Читать книгу Mord aus gutem Hause - Achim Kaul - Страница 4
2. Kapitel
ОглавлениеZweifel wollte sich auf nichts einlassen. Sein Vater hatte das Marmeladenglas in beide Hände genommen und drehte es hin und her.
»Eine Vater-Sohn-WG wär doch mal was anderes«, brummte er. »Ed hat da überhaupt kein Problem damit. Wichtig ist ’ne klare Aufgabenverteilung. Du gehst zur Arbeit, um den Rest kümmert sich Ed. Das ist er gewohnt.« Zweifel nahm ihm die Erdbeermarmelade aus der Hand und stellte das Glas demonstrativ in den Kühlschrank.
»Du fällst nicht mit der Tür ins Haus, du bretterst mit ’nem LKW in meine Küche. So funktioniert das nicht.«
»Käme auf einen Versuch an. Und was den LKW angeht — das bisschen Zeug, was Ed hat, passt in einen VW Käfer.« Ed fischte ein Zuckertütchen aus der Schale, riss eine Ecke ab und beglückte den Orangensaft mit einer weiteren Überdosis. Zweifel beobachtete irritiert, wie sein Vater das Glas mit der linken Hand drehte und suchte nach Worten.
»Es geht nicht. Ich will es nicht. Such dir bitte ein anderes Nest.«
»Machst du dir Sorgen um deinen Zuckervorrat?«
»Ich mach mir keine Sorgen. Ich ziehe um.« Eds rechte Hand verharrte mit dem inzwischen leeren Zuckertütchen zwischen Daumen und Zeigefinger über dem Orangensaft.
»Wohin?«, fragte er, ohne seinen Sohn anzusehen.
»Nach Friedberg.«
»Welches Friedberg?«
»Bei Augsburg.«
»Wann?«
»Ich bin mittendrin.«
»Sieht gar nicht so aus.« Zweifel seufzte.
»Liegt vielleicht daran, dass mein Zeug auch in einen VW Käfer passt.«
»Hast du einen?«
»Was?«
»VW Käfer.«
»Nein.«
»Sondern?« Zweifel stieß noch einen tiefen Seufzer aus.
»Cadillac Eldorado 1959.« Sein Vater warf ihm einen kurzen Blick zu und knüllte das Papiertütchen zusammen.
»Viel zu schade für die Straße«, meinte er.
»Das sehe ich anders. Ich sehe überhaupt vieles anders, als du, Dad, und deswegen würde es nicht funktionieren.« Ed warf ihm einen langen Blick zu.
»Das sehe ich anders.« Unwillkürlich mussten beide lächeln.
»Hört sich besser an, wenn du nicht in der dritten Person von dir redest«, sagte Zweifel und stellte die Margarine in den Kühlschrank. Sein Vater ließ sich von dem Frühstücks-Barhocker rutschen und hob einen Zeigefinger.
»Ich hab keine Ahnung, wovon du sprichst.« Er machte ein paar Schritte zur Tür hin, dann drehte er sich um. Seine grünen Augen musterten Zweifel.
»Nach Eds Erfahrung gibt es drei triftige Gründe für einen Umzug: Du brauchst einen neuen Chef, du bist einer Frau auf der Spur oder du hast was ausgefressen.« Zweifel verschränkte die Arme.
»Du hast einen Grund vergessen.«
»Und der wäre?«
»Flucht.«
»Bist du auf der Flucht?«
»Ich nicht, aber ich bin jetzt mal von dir ausgegangen.« Edwin Zweifel kam wieder zurück und stellte sich direkt vor seinen Sohn hin.
»Wenn du glaubst, dass ich damals vor irgendwas geflohen bin, dann …« Er stockte, verlor die Konzentration. Er schloss die Augen und presste Daumen und Zeigefinger an seine Nasenwurzel. Als er den Satz beendete, war seine Stimme deutlich leiser geworden.
»… dann hast du vermutlich Recht. Aber«, und wieder der Zeigefinger, »nur aus deiner Sicht. Für Ed war das keine Flucht. Wovor hätte er auch fliehen sollen?«
»Vor mir.« Die Worte waren draußen, bevor Zweifel einen Gedanken fassen konnte.
»Du weißt, dass das Blödsinn ist.«
»Damals wusste ich es nicht. Mutter war tot und du bist drei Tage nach der Beerdigung verschwunden.«
»Du warst alt genug und Ed hat jeden Monat einen Scheck …« Zweifel winkte ab.
»Ich weiß, ich weiß.« Er seufzte zum dritten Mal an diesem Morgen. »Warum das alles wieder aufwärmen?«
»Ed hat nicht davon angefangen.«
»Wenn man davon absieht, dass du dein Comeback in meiner Küche probst.«
»Das hielt Ed für am effektivsten.« Zweifel ließ seine flache Hand auf die Küchentheke fallen. Das Problemlösungs-räderwerk in seinem Kopf hatte bereits zu rattern begonnen. Er hatte jedoch keine Lust, die Probleme seines Vaters zu lösen.
»Effektiv vielleicht, was den Zuckerverbrauch angeht, aber nicht erfolgreich, Dad. Ich kann dir nicht helfen. Meine neue Wohnung ist nicht groß genug.«
»Das hat Ed schon begriffen. Du willst nicht. Trotzdem wäre es interessant, zu erfahren, warum dieser Ortswechsel …« Zweifel unterbrach ihn.
»Das überlass ich deiner Fantasie. Ein paar Gründe sind ja schon gefallen. Such dir einen aus.« Edwin Zweifel fuhr mit beiden Händen durch seinen wirren weißen Haarschopf, dann schnalzte er mit der Zunge und wandte sich erneut zum Gehen.
»Falls du Hilfe brauchst«, sagte er, schon im Flur mit der Hand auf der Klinke und ohne seinen Sohn anzusehen, »wird Ed dich schon finden.« Er öffnete die Eingangstür, trat ins Treppenhaus und zog sie hinter sich zu. Zweifel starrte in den Flur, der so leer war wie immer und ertappte sich bei dem Gedanken, dass Ed das gelingen möge. Als er eine halbe Stunde später seine Wohnung verließ, entdeckte er die Visitenkarte auf der Matte vor der Eingangstür. „Ed Z.“ stand darauf, „Überlebenskünstler“. Handschriftlich war eine Mobilfunknummer ergänzt.
Jocelyn sah Melzick als erste und winkte ihr mit einem zusammengerollten Transparent durch die offene Tür zu. In den beiden Großraum-Waggons des 9 Uhr 30-Zuges der Bayerischen Regio-Bahn von Bad Wörishofen nach Augsburg herrschte ein Gedränge wie in einem Airbus, nachdem der Pilot die Turbinen abgeschaltet und die Passagiere gebeten hat, sitzenzubleiben. Etwa zehn bis fünfzehn Senioren, allesamt im neonfarbenen Radler-Dress bewachten mit grimmigen Blicken die E-Mountainbikes, mit denen sie eine Expedition ins Altmühltal wagen wollten. Der Anführer, der als einziger seinen Fahrradhelm aufbehalten hatte, erteilte seinem Trupp laustarke Instruktionen. Keiner hörte ihm zu, außer den Fahrgästen, die die Gefahr zu spät erkannt hatten und aus Platzmangel gezwungen waren, in seiner Hörweite für die nächste Stunde sitzenzubleiben. Zacharias hatte den Wichtigtuer rechtzeitig bemerkt und mit Jocelyn einen Platz im vorderen Waggon ergattert. Melzick schloss ihr klappriges Dreigangrad ab und hastete den Bahnsteig entlang. Ein nerviges unerbittliches Piepen zeigte an, dass es höchste Zeit war. Zacharias blockierte wie zufällig die Lichtschranke der automatischen Tür. Mit dem letzten Piepton sprang Melzick auf.
»Zurückbleiben! Zefix!«, fauchte die Stimme des Zugführers aus dem Lautsprecher über ihnen. Zacharias grinste seine Schwester an und hob die Hand. Melzick schlug klatschend ein und nickte Jocelyn zu, die sie auf ihre scheue Art anlächelte.
»Jetzt nehmen Sie doch mal das Gelump aus meinem Gesicht!«, keifte eine Frauenstimme hinter dem Rücken der jungen Afrikanerin. Jocelyn versuchte, das Transparent auf der Gepäckablage unterzubringen. Zacharias half ihr dabei und murmelte eine Entschuldigung in Richtung der etwa fünfzigjährigen, korpulenten Frau im hellblauen Kostüm, die den sorgfältig frisierten Kopf schüttelte.
»Dürfen die überhaupt mit dem Zug fahren?«, war dumpf eine zweite Stimme zu hören. Die Nägel der vorgehaltenen Hand waren korallenrot lackiert, passend zur lila überhauchten Kurzhaarfrisur der Fragestellerin.
»Ich dachte, die dürfen ihren festen Bereich, also ihr Reservat oder wie man das nennt, nicht so einfach verlassen«, schob sie hinterher.
»Die Frage ist doch, wer denen die Fahrkarte zahlt«, mischte sich ein blasser, hochgewachsener junger Mann im enggeschnittenen silbergrau glänzenden Anzug ein. Sein Adamsapfel kämpfte gegen den straffgezogenen Knoten seiner schmalen Krawatte. Melzick wechselte einen Blick mit Zacharias und berührte Jocelyn leicht am Unterarm. Am besten ignorieren, war die Devise.
»Ich geb euch bis Buchloe Zeit«, dachte Melzick jedoch für sich. »Bis dahin dürft ihr euch auskotzen, von mir aus. Wer uns danach noch mit einer derartigen Wortmeldung beglückt, wird eine Bewusstseinserweiterung erleben.« Zacharias lehnte wegen der Enge lässig mit einer Schulter an der automatischen Tür. Jocelyn neben ihm wirkte so, als wollte sie sich unsichtbar machen. Melzick fragte sich nicht zum ersten Mal, ob es eine gute Idee von Zacks Freundin war, an der Demo teilzunehmen. Sie musterte stirnrunzelnd ihren Bruder, der sich in seinen ausgebeulten Jogginghosen, dem Schlabbershirt und den viel zu großen Sneakers sichtlich wohl zu fühlen schien.
»Guck nicht so«, sagte er, »das sind meine besten Klamotten.«
»Schon klar. Wie viele Leutchen werden wir denn sein?«, fragte sie. Zacharias zog die Nase kraus.
»Also, angemeldet sind 2000, aber Phil rechnet mit fast 5000. Aus Berlin, Köln und Hamburg haben sich große Gruppen angesagt.«
»Phil ist wer nochmal?«
»Der hat die Demo initiiert und organisiert. Du hast ja keinen Schimmer, was für’n Aufwand das ist.«
»Doch, hab ich.« Zacharias verdrehte die Augen.
»Schwesterchen, du kennst doch nur die andere Seite.«
»Ich war mal in München dabei. 30000 Leute, Marienplatz, fünfunddreißig Grad in der Sonne. Ich weiß, wie so was abläuft.«
»Ach ja? Wie viele ›Begleiter‹ waren denn da?« Zacharias sprach die Anführungszeichen mit. Melzick zuckte mit den Schultern.
»Werden wohl so um die 800 Kollegen gewesen sein.«
»Und was, glaubst du, lässt sich leichter organisieren?« Bevor Melzick antworten konnte, meldete sich der blasse Anzugträger zu Wort, der direkt hinter ihr stand.
»Ich hab gelesen, dass diese Demonstrationen«, er sprach dieses Wort in Großbuchstaben, »den Steuerzahler jedes Jahr Millionen kosten. Millionen!« Die korpulente Dame in hellblau fühlte sich angesprochen.
»Es ist einfach unglaublich. Was gibt es denn überhaupt zu demonstrieren? Hier in Deutschland?«
»Nächster Halt Buchloe. Bitte in Fahrtrichtung rrrächts aussteigen«, mischte sich der Zugführer zackig ein.
»Und dann kommen welche von sonst woher und machen ihren grässlichen Zinnober hier bei uns. Zuhause, da wo sie hingehören, würden sie dafür ausgepeitscht«, meinte die Frau mit den grellroten Fingernägeln. Jocelyn wusste nicht, wo sie hinschauen sollte. Ihre Gesichtsfarbe war noch einen Hauch dunkler geworden. Zacharias holte tief Luft. Melzick stupste ihn an und schüttelte den Kopf. Der Zug hielt. Es stiegen nur wenige Fahrgäste aus. Aus dem hinteren Waggon waren empörte Stimmen zu hören. Die Mountainbike-Schwadron kam mit einer Gruppe rüstiger Wanderer, jeder mit einem Survival-Paket von der Größe eines Seesacks auf dem Rücken, ins Gehege. Die Woche über wurden die Egos gehätschelt und gepflegt, um an Samstagvormittagen in den Zügen der DB aufeinander zu prallen. Die Stimmung heizte sich auf. Melzick wartete auf die nächste Durchsage.
»Zurrrückbleiben«, blökte der Zugführer. Der Zug nahm Fahrt auf und verließ den Bahnhof Buchloe.
»Man kann überhaupt nicht mehr ungestört einkaufen«, beschwerte sich die Dame in hellblau. »Ständig diese plärrenden Jugendlichen mitten in der Innenstadt zur Hauptgeschäftszeit.« Längst nicht mehr hinter vorgehaltener Hand gab die andere Diskussionsteilnehmerin ihren scharfen Senf dazu.
»Kein Deutsch können, aber dämliche Parolen grölen.«
»Wissen Sie, was das die deutsche Wirtschaft kostet?«, maulte der Anzugträger und zerrte an seiner Krawatte. Der Zug machte einige ruckartige Seitwärtsbewegungen, bis er im richtigen Gleis nach Augsburg war. Die Frau in hellblau verlor den Halt und rempelte Jocelyn an. Zacharias runzelte die Stirn. Obwohl die Kostümträgerin sich nicht entschuldigt hatte, drehte sich Jocelyn zu ihr um und sagte in akzentfreiem Deutsch:
»Das macht doch nichts.« Es war einer der ersten Sätze, die sie gelernt hatte. Sie eignete sich die deutsche Sprache in ganzen Sätzen an. Zacharias brachte sie ihr bei. Sie hatte ein gutes Ohr und schaffte es spielend, jeglichen fremdartigen Tonfall zu vermeiden. Sie klang wie jemand, der nie etwas anderes als glasklares Hochdeutsch gesprochen hatte. Zacharias reagierte sofort.
»Hast du gewusst«, sagte er unüberhörbar für die Umstehenden, »dass fünfundachtig Prozent der Deutschen es nicht für nötig halten, sich zu entschuldigen, wenn sie jemanden anrempeln?« Melzick unterdrückte ein Grinsen und nickte.
»Hab ich auch gelesen. In Bayern sollen es sogar fünfundneunzig Prozent sein. Ist ’ne ganz neue Studie.« Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie die Frau hinter Jocelyn rot anlief.
»Ja ja«, seufzte Melzick, »ist ’ne traurige Sache mit der Unhöflichkeit der Deutschen. So was ist in anderen Ländern einfach undenkbar.«
»Man sollte die Leute eigentlich davor warnen«, pflichtete Zacharias bei.
»Oh, das steht schon in vielen Reiseführern«, sagte Melzick. »Das wird die Touristen ganz schön abschrecken.« Zacharias schnalzte mit der Zunge.
»Gar nicht auszudenken, wie sich das auf die deutsche Wirtschaft auswirkt. Was meinen Sie?« Er hatte den blassen Anzugträger direkt angesprochen. Der rümpfte angewidert die Nase und blickte demonstrativ gelangweilt an Zacharias vorbei. Sein Adamsapfel machte dabei allerdings ein paar heftige Klimmzüge. Der Zug näherte sich seiner Höchstgeschwindigkeit. Die Klimaanlage war im Urlaub. Die Vormittagssonne brannte durch die großen Panoramascheiben.
»Hat jemand ’ne Ahnung, woher das Wort Arroganz kommt?«, fragte Zacharias in die Runde. Melzick hüstelte vornehm.
»Jo. Das wurde im 18. Jahrhundert aus dem Französischen entlehnt. Arrogant« (sie sprach es genüsslich gedehnt aus) »hat damals auch hochnäsig bedeutet, wird aber heutzutage mehr im Sinne von eingebildet verwendet«. Auf der Stirn des Schlipsträgers machte sich eine Zornesfalte bemerkbar, umrahmt von winzigen Schweißtröpfchen.
»Ursprünglich geht es auf das lateinische „arrogans“ gleich anmaßend zurück«, fügte Melzick strahlend hinzu.
»Anscheinend gab es schon damals Zeitgenossen, die dieses Attribut verdienten«, sinnierte Zacharias. Melzick bemerkte, wie ruhig es plötzlich um sie herum geworden war. Sie fing ein scheues Lächeln von Jocelyn auf und ein freches Grinsen von Zacharias, der noch nicht genug hatte.
»Wie ist es mit borniert? Hört sich auch irgendwie französisch an.«
»Jep«, sagte Melzick. »Kommt von borne, der Grenzstein. Bedeutet engstirnig.« Sie sprach das Wort laut und deutlich aus mit unmittelbarer Wirkung auf einige in der Nähe befindliche Stirnen.
»Ja, dann fehlt eigentlich nur noch ignorant«, verkündete Zack fröhlich. Melzick nickte und wirbelte ihre hennaroten Dreadlocks durcheinander.
»Das ist ein besonders schönes Wort. Diesmal wieder aus dem Lateinischen.«
»Und bedeutet?«, fragte Zacharias.
»Ja, das musst du dir auf der Zunge zergehen lassen: von tadelnswerter Unwissenheit zeugend.« Zacharias hob eine Hand und Melzick schlug ein.
»Hätte ich nicht besser formulieren können«, meinte Zacharias und blickte freundlich in die Runde. Hinter Jocelyns Rücken war ein undefinierbares Zischen zu hören. Die Dame in hellblau flüsterte ihrer Begleiterin mit den korallenroten Fingernägeln ein paar deutsche Worte ins von goldenen Klunkern bewachte Ohr. Der junge Mann im engen Designer-Anzug war zwischen ignorieren und reagieren hin- und hergerissen. Die schmale Krawatte bewahrte seinen Kragen nur mühsam vorm Platzen. Als die allerseits erleichtert aufgenommene Durchsage:
»Nächster Halt Augsburg Hauptbahnhof, Ausstieg in Fahrtrichtung lllinks«, ertönte, beugte er sich zu Zacharias herab.
»Für einen Hartz-IV-Schmarotzer reißt du dein Mäulchen ganz schön weit auf«, raunte er ihm zu. Zacharias schenkte ihm sein unverschämtestes Grinsen.
»Als selbständiger Unternehmer bin ich es gewohnt, Menschen sicher einzuschätzen, was ihre Fähigkeiten angeht. Ihre schmale Krawatte deutet da auf eine eher enge Bandbreite hin. Sie sollten außerdem an Ihren Vorurteilen arbeiten. Die sind irgendwie noch nicht ausgereift. Ich würde Ihnen ja gerne näher erläutern, wie das geht, aber ich fürchte, ich habe jetzt was Besseres vor. Es gibt da aber sicher einen auch für Sie erschwinglichen VHS-Kurs.« Melzick hatte ihrem Bruder staunend zugehört, während sie das Transparent aus der Gepäckablage fischte. Der Zug hielt mit einem kräftigen Ruck, so als ob der Zugführer seinen Fahrgästen einen Schlag ins Genick mit auf den Weg geben wollte. Jocelyn drückte auf den grün leuchtenden Taster und war als Erste auf dem Bahnsteig. Melzick und Zacharias folgten ihr. An der Treppe warteten sie, bis sämtliche Fahrgäste an ihnen vorbei waren. Einige nickten ihnen zu. Ein schmalbrüstiger Herr mit abgewetzter Aktentasche, Typ Oberstudienrat, zwinkerte sogar in ihre Richtung. Die beiden pastellfarbenen Damen hatten es auffallend eilig, an ihnen vorbeizukommen. Von dem jungen Anzugträger war nichts zu sehen.
»Wahrscheinlich hat er sich aufs Klo verzogen und googelt den Unterschied zwischen impertinent und inkontinent«, meinte Zacharias.
»Seit wann hast du denn diesen Geschäftsführerton drauf?«
Zacharias zwinkerte Jocelyn zu.
»Wir arbeiten viel daran«, meinte sie, ein weiterer Satz aus ihrem Repertoire. Melzick legte beiden eine Hand auf die Schulter, wobei ihr das Transparent herunterfiel.
»Ich bin schwer beeindruckt.« Zacharias bückte sich und hob es auf.
»Das lässt sich noch steigern, Mel, wait and see.« Sie gingen langsam die Treppe hinunter, um zum südöstlichen Ausgang zu gelangen.
»Sind wir nicht ein bisschen früh dran?«, fragte Melzick.
»Was hast du denn gefrühstückt?«
»’Ne halbe Grapefruit.«
»Dacht ich mir. Deswegen gehen wir jetzt zum Brunchen ins „Dreizehn“.
»Ins „Dreizehn“?«
»Genau. Bei der Kresslesmühle. Das beste vegane Restaurant Downtown. Wir sind bei der Demo locker drei Stunden auf den Beinen. Da brauchst du ordentlich Power. Da reicht dein Pampelmüschen nicht.«
»Schon gut, du hast mich überredet.« Sie drehte sich zu Jocelyn um, die versuchte, mit den beiden Schritt zu halten.
»Und du verrätst mir, wie du so schnell Deutsch gelernt hast.« Jocelyn warf Zack einen fragenden Blick zu. Der gab ihr ein Zeichen.
»Die deutsche Sprache ist ein wunderbarer Wald, aber ich kenne erst ein paar Bäume.« Melzick blieb vor Staunen der Mund offen stehen.
»Aha.« Zacharias schaute angestrengt zur Seite, aber er wusste in diesem Moment, dass seine Schwester ihn zu diesem Thema bei Gelegenheit nochmal interviewen würde.