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7. Kapitel
ОглавлениеMelzick sah, wie sich der Alte zu seinem Hund hinunterbeugte. Sie atmete erleichtert auf und hörte im gleichen Moment einen markerschütternden Schrei. Zwei Schülerinnen, vielleicht vierzehn Jahre alt, mit Greta-Zöpfen in Rot und Schwarz und mit weit aufgerissenen Augen rannten direkt auf sie zu. Melzick breitete die Arme aus und stoppte sie.
»Halt, halt, halt, Mädchen!« Die beiden sahen den jungen Bereitschaftspolizisten, der sein Sprechfunkgerät ans Ohr hielt. Melzick beachteten sie gar nicht.
»Er ist getroffen! Sein Bein! Sie müssen kommen! Das Bein ist kaputt! Schnell! Schnell!«, schrien sie wild durcheinander und zerrten an der Uniform des Polizisten. Er schüttelte sie ab und drehte sich weg.
»Ruhig, Mädels, ganz ruhig. Ich bin auch von der Polizei. Was ist passiert?« Endlich beachteten sie Melzick. Zum Glück hatten sie keinen Blick für die Leiche, vor der Melzick breitbeinig und mit verschränkten Armen stand. Melzicks Ton wirkte beruhigend auf die beiden. Die Rothaarige antwortete.
»Mein Papa! Er liegt da vorn. Etwas ist mit seinem Bein. Er blutet ganz stark, es hört nicht auf. Und ich glaube, er ist bewusstlos.« Das schwarzhaarige Mädchen nickte heftig.
»Den hat was getroffen. Ganz plötzlich. Ich war direkt daneben.«
»Wo ist er?« Beide deuteten mit ausgestreckten Armen auf eine Stelle etwa sieben oder acht Meter rechts von dem alten Mann mit dem Hund.
»Okay, mein Kollege hier geht mit euch rüber. Wir holen sofort einen Arzt. Wir helfen euch. Wir helfen deinem Vater, okay?« Beide nickten heftig. Melzick drehte sich zu dem jungen Bereitschaftspolizisten um, der sein Sprechfunkgerät einsteckte.
»In zwei Minuten ist Verstärkung da«, sagte er. Melzick schaffte es, ein Lächeln auf ihr Gesicht zu zaubern.
»Wie heißen Sie eigentlich?«
»Griebl, wie der OB, nur mit e.«
»Gut. Zu mir kann man Melzick sagen«, sagte Melzick, die keine Ahnung hatte, wie der Oberbürgermeister von Augsburg hieß. »Gehen Sie mit den zwei Mädchen mit. Irgendwo da drüben liegt der Vater von ihr hier. Höchstwahrscheinlich hat er einen Schuss abbekommen.« Griebl reagierte sofort, ohne unnötige Fragen zu stellen, wie Melzick erleichtert feststellte. »Guter Mann«, dachte sie. »Was geht heute bloß hier ab? Schießt da ein Irrer auf die Demonstranten? Zum Glück hat die Masse nichts davon mitbekommen. Aber wo hat er sich versteckt? Sicher irgendwo erhöht, um einen guten Überblick zu haben.« Melzick prüfte rasch die Möglichkeiten ringsum, entdeckte aber nichts Verdächtiges. Die Trommelgruppe war nun schon ein gutes Stück entfernt. Augenblicklich bewegte sich ein etwas ruhigerer Teil der Demonstration an ihr vorbei. Die Leute waren zwar gut mit Bannern und Plakaten bestückt, schienen aber den stillen Protest vorzuziehen. Sie waren aber auch aufmerksamer, was Melzick gar nicht recht war. Immer häufiger zog sie die Blicke auf sich. Irgendeine Decke oder ein Mantel, um den Körper des toten Mannes zu verbergen, wäre gut gewesen. Auch wenn ihn die meisten wohl für eine Schnapsleiche hielten. Sie sah den Klamottenladen, in dem Zacharias mit Jocelyn verschwunden war. Ihr Bruder kam heraus und entdeckte sie sofort. Eilig kam er heran. Er war kreidebleich im Gesicht.
»Ist er …«, fragte er mit Blick auf den Mann namens Falk. Melzick nickte.
»Wir müssen ihn irgendwie zudecken. Vielleicht …«
»Ich hol was.« Er war schon auf dem Weg zurück zu dem Laden.
»Und Jocelyn?«, rief Melzick ihm nach. Er antwortete nicht, sondern reckte nur den Daumen in die Höhe.
»Nur ein Streifschuss«, dachte Melzick, »nichts Ernstes. Oder doch?« Was hier passierte war vielleicht ernster, als sie sich vorstellen konnte. Wieso hatte sie die Schüsse nicht gehört? Und was, wenn es noch mehr Schüsse gab? Es war auf die Schnelle nicht möglich, festzustellen, von wo geschossen worden war. Wie sollte man die Leute schützen? Wird das ein Amoklauf werden? Sie musste an Phils Worte denken: »Das wird viel mehr, das kann ich dir versprechen.« Dieser Falk war erschossen worden, Jocelyn war getroffen und der Vater des rothaarigen Mädchens. Die Wahrscheinlichkeit, dass über diese Demo in der Tagesschau berichtet werden würde, wuchs mit jedem weiteren Opfer. Was für ein zynischer Gedanke. Melzick schüttelte ihre wilde Haarmähne und zum ersten Mal an diesem Tag dachte sie an Zweifel.
Lucy war gerade dabei, ihrem Gast eine dritte Tasse einzuschenken, als ihr Telefon läutete.
»Mel! Schön, dass du anrufst. Willst du etwa doch noch vorbeikommen? Es ist noch jede Menge übrig von meinem Resteessen. Wenn du …« Den Rest verschluckte sie. Melzick brauchte nur wenige Worte.
»Adam!«, rief Lucy und ihr Ton ließ ihn sofort aufspringen. Er nahm Lucy den Hörer aus der Hand.
»Melzick, was gibt es?« Er lauschte etwa dreißig Sekunden und sah dabei Lucy an, die eine Hand vor den Mund hielt.
»Wer hat die Einsatzleitung? Verstehe. Bin schon unterwegs.« Er legte auf.
»Was ist…?«, fragte Lucy. Zweifel war schon an der Tür.
»Melzick spricht von einem Amoklauf.«
»Bei der Demo?«, hauchte Lucy fassungslos.
»Tun Sie mir einen Gefallen, Lucy. Von den Augsburger Kollegen kenne ich noch niemanden. Könnte sein, dass ich Ihre spezielle Hilfe brauche.« Sie nickte, wenn sie auch keine Vorstellung davon hatte, was genau er damit meinte. Er suchte in der Jackentasche nach seinem Autoschlüssel.
»Ihr Menü war unvergesslich. Ich werde mich revanchieren.« Schon war er draußen.
»Oh Gott!«, rief sie ihm nach.
Der Strom der Demonstranten riss immer noch nicht ab. Die Spitze mit Phil am Megafon war schon längst durch die Steinstraße zum Rathausplatz marschiert. Sie konnte seine Stimme hören, die durch die kurze Querstraße „Unter dem Bogen“ verzerrt herüberschallte. Melzick sah den jungen Polizisten Griebl in einiger Entfernung auf der anderen Seite der Annastraße. Er kniete neben einem Mann, der dort an der Mauer auf dem Boden lag, und sprach in sein Funkgerät. Sie sah auch die beiden Mädchen. Eines hielt sich die Hände vor das Gesicht und weinte, das andere stand hilflos daneben und wusste nicht, wie es die Freundin trösten sollte.
»Nicht noch ein Todesopfer«, dachte Melzick. Zacharias kam mit zwei kleinen Decken an.
»Wir sollen keine Flecken reinbringen«, sagte er.
»Das glaub ich jetzt nicht«, stöhnte Melzick. »Wissen die überhaupt, was passiert ist?«
»Natürlich nicht, Mel. Ich geh doch da nicht rein und sag ›haben Sie mal was zum Zudecken, wir hätten da ’ne Leiche‹!«, zischte er. »Die denken, das ist ein bewusstloser Penner.«
»Ok, das hat du gut hingekriegt.« Er nickte und war immer noch so blass wie Milchschaum. Sie legten die beiden buntkarierten Decken auf den leblosen Körper.
»Die sind zu kurz«, sagte Zacharias, »die Schuhe schauen raus.«
»Ist unauffälliger, wenn wir den Kopf freilassen«, sagte Melzick. Zacharias starrte sie an.
»Was ist da los, Mel? Verdammt, was ist da passiert?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass jemand in die Menge geschossen hat. Wie geht es Jocelyn wirklich?« Zacharias schüttelte den Kopf.
»Wir haben ’nen Druckverband gemacht und ihr Aspirin gegeben. Die Wunde ist wahrscheinlich nicht so schlimm. Aber sie dreht fast durch vor Angst.«
»Dann geh zu ihr. Die Ärzte müssen gleich da sein. Bleib auf jeden Fall in ihrer Nähe.«
»Du meinst doch nicht etwa, dass sie absichtlich angeschossen wurde, weil sie eine Schwarze …«
»Ich sag doch, ich weiß es nicht. Behalt die Nerven. Bleib ruhig. Denk nicht zu viel nach.« Zacharias schnaufte verächtlich und ließ Melzick allein.
»Was ist hier los? Wer sind Sie und was tun Sie hier?«, schnarrte eine unangenehme Stimme hinter Melzick. Sie drehte sich um und stand einem Polizisten gegenüber, der sie in Haltung und Gesichtsausdruck irritierend deutlich an den Verkehrs-Cop aus Hitchcocks Psycho erinnerte. Sogar die verspiegelte Sonnenbrille schien er aus dem Filmfundus beschlagnahmt zu haben. Melzick war weit davon entfernt, sich einschüchtern zu lassen. Sie zückte ihren Dienstausweis.
»Kriminalobermeisterin Zick. Wird Zeit, dass Sie kommen. Ich sichere den Tatort. Wir brauchen dringend einen Sichtschutz. Dieser Mann wurde vor etwa einer Viertelstunde auf offener Straße erschossen, Herr …«, sie studierte sein Namensschild, »Herr Keitel.« Er nahm ihr den Ausweis aus der Hand und hielt ihn misstrauisch so dicht vor seine Sonnenbrille, dass Melzick ihr Foto darin sehen konnte. Nach schier endlosen Sekunden gab er ihr den Ausweis zurück.
»Die korrekte Anrede ist Kriminalhauptmeister Keitel. Wer hat Sie gerufen?«, schnarrte er.
»Niemand.« Melzick hatte keine Lust auf irgendwelche Kompetenzstreitigkeiten, aber sie hatte auch keine Lust, sich rechtfertigen zu müssen.
»Wie kommt es, dass Sie so schnell am Tatort waren?« Der vorwurfsvoll misstrauische Ton ließ ihren Geduldsfaden reißen.
»Da gibt es drei Möglichkeiten. Sie wissen sicher aus Ihrer Ausbildung an der Polizeihochschule, dass es immer drei Möglichkeiten gibt«, antwortete sie und schlug den Oberlehrerton an. »A: Ich habe den Mann selbst erschossen, B: Ich weiß im Voraus, wann und wo ein Mord geschieht, C: Ich habe an der Demonstration teilgenommen und lief nur ein paar Meter hinter dem Mann.« Melzick verschränkte die Arme. »Dies ist der richtige Zeitpunkt«, dachte sie, »an dem du dem Gespräch eine konstruktive Wendung geben kannst, zum Beispiel durch ein Lächeln oder auch nur, indem du diese verdammte Brille von deiner großen Nase nimmst.« Sie musterte unverhohlen den Rest seines Gesichts und wusste, dass Humor nie weiter von einem menschlichen Wesen entfernt war. Er schien alle drei Möglichkeiten für durchaus gleich wahrscheinlich zu halten. Melzick machte kurzen Prozess.
»Zu meiner Zeit war Vorsagen nicht erlaubt. Ich geb Ihnen trotzdem eine kleine Hilfestellung, damit wir nicht noch mehr Zeit verplempern. Wenn A zuträfe, würde ich wohl kaum an der Seite meines Mordopfers warten, bis die Polizei geruht, einzutreffen. Träfe B zu, hätte ich den Mord verhindert.« Sie konnte förmlich hören, wie es hinter dieser hohen Stirn ratterte und knirschte. Ohne ein weiteres Wort an Melzick zu verschwenden, gab er den Beamten, die ihn begleiteten die Anweisung, sich um die unter den karierten Decken verborgene Leiche herum zu postieren.
»Das reicht als Sichtschutz.«
»Ihr Kollege Griebl kümmert sich da drüben um ein weiteres Opfer«, sagte Melzick und ging voraus.
»Wer hat ihm den Befehl dazu gegeben?«, fragte Keitel.
»Niemand, er tut es aus reiner Nächstenliebe«, flötete Melzick. »Guter Mann übrigens«, fügte sie hinzu.
»Die Beurteilung meiner Mitarbeiter fällt nicht in Ihren Aufgabenbereich.«
»Mir egal«, erwiderte Melzick. Sie fand langsam Gefallen an diesem Gespräch. Keitel fühlte sich endlich veranlasst, seine Brille abzunehmen. Er warf Melzick einen stechenden Blick aus engstehenden Augen zu, der jeden seiner Untergebenen zu Eis hätte erstarren lassen. Melzick beachtete ihn nicht. Die Hierarchie hatte sie noch nie sonderlich beeindruckt und die Tatsache, dass Keitel einen höheren Rang als sie hatte, war für sie etwa so bedeutend, wie ihre unterschiedlichen Schuhgrößen. Griebl kam ihnen entgegen. Als er Keitel sah, nahm er unbewusst eine straffe Haltung ein.
»Der Mann ist nicht in Lebensgefahr, sagt der Notarzt. Er hat einen Schuss in den Oberschenkel bekommen, die Kugel ist noch drin. Er steht unter Schock.«
»Wo war er, als er getroffen wurde?«, fragte Melzick bevor Keitel reagieren konnte. Griebl deutete auf dieselbe Stelle wie die Mädchen vorhin.
»Ist er ansprechbar?«
»Ähm …«, Griebl blickte von Melzick zu Keitel, »ich glaube schon.« Keitel schob Melzick zur Seite und schritt energisch auf den etwa vierzigjährigen Mann zu, der bereits auf einer Sanitätsliege festgeschnallt war. Er hatte das Bewusstsein zurückerlangt. Seine Tochter stand verstört und tränenüberströmt daneben. Der Arzt klappte seine Notfalltasche zu. Das Mädchen hielt die Hand des Vaters umklammert. Keitel verlor keine Zeit.
»Sie heißen?«. Der Mann sah ihn aus glasigen Augen an, als wäre er bei etwas ertappt worden.
»Fabian«, sagte er und verzog den Mund vor Schmerzen, die ihn trotz der Spritze, die er bekommen hatte, peinigten.
»Vor- oder Nachname?«, fragte Keitel ungerührt.
»Lassen Sie den Mann in Ruhe!«, fuhr ihn der Arzt an. »Er steht unter Schock.«
»Wo bringen Sie ihn hin?«
»Ins Zentralklinikum. Da können Sie sich morgen nach ihm erkundigen, nicht eher.« Der Arzt gab den Sanitätern ein Zeichen, die sich sofort daran machten, den Mann in den Notfallwagen zu verfrachten.
»Ich will aber mit«, schluchzte das Mädchen. Der Arzt nickte kurz. Keitel beorderte Griebl zu den anderen Beamten, die die Leiche bewachten, holte einen Block hervor und notierte etwas. Dann warf er Melzick einen scharfen Blick zu.
»Gibt es weitere Opfer?« Melzick rang mit sich. Sie wusste, es würde Ärger geben, aber sie konnte Jocelyn die Begegnung mit der Polizei nicht ersparen.
»Eine junge Frau hat einen Streifschuss abbekommen. Sie ist dort in dem Klamottenladen.« Er setzte seine verspiegelte Sonnenbrille wieder auf.
»Wer hat das veranlasst?« Es schien eine Marotte von ihm zu sein, immer die Frage nach dem Verantwortlichen zu stellen, so als würde er ständig nach einem Schuldigen suchen. Wer angreift, ist im Vorteil und vermeidet damit, sich selbst rechtfertigen zu müssen. Diese Strategie schien Keitel verinnerlicht zu haben. Melzick hatte für derlei strategische Spitzfindigkeiten keinen Nerv.
»Der gesunde Menschenverstand. Wir mussten die junge Frau an einen ruhigen Ort bringen. Vermutlich steht sie auch unter Schock.«
»Wer ist wir?«
»Mein Bruder und ich.«
»Ihr Bruder hat also auch an der Demonstration teilgenommen?« Sie nickte.
»Fragen Sie mich nicht, wer das veranlasst hat. Womöglich die Regierung mit ihrer Klimapolitik.«
»Sie sind mit der Regierung nicht einverstanden?«
»Wird das jetzt eine politische Debatte oder haben Sie auch noch andere Fragen auf Lager? Zum Beispiel: Wie finden wir raus, von wo geschossen wurde? Woher wissen wir, dass nicht noch mehr Kugeln auf ihre Opfer warten? Wie schaffen wir es, eine Panik zu vermeiden?« Er richtete seine engstehenden, hinter der Sonnenbrille verschanzten Augen auf ihre hennaroten Dreadlocks.
»Panik? Unwahrscheinlich. Fünfundneunzig Prozent der Demonstranten sind auf dem Rathausplatz versammelt, außer Sicht- und Hörweite. Apropos — wie viele Schüsse haben Sie gehört?«
»Keinen einzigen. Zum Glück.« Er hob die Augenbrauen so hoch, dass sie über dem Rand der Sonnenbrille zum Vorschein kamen. »Ist doch logisch, Kollege. Wir würden kaum so gemütlich hier rumstehen, wenn es vorhin ordentlich geknallt hätte.« Keitel passte es nicht, von einer jungen Frau mit einer Frisur, die jeden Rauschgiftspürhund hätte aufjaulen lassen, als Kollege angeredet zu werden. Doch vorerst wusste er nicht, wie er das unterbinden sollte. Melzick war bereits vorausgegangen. Von der Demonstration waren nur noch ein paar Nachzügler unterwegs, die es eilig hatten, zum Rathausplatz zu kommen. Sie achteten nicht auf das halbe Dutzend Polizisten, die um irgendetwas herumstanden. Sie nahmen die Abkürzung durch die kurze Querstraße „Unter dem Bogen“. Keitel warf einen missmutigen Blick auf den Bettler mit seinem Hund, bevor er Melzick folgte.
Carlo wusste nicht, was er tun sollte. Mit der Polizei wollte er auf keinen Fall etwas zu tun haben. Aber er brauchte dringend Hilfe. Sokrates blutete und winselte leise vor sich hin, schon seit ein paar Minuten. Das Blut hatte Carlo gerade eben erst entdeckt. Er kam mühsam auf die Beine und folgte dem großen Polizisten mit der Sonnenbrille. Sokrates hing schwer in seinen Armen und wurde ruhiger. Beide ahnten sie, was los war. Carlo murmelte ein paar Worte.
»Bald ist alles gut, mein Alter.« Er fühlte, wie sich eine Klammer um seine Kehle legte und riss sich zusammen. Als er das Modegeschäft betrat, kam ihm die junge Frau entgegen. Sie machte ein ernstes Gesicht.
»Tut mir leid, Carlo, aber meine Chefin sieht es nicht gern, wenn …« Er schüttelte den Kopf und unterbrach sie.
»Vielleicht kann jemand etwas für meinen Hund tun.« Weiter hinten im Verkaufsraum hatte Carlo die grellorangene Kleidung eines Rettungssanitäters oder Arztes gesehen.
»Was ist mit ihm?«, wollte die junge Frau wissen. »Du hast ja Blut an den Händen!«, rief sie erschrocken.« Alarmiert drehten sich die Personen im Hintergrund nach ihr um. Melzick kam nach vorn, dicht gefolgt von Keitel und der Geschäftsinhaberin.
»Nina, ich habe Ihnen doch oft genug gesagt, dass ich keine Hunde …«
»Er ist verletzt! Wir müssen ihm helfen.«
»Wie — verletzt?«
»Er blutet.« Carlo unterbrach den Disput zwischen der jungen Frau und ihrer Chefin.
»Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist.«
»Vielleicht hat der Hund auch einen Schuss abbekommen«, sagte Melzick. Sokrates atmete ganz flach und fing plötzlich an, wie wild zu zappeln. Carlo konnte ihn kaum festhalten und legte ihn vorsichtig auf den Boden. Der Geschäftsinhaberin blieb der Protest im Halse stecken, als sie Carlos Blick auffing.
»Wer sind Sie?«, wollte Keitel wissen, der seinen Notizblock schon wieder in der Hand hatte. Carlo beachtete ihn nicht. Er saß in der Hocke neben seinem vierbeinigen Compagnon und streichelte mechanisch seinen Rücken. Sokrates hatte die Augen geschlossen.
»Darf ich mal?«, fragte der Mediziner, der Jocelyns Wunde versorgt und ihr ein Beruhigungsmittel gegeben hatte. Zacharias blieb bei ihr im Hintergrund. Im Augenblick hatte er nur eine Sorge. »Ich bin zwar kein Veterinär«, brummte der Arzt leise, nachdem er Sokrates untersucht und ein kleines Loch in der Vorderbrust ertastet hatte, »aber …«. Er legte Carlo eine Hand auf die Schulter und brauchte kein weiteres Wort zu sagen. Durch Sokrates’ Körper lief ein heftiges Zittern. Dann lag er still. Er war tot. Carlo stand auf. Er wusste nicht, wo er hinsehen sollte und begann, über seinen rechten Unterarm zu streichen, immer wieder, als wollte er sich trösten. Keitel räusperte sich und wollte seine Frage wiederholen. Carlo riss sich zusammen und schaute dem Polizisten gerade ins Gesicht. In der Spiegelung der riesigen Sonnenbrille bemerkte er, dass er ganz blass geworden war.
»Mein Name ist Karl, Eberhard Karl.« Leise fügte er hinzu: »Und das ist Sokrates«.
»Du heißt gar nicht Carlo?«, hauchte die junge Verkäuferin.
»Doch«, erwiderte Carlo, »für meine Freunde schon.« Melzick fühlte mit dem alten Mann, aber sie musste die Frage stellen.
»Sie saßen drüben auf der anderen Seite, gegenüber vom „Weißen Hasen“. Ich hab Sie gesehen. Ein paar Meter neben Ihnen wurde ein Mann angeschossen. Und Sokrates ist wohl auch von einer Kugel getroffen worden. Haben Sie keine Schüsse gehört?« Carlo schüttelte den Kopf.
»Die verdammten Trommeln waren doch so laut und zwar pausenlos. Von dem Mann neben mir hab ich nichts mitbekommen. Ich hab die ganze Zeit nur auf die Demonstration geachtet. Und Sokrates beruhigt.« Melzick nickte und sah Carlo lange in die Augen.
»Er war schon sehr alt, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ist Ihnen denn an der Demonstration etwas aufgefallen? Hat sich jemand auffällig benommen? Ist vielleicht plötzlich weggerannt oder in eine andere Richtung gelaufen?« Carlo überlegte und während er die Augen schloss und nachdachte, spürte sie deutlich, wie Keitel neben ihr unruhig wurde. Das Verhalten dieser jungen Kollegin ging ihm entschieden gegen den Strich. Er schob sich an ihr vorbei und baute sich vor Carlo auf.
»Also, Mann, Sie haben die Frage doch verstanden, oder? Was ist nun?« Carlo öffnete die Augen und sah ihn ruhig an. Er hatte das Gefühl, nicht mehr vor der Polizei auf der Hut sein zu müssen. Jetzt, wo Sokrates tot war, konnte ihm nichts Schlimmeres mehr passieren.
»Ich rede nicht gern mit meinem Spiegelbild«, brummte er und deutete auf die Sonnenbrille. Keitel nahm sie mit einer raschen Bewegung ab.
»Ist es so besser?« Carlo strich mit seiner Hand über die Augen.
»Da war ein Mann«, sagte er, unbeeindruckt von Keitels Aggressivität. »Ziemlich groß. Ich konnte ihn sehen, obwohl er drüben auf der anderen Seite lief. Der benahm sich wie verrückt. Dann stand er plötzlich stocksteif vor dem „Weißen Hasen.“ Wegen der vielen Demonstranten verlor ich ihn aus den Augen. Später sah ich an derselben Stelle jemanden auf dem Boden liegen. Ein Polizist kniete daneben. Und sie hier.« Er deutete auf Melzick. Ihr fiel seine gepflegte Sprechweise auf. Sie passte so gar nicht zu seinem Aussehen.
»Wieder mal ein Vorurteil erledigt«, dachte Melzick.