Читать книгу Spätes Opfer - A.B. Exner - Страница 6
Bert Klose
ОглавлениеAls wir die Schule 1975 verließen, gab es eine große Abschlussparty. Es war der 19. Mai. Genau an diesem Tag hatte die Japanerin Yunko Tabei mit lediglich einem Sherpa als erste Frau den Mount Everest bestiegen. Der Saal vom Kulturzentrum am Arnimplatz war brechend voll. Vier zehnte Klassen wurden an diesem Abend verabschiedet. Mehr als einhundertzwanzig Schüler nebst familiärem Anhang. Ich saß mit meinen Eltern am selben Tisch wie Dirk und dessen Familie. Dirk Färber war sichtlich erwachsen geworden. Mit seinen hellblonden Haaren und den schwarzen Augenbrauen war er für die meisten Mädels ein erstrebenswerter Fang. Für viele Sehnsüchtige blieb er nur ein Blickfang. Er war mehr als einen Meter achtzig groß, schlank und konnte mit seinem verschmitzten Blick reihenweise Mädchen zum Schmelzen bringen. Kein Mensch wusste, dass Vera kommen würde. Sie betrat den Raum in einem Kleid, welches an die Zeit von Audrey Hepburn erinnerte. Mode der späten fünfziger Jahre. Nur bei Dirk und mir setzte die Atmung aus. Keiner der anderen Mitschüler erkannte Vera. Wie sie später erklärte, durfte sie sich das Kleid aus dem Fundus des Berliner Ensembles ausleihen. Ihre Mutter war in dieser berühmten Ostberliner Bühne die Personalchefin. Seit Vera ihr Interesse für Mode entdeckt hatte, kleidete sie sich immer wieder dort ein. Durch die Reihen schreitend, nicht gehend, sandte sie grüßende Blicke an ihre ehemaligen Klassenkameraden. Dann ging sie brav Guten Abend sagen am Tisch der Klassenlehrerin. Schon während des kurzen Wortwechsels an diesem Tisch suchte ihr Blick aber uns. Sie sah einfach nur hinreißend aus. Das Kleid untermalte ihre sportliche Zierlichkeit. Der Braunton zauberte ein anmutiges Farbkontrastspiel mit ihren hochgesteckten, kastanienbraunen Haaren. Dann stand sie endlich bei uns. Grüßte uns mit dem frechsten Grinsen, zu dem sie fähig war und setzte sich genau zwischen Dirk Färber und mich. Ich saß perfekt, um sie anzuschauen. Der untere Rand des Schattens ihrer schmalen Nase hatte eine Verabredung mit dem süßen Leberfleck rechts unter ihren mit Grübchen geschmückten Mundwinkeln. Sie war nicht dezent, sie war nur untermalend geschminkt. Die Grundausstrahlung ihrer Schönheit war pure Natur. In diesem Moment begriff ich, was Dirk Färber in der ersten Klasse schon gesehen hatte. Ich würde sie ihm nie streitig machen. Sie war nicht mehr unser beider Vera. Sicher. Dirk kochte. Sein Gesicht hatte die Endstufe der Farbe Rot schon erreicht. Ich blickte unter den Tisch. Vera hatte die Schuhe ausgezogen und spielte mit ihrer linken großen Zehe mit der Socke des Freundes. Sie versuchte, die Socke nach unten zu ziehen. Dirks Hände ruhten verkrampft in seinem Schoß. Sie wollte mehr von ihm, als er jetzt in der Lage war zu geben. Sie würde seine Freundin werden, meine nicht. Sicher. Ich war bis in die letzten Nervenrezeptoren unter meiner Haut in Vera verliebt. Das war ganz sicher.