei der Marine zu dienen habe. In dieser Zeit wäre Dirk immer näher an Vera dran. Seine Chancen stünden besser. Ich solle meinen Dienst in Ruhe beenden und mich dann meinem Studium widmen. Wenn dieses Studium in der Nähe von Vera sein könnte, dann gäbe er mir eine Chance. Sonst nicht. Der Abend endete in Hungs Zimmer. Drei von seinen ehemaligen Kameraden waren bei ihm. Er bedeutete mir, nichts von seinem Geschenk zu sagen, und stellte mir ein Glas hin. Zuckerrohrschnaps. So süß, dass mir morgen früh beim Pinkeln definitiv die Ameisen den Strahl hochkrabbeln würden. Am kommenden Morgen verstaute mein Vater Hungs Geschenk in seiner Kammer auf dem Schiff und dampfte Richtung Überseehafen Rostock, wo Mutter ihn schon erwarten würde. Dann war ich wieder allein mit dem Grübeln über Vera und mich. Achtzehn Monate hatte mein Alter gesagt. Scheiße.