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3. Kapitel

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In der Annastraße war um diese frühe Stunde noch nicht viel los. Die meisten Läden öffneten erst um zehn. Carlo war das egal. Er bezog seinen Stammplatz in der Fußgängerzone, schräg gegenüber vom „Weißen Hasen“. Sokrates begleitete ihn mit der ganzen Gelassenheit seiner elf Hundejahre. Seine Miene strahlte Zufriedenheit aus. Das machte die Routine. Sein Leben verlief in geregelten Bahnen, genauso wie das seines Herrchens. Carlo setze sich auf den Boden, lehnte den Rücken an die Fassade des Drogeriemarktes und streckte seine kurzen Beine auf einer Decke aus. Sie war grün und blau und gelb gemustert und glich mit ihren nach oben abgewinkelten Fransen einem fliegenden Teppich in Warteposition. Carlo legte das Etui mit seiner uralten Blockflöte sorgfältig rechts neben sich. Die schwarze, mit einem Schnappschloss versehene Holzschatulle stellte er offen ganz vorne auf den Teppich. Sokrates drehte sich, behutsam wie eine Katze mit den Pfoten tapsend, ein paar Mal um sich selbst, bevor er sich auf seinem angestammten Platz neben der Schatulle niederließ. Er legte seinen Kopf vorsichtig auf seine alten Pfoten. Jedes Mal, wenn eine Münze auf Holz klapperte oder gar ein Geldschein raschelte würde er einen prüfenden Blick in die Schatulle werfen, so als wollte er im Kopf überschlagen, wieviel sie denn schon verdient hatten. Seiner Hundeerfahrung nach kam das beim Publikum besonders gut an. Die Art und Weise, wie die beiden ihren Arbeitstag in aller Ruhe vorbereiteten, strahlte eine große Souveränität und Weisheit aus. Sie beherrschten ihr Metier und wussten, was zu tun war. Vor allem wussten sie, warum sie es taten.

»Guten Morgen, Carlo, du bist aber früh dran«, sagte die junge Frau, die in dem Esprit-Laden gleich gegenüber arbeitete. Carlo nickte ihr freundlich zu.

»Alte Gewohnheit. Ich war immer schon der Erste im Büro«, sagte er. Sie beugte sich zu dem schwarz-weißen Border-Collie herab und kraulte ihn sanft hinter den Ohren.

»Und was meint Sokrates dazu?« Sokrates blinzelte mit den Augen und gähnte ausführlich.

»Er nutzt die Zeit zum Nachdenken. Eine durchaus edle Art, den Tag zu beginnen«, antwortete Carlo. Die junge Frau, deren Namen er nicht kannte und die ihn seit einem halben Jahr jeden Samstagmorgen begrüßte, schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, sagte »na dann«, und entfernte sich mit federnden Schritten in Richtung Personaleingang. Carlo kramte seine verbeulte Thermoskanne aus dem speckigen Rucksack, schraubte den Deckel ab und gönnte sich die erste Tasse des Tages. Sokrates schnüffelte flüchtig in seine Richtung, erkannte den vertrauten Kaffeeduft und nahm seine Denkerposition wieder ein. Carlo trank in kleinen Schlucken und hielt den Kopf dabei gesenkt. Aus den Augenwinkeln beobachtete er eine Person in einem blauen Handwerkeroverall, eine Baseballmütze tief ins Gesicht gezogen, die vor der Seitentür zum „Weißen Hasen“ stehengeblieben war. Ein Trio älterer Damen mit großen Einkaufstaschen trippelte auf dem Weg zum Stadtmarkt einträchtig schnatternd an ihm vorüber. Sie hatten keinen Blick für ihn, geschweige denn einen Euro. Carlo sah es ihnen nach. Er leerte seinen Kaffeebecher und wischte ihn mit einem Taschentuch sauber, bevor er ihn wieder aufschraubte. Dabei murmelte er wie stets dieselben Worte:

»Der Kaffee ist genau richtig. Wir haben unseren besten Platz bezogen. Heute wird ein guter Tag.« Sokrates nahm das vertraute Gemurmel als Beweis, dass alles wie immer war. Zufrieden blinzelnd schloss er die Augen. Doch etwas war anders. Carlo war ein geübter Beobachter. Er tat fast nichts anderes. Diese Person vor der Seitentür des „Weißen Hasen“ benahm sich absolut unauffällig. Der Handwerkeroverall, die Werkzeugtasche, die verdreckten Sicherheitsschuhe — nichts daran war ungewöhnlich. Carlo hatte den Typen aus der Richtung des Rathausplatzes kommen sehen.

»Freiwillige Überstunden am Wochenende«, dachte er, »wahrscheinlich inoffiziell, das bringt am meisten Kohle.« Allerdings konnte er sich nicht erinnern, samstags jemanden in dem maroden Gebäude arbeiten gesehen zu haben. Carlo nickte abwechselnd vor sich hin und schüttelte den Kopf, während er seine Visitenkarten sortierte. Der Typ im Overall mit der schwarzen Baseballmütze stellte seine Werkzeugtasche auf das Pflaster und machte sich am Vorhängeschloss des Bauzauns zu schaffen. Als Carlo wenig später hinübersah, waren die Tasche und der Typ verschwunden und das Schloss hing wie vorher am Bauzaun. Irgendetwas hatte Carlo trotzdem stutzig gemacht. Viel später an diesem Tag würde es ihm wieder einfallen.

Das Haus in der Annastraße, Ecke Welserplatz, mitten in der Fußgängerzone, war der ideale Ort für das Vorhaben. Seit dem Brand im Februar des vorigen Jahres stand der „Weiße Hase“ leer. Die Restaurierungsarbeiten an dem zweistöckigen, historischen Gebäude mit dem riesigen Satteldach würden noch Jahre in Anspruch nehmen. Von den Fenstern im ersten Stock konnte man die Annastraße in beide Richtungen überblicken. Die Stangen und Bretter des Baugerüstes schützten vor unliebsamer Entdeckung. Samstags hielt sich niemand in dem Gebäude auf. Wer es ohne aufzufallen außerhalb der üblichen Arbeitszeiten betreten wollte, musste authentisch wirken und für alle Fälle eine plausible Story auf Lager haben. Es war fast ein Kinderspiel, in das Haus reinzukommen und es war niemand dagewesen, der sich hätte wundern können. Die Leute, die um diese Uhrzeit in der Fußgängerzone unterwegs waren, wollten entweder zum Bäcker, zum Stadtmarkt oder zum Königsplatz, wo sich Busse und Straßenbahnen drängelten. Sie alle hatten ein Ziel und keine Augen für irgendetwas anderes. Selbst der Bettler mit seinem Köter hatte keinen Blick verschwendet. Er war viel zu sehr mit seiner Thermosflasche beschäftigt, die hundertprozentig mit Hochprozentigem gefüllt war. — Falscher Gedanke! Das war möglicherweise ein Irrtum. Vielleicht hatte er scharfe Augen, eine Kamera und war ein gut getarnter Polizist. — Auch falsch! Jetzt bloß keine Gespenster sehen am helllichten Tag. Es war düster genug in diesem alten Bau. Er war vollkommen leergeräumt. Absolut nichts erinnerte daran, dass hier einmal ein traditionell bayerisches Wirtshaus residiert hatte. Es roch nach Kalk und Staub und irgendeiner chemischen Substanz. Auf die Wände waren pinkfarbene Markierungen und Zahlen gesprüht. Architekten-Graffiti. Die Treppe machte einen stabilen Eindruck. Der erste Stock bestand aus einem einzigen riesigen Raum. Durch die verdreckten und teilweise beklebten Fenster drang spärliches Morgenlicht. Die ungewohnten Arbeitshandschuhe ließen die Finger feucht werden. Das war nicht gut. Das war gar nicht gut. Also weg damit. In der Tasche waren sie am besten aufgehoben und konnten nicht vergessen werden. Die Schritte der zwei Nummern zu großen Sicherheitsschuhe hallten unangenehm laut. Es war nicht einfach gewesen, geräuschlos bis zur Fensterfront zu kommen. Aber dann gewann folgende Überlegung die Oberhand: Entweder befand sich niemand sonst im Gebäude, was zu 99% wahrscheinlich war, dann war Leisetreterei überflüssig. Wenn aber jemand da war, dann würde das vorsichtige Herumschleichen nicht zu der Aufmachung als Handwerker passen. Und erst recht nicht zu der Story von der liegengelassenen, mit Bargeld, EC-Karte und Eintrittskarten gefüllten Brieftasche. Wer angeblich auf der Suche nach einem solchen verlorenen Schatz ist, der läuft ohne groß zu überlegen kreuz und quer durch alle Räume und poltert die Treppe hinauf und hinunter. Genau! Das war der richtige Weg. Also erstmal die Treppe hoch in den zweiten Stock. Hier war das Licht noch diffuser, da praktisch alle Fensterscheiben zugeklebt waren. Die Räume waren ebenfalls leer. Auf den mit Kalk bestäubten Bodenbrettern ein paar Spuren von Katzenpfoten, die mitten im Raum aufhörten, als hätte die Katze sich in Luft aufgelöst. Innehalten. Konzentrieren. Lauschen. Die Werkzeugtasche in die andere Hand nehmen. Weiter, die schmaler werdende Treppe hinauf zum Dachgeschoss. Die Sicherheitsschuhe polterten schwer auf den Holzstufen. Spätestens jetzt hätte sich ein zufälliger Besucher bemerkbar gemacht, sei es der Architekt oder jemand vom Bauamt oder ein Techniker oder ein Hausmeister, hätte „Hallo“ gerufen, wäre ebenfalls die Treppe hochgekommen, um zu sehen, wer an einem Samstagmorgen in diesem riesigen Gebäude herumgeisterte. Aber da war niemand, auch nicht in dem Dachgeschoss. So viel war sicher. Ein Blick auf die Uhr. Der Countdown konnte beginnen. In etwa vier Stunden würde es in der Annastraße in Höhe des Welserplatzes sehr laut werden. Tausende würden ihre Wut und ihre Empörung herausschreien. Würden den Leuten, die brav ihre Konsumaufgaben erledigen wollten, im Weg stehen, sie ärgern, aufrütteln, verstören. Sie fühlten sich alle im Recht. Und einer davon fühlte sich besonders im Recht. Er stand besonders im Weg. In der Werkzeugtasche lag die Lösung für dieses Problem bereit.

Der samstägliche Brunch im „Dreizehn“ war sehr beliebt. Das vegane Restaurant im Herzen der Altstadt boomte praktisch seit seiner Eröffnung. Die beiden jungen Betreiberinnen verwöhnten die Geschmacksnerven ihrer Gäste ebenso zuverlässig wie preiswert. Für 13 Euro konnte man sich am Buffet die Teller füllen, so oft man wollte.

»Habt ihr reserviert?«, fragte die eine der beiden Zacharias, nachdem der sich erfolgreich bis zur Kassentheke vorgedrängelt hatte. Rings um ihn standen Hungrige jeder Altersgruppe mit einem Teller in der Hand und einer Mischung aus Gier und Vorfreude in den Augen. Aus Platzmangel spielte sich der Kampf am kalten Buffet in der Nähe des Eingangs auf ein paar Quadratmetern ab. Zacharias setzte ein entwaffnendes Lächeln auf.

»Reservieren ist doch was für Spießer. Ist ja genauso, wie sein Handtuch an den Pool legen, bevor die Sonne aufgeht.« Sie schnalzte mit der Zunge und verdrehte kurz die Augen.

»Tja — dann seht mal zu, ob die Spießer für euch noch einen Platz freimachen.«

»Zack, trödele nicht rum und steh den Leuten nicht im Weg«, sagte eine tiefe Männerstimme direkt neben seinem Ohr. Zacharias fuhr herum.

»Phil! Was machst du denn hier? Ich dachte, du bist am Hauptbahnhof und flüsterst den Teilnehmern deine Regeln ins Ohr.« Phil war einen Kopf größer als Zacharias, bezeichnete das schüchterne blonde Kraut auf seinen Wangen als Backenbart und trug wie immer ein bunt gemustertes Stirnband.

»Hombre! Erstens sind das nicht meine Regeln, sondern die der Polizei. Zweitens muss ich ja nicht alles selbst machen. Delegieren ist eine Kunst und die musst du beherrschen, wenn du ein großes Ding durchziehen willst. Und drittens hab ich wie jeder vernünftige Spießer rechtzeitig einen Tisch reserviert.« Phil nickte mit dem Kopf in Richtung des Nebenraumes, links von der Küche. Zacharias wurde von einem breitschultrigen, braungebrannten Jüngling unsanft zur Seite geschoben. Bevor Zacharias mosern konnte, fragte Phil:

»Du bist doch sicher nicht allein hier?« Zacharias war kurz davor, dem Jüngling seinen Ellbogen in die Seite zu rammen, besann sich aber eines Besseren und hob stattdessen seine Hand mit drei Fingern.

»Dann geht doch einfach mal ganz unauffällig zu meinem Tisch«, sagte Phil und schaffte es gleichzeitig, seinen rechten Stiefel wie zufällig auf einem Flipflop-bewehrten Fuß zu platzieren, der wie zufällig dem Jüngling gehörte.

»Ich geb dir ein Zeichen, wenn die Luft hier rein ist«, fügte Phil hinzu. Zacharias lotste Mel und Jocelyn, die draußen gewartet hatten, herein. Er hörte Phils tiefe Stimme, die sich so überschwänglich bei dem Jüngling entschuldigte, dass aus den breiten, braungebrannten Schultern die Luft entwich wie aus einem kaputten Schwimmreifen. Nach ein paar Minuten kam Phil mit zwei Tellern in jeder Hand an seinen Tisch.

»Ich denke, gegen Obst als Auftakt ist nichts einzuwenden.« Er stellte Melzick, Jocelyn und Zacharias einen Teller hin und ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Aus der Brusttasche seiner Latzhose zauberte er vier Gabeln hervor und hielt sie in seiner kräftigen Faust über den Tellern.

»Erst der Name dann die Gabel«, grinste er in die Runde.

»Mel«, grinste Melzick zurück.

»Ah ja, du bist seine Schwester«, erwiderte er und wandte sich nach rechts. »Dann bist du …?«

»Jocelyn.«

»Schön, Jocelyn, du bist seine …?«

»Wir arbeiten zusammen«, kam Zacharias ihr zuvor und schnappte sich seine Gabel aus Phils Hand. Phil schmunzelte, sagte aber nichts dazu. Jocelyn vermied es, ihn anzusehen und konzentrierte sich auf ihren Teller, der mit Grapefruit- und Orangenstücken, Kiwi-Scheiben und blauen Weintrauben beladen war. Die anderen taten es ihr gleich und für ein paar Minuten herrschte gefräßiges Schweigen. Phil hatte in den letzten Tagen so viel reden müssen, dass er froh über die Stille am Tisch war. Melzick wartete einfach nur ab und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Zacharias hatte einen Bärenhunger und stibitzte eine Kiwi von Jocelyns Teller, die mit ihren Gedanken woanders war. Schließlich legte Melzick ihre Gabel hin.

»Glaubst du wirklich, dass da heute 5000 Leute kommen werden?«, fragte sie Phil. Der schob seinen leeren Teller zur Seite und beugte sich über den Tisch.

»Nach meinen letzten Informationen werden es noch mehr.« Er flüsterte fast. »Das wird die größte Demo in Augsburg seit dem Sommermärchen.« Jocelyn hob verwirrt den Kopf.

»Sommermärchen?«, fragte sie und Melzick registrierte, dass es sich überhaupt nicht akzentfrei anhörte.

»Die Fußball-WM«, erklärte Zacharias mit vollem Mund. Er aß wie immer sehr langsam. »Da war die halbe Stadt auf den Beinen und zwar jede halbe Stadt in Deutschland.«

»Fahnen und Transparente gab es da auch«, warf Melzick ein, »aber mir will einfach nicht einfallen, wofür die damals protestiert haben. Was war es denn bloß?« Jocelyn entging die Ironie. Sie wurde immer verwirrter.

»Lass gut sein, Mel«, sagte Zacharias. »Die Leute waren einfach nur begeistert, das ist alles.«

»Ich glaube, das verstehe ich nicht«, sagte Jocelyn, diesmal wieder in perfektem Deutsch.

»Da bist du nicht die Einzige«, brummte Melzick. »Und jetzt möchte ich wirklich wissen, woher du so gut …«, doch Zacharias kam ihr zuvor.

»Genau, ich möchte auch wissen, was es jetzt noch Leckeres gibt. Komm Jocelyn!« Er nahm ihre beiden Teller und stand auf. Jocelyn folgte ihm zum Buffet. Phil warf Melzick einen Blick zu.

»Du bist Polizistin? Zack hat mal so was erwähnt.«

»Du darfst ihn Zack nennen?«

»Wieso nicht?«

»Weil er es seiner großen Schwester verbietet.« Phil zuckte mit den Schultern und deutete kurz auf ihre hennaroten Dreadlocks. Bevor er etwas sagen konnte, hob Melzick abwehrend ihre Hand.

»Ich schlage vor, du machst keine Bemerkung über meine Haare, dann sag ich auch nichts über deinen Bart.« Phil grinste und hob ergeben beide Hände.

»Ok, ok, hast ja Recht. Deine erste Demo als Polizistin?«

»Meine erste Demo als Demonstrantin.« Phil nickte anerkennend.

»Ich geb dir einen guten Rat als alter Hase: Sei freundlich zu den Bullen.« Melzick warf ihm einen Blick zu und griff nach ihrem Teller.

»Ich kann nur freundlich sein, wenn ich satt bin.« Phil stand ebenfalls auf.

»Da haben wir ja was gemeinsam.«

Zweifel saß auf dem Boden und lehnte mit dem Rücken an seinem Bücherregal. Die Romane von Hemingway, Faulkner, Dostojewski und Tolstoi hatte er schon aussortiert. Auch die Gesamtausgabe von Georges Simenon, die ihm seine Frau vor vielen Jahren geschenkt hatte.

»Schließlich musst du wissen, wie Kommissare in anderen Ländern arbeiten. Und da du noch nie in Frankreich warst, dachte ich, du fängst am besten mit „Kommissar Maigret“ an.« Kurz danach war sie bei einem Banküberfall auf fürchterliche Art ums Leben gekommen. Er hatte keine einzige Seite von Simenon zu Ende gelesen. Ihre Stimme wisperte in seinen Ohren wie in einer Endlosschleife, sobald er nur ein paar Zeilen zu lesen versuchte. Schon lange spielte er mit dem Gedanken, die Bücher zu verkaufen und jetzt, während er die Umzugskartons zusammensteckte, war der Entschluss gefallen. In seiner neuen Wohnung war kein Platz dafür, redete er sich ein und wollte rasch sämtliche Bände in den Kartons verstauen, bevor ihm eine Ausrede einfallen würde. Nur seine Kunstbände würde er mitnehmen.

Durch so viele Entscheidungen erschöpft, blätterte er gedankenverloren in einem Buch über die russischen Realisten. Sein Blick fiel auf ein Gemälde Ilja Repins, das einen wüsten Haufen ausgelassener Kosaken darstellte, die dem türkischen Sultan einen Brief schrieben. Er starrte auf das trostlose Ambiente seines Wohnzimmers. Hatte er wirklich jahrelang hier gewohnt? Wie oft hatte er Gäste gehabt? Wie oft hatte ein Fest die Wände gewärmt? Wie oft hatte es gute Gespräche gegeben? Er konnte sich an kein einziges erinnern. Mit einem energischen Kopfschütteln verscheuchte er die trübseligen Gedanken. Er klappte die russischen Realisten zu. Dabei fiel ihm schlagartig sein Date ein. Er blickte auf die Uhr und sprang auf. Lucy durfte er nicht warten lassen.

Mord aus gutem Hause

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