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6. Kapitel

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Carlo saß zur selben Zeit am anderen Ende der Annastraße auf seinem fliegenden Teppich und lehnte mit dem Rücken an der Mauer eines großen Geschäftshauses. Er hörte die Trommeln näherkommen. Sokrates lag vorne auf dem Teppich neben der Holzschatulle mit dem Kopf auf den Vorderpfoten und zuckte leicht mit den Ohren. Carlo hatte seine Flöte weggelegt und beobachtete die Passanten. Viele trugen eine Plastiktasche mit ihren neuesten Konsumschätzen in der einen und etwas Essbares in der anderen Hand. Manchmal stellte Carlo in Gedanken eine Statistik auf und zählte die Döner, Wraps, Pizzen, Pommes und Brezen, die an ihm vorbeigetragen wurden. Wenn er genug davon hatte, packte er sein Brot aus dem Rucksack und gab auch Sokrates seine Ration. An guten Tagen legte jemand einen Hundekuchen neben die Holzschatulle. Den durfte Sokrates dann immer sofort vernaschen. Heute allerdings schien es einer von den schlechteren Tagen zu werden. Carlo nahm es gleichmütig hin. Von links näherten sich drei auffallend gekleidete Damen mittleren Alters, die in ein reges Gespräch vertieft waren. Die Wortführerin hatte sich umgedreht und lief nun rückwärts auf Carlos Platz zu, während sie ihren beiden Begleiterinnen wild gestikulierend etwas Extraordinäres erzählte. Dieses Wort war das erste, das Carlo aufschnappte. Sie gebrauchte es mehrmals und achtete nicht auf etwaige Hindernisse, im unerschütterlichen Glauben, für sie gebe es keine Hindernisse. Carlo kannte die Sorte, aber er reagierte zu spät. Bevor er noch etwas rufen konnte, verfing sich ihr linker Stöckelschuh, von dessen Gegenwert Carlo einen Monat lang hätte leben können, in der etwas hochstehenden Ecke seines fliegenden Teppichs. Sie kam ins Stolpern, stieß einen Schrei aus und landete unsanft auf ihrem sündhaft teuren Hosenboden. Sokrates bellte genau zwei Mal. Sofort stürzten ihre beiden Begleiterinnen auf sie zu und halfen ihr mit vereinten Kräften hoch. Carlo war so schnell er konnte auf den Beinen. Er hob beide Hände zum Zeichen seiner Unschuld.

»Oh, oh, haben Sie sich wehgetan, sind Sie verletzt? Kann ich Ihnen helfen?«, stammelte er. Der bleistiftdünne Absatz lag leblos auf dem abgewetzten Teppich. Carlo griff danach und hielt ihn seiner Besitzerin vor die Nase.

»Mein Gott, Vera! Deine Hose!«, rief eine der Begleiterinnen. Vera hatte es für einige Momente die Sprache verschlagen. Sie starrte den Absatz in Carlos Fingern an. Sie starrte Carlo an. Sie starrte Sokrates an. Sie hatte sich nicht verletzt. Sie hatte keine Schmerzen. Aber sie hatte eine Mordswut. Ihr Zeigefinger, ein dunkelroter Fingernagel, wegen des Sturzes hässlich abgesplittert, schoss auf Carlos Brust zu. Sokrates knurrte leise ganz hinten in seiner Kehle. Er hatte sich auf die Hinterpfoten gesetzt und ließ die Frau, die sein Herrchen angriff, nicht aus den Augen.

»So was wie Sie«, fauchte sie, »hat hier in dieser Stadt nichts verloren! Das war heute Ihr letzter Tag! Dafür werde ich sorgen!« Ihre dunklen Augen blitzten. Aus ihrem Zeigefinger wurde eine Faust und sie riss Carlo den Absatz aus den Fingern. Er musterte sie wortlos. Solche Sätze waren nicht neu für ihn. Die Frau namens Vera humpelte, von ihren Freundinnen gestützt, ein paar Schritte, kam sich lächerlich vor, riss sich den defekten und den anderen Schuh von den Füßen und feuerte beide in Richtung Carlo. Den Absatz behielt sie aus nur ihr erfindlichen Gründen. Ein älterer Herr mit Stirnband und Pferdeschwanzfrisur beugte sich zu Carlo herab.

»Heute liegt irgendetwas Ungutes in der Luft.« Carlo nahm Sokrates den intakten Schuh ab, den dieser vorsichtig zwischen seinen Zähnen hielt. Fast wäre er von dem Wurf getroffen worden. Carlo wog das Teil prüfend in der Hand und zwinkerte dem älteren Herrn zu.

»Irrtum, heute fliegt was Teures durch die Luft.« Er wusste schon, wie er die Schuhe zu Geld machen konnte. Sein Blick ging hinüber zum „Weißen Hasen“. Ein Lichtreflex hatte ihn aufmerksam gemacht. Im ersten Stock stand ein Fenster leicht offen. Carlo sah genauer hin. Er würde sich später gut an das Gesicht erinnern. Überhaupt würde er diesen Tag sein Leben lang nicht vergessen.

Das Fenster hätte früher geöffnet werden müssen, als die Sonne noch nicht so hoch stand. Ein böser Fehler. Dieser verdammte Bettler auf der anderen Seite hatte sofort hergesehen. Das war sein böser Fehler. Die Sichtverhältnisse waren optimal und auf die kurze Entfernung von vielleicht zwanzig Metern würde kein Schuss fehlgehen. Die Waffen lagen gut und sicher in der Hand. Nur noch wenige Minuten.

Die Demo hatte begonnen. Wie ein unaufhaltsamer Lavafluss wälzte sie sich durch die Annastraße, vorbei an der Kreissparkasse, dem Martin-Luther-Platz, der Thalia-Buchhandlung. Ein paar Herrschaften, die sich an den Bistrotischen von Feinkost-Kahn einen kleinen edlen Imbiss gönnten, verschluckten sich an dem exquisiten Weißwein angesichts der empörten Menschenmasse, die sich auf breiter Front näherte. Ein rotgesichtiger Mittvierziger, die Sonnenbrille auf die Stirn hochgeschoben, schlug mit den Flügeln, plusterte sich auf und beschwerte sich lautstark über die Herde Asozialer, die eine Schande für Augsburg sei. Die Herde ignorierte ihn und seine tief ausgeschnittene Begleiterin tätschelte ihm beruhigend den Rücken. Links und rechts begleiteten Bereitschaftspolizisten mit Helm, Schlagstock und dem üblichen Werkzeuggürtel ausgerüstet den Marsch der Achttausend. (Der Polizeisprecher würde später von annähernd viertausend Personen reden). Melzick, Zacharias und Jocelyn liefen im vorderen Drittel mit. Direkt hinter ihnen peitschte eine von mehreren Trommlergruppen einen unwiderstehlichen Sambarhythmus in die Arme, Beine und Köpfe der Demonstrierenden. Zacharias ließ sich von der Stimmung anstecken, skandierte aus vollem Hals und achtete nicht weiter auf Jocelyn. Melzick trug mit ihr zusammen das blaugrüne Banner. Sie spürte, was mit Jocelyn los war. Der Lärm ließ keine Unterhaltung zu. Sie blickte sie aufmunternd an, doch Jocelyn reagierte nicht darauf. Ihr Blick war starr auf das Pflaster der Annastraße gerichtet. Ihre linke Hand umklammerte den Stecken, mit dem sie das Transparent hochhielt. Melzick hatte beschlossen, gruppendynamisch immun zu bleiben und so wachsam wie möglich diesen ungewöhnlichen Marsch hinter sich zu bringen. Jocelyns Angst hatte sie in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt. Sie sah die Polizisten. Sie sah deren Nervosität. Sie hörte die Sprechchöre lauter werden. Sie spürte die rasenden Trommeln hinter sich und sie blickte in die Gesichter der Menschen ringsum. In diesem Moment wünschte sie, sie wäre zuhause geblieben und hätte Lucys Einladung angenommen.

Carlo räumte die Holzschatulle, in der nur wenige Münzen lagen, zur Seite und rollte seinen Teppich zur Hälfte zurück. Sokrates winselte unruhig. Die Trommeln und die Schreie der Menschen waren nichts für seine empfindlichen Ohren. Carlo hatte beschlossen, den Platz nicht zu räumen. Er wusste, worum es bei der Demo ging. Mehrere Passanten dicht neben ihm hatten sich darüber unterhalten. Die meisten zeigten Unverständnis, Ärger, waren entsetzt und besorgt über die Auswirkungen auf die Wirtschaft, auf Augsburgs Ruf und witterten bürgerkriegsähnliche Zustände. Carlo wäre nie auf die Idee gekommen, für oder gegen etwas zu demonstrieren. Das kam ihm so sinnvoll vor, wie den Lech um Augsburg herumzuleiten oder den Rathausplatz zu überdachen. Aber er respektierte jeden, der sich für etwas einsetzte, der seine Meinung sagte und sich dafür auch beschimpfen ließ. Im Beschimpfenlassen war er Experte. Die Leute, die für das Klima kämpften, waren ihm sympathisch, vor allem wegen ihrer Naivität. Die Vorstellung, die Wirtschaft würde auf die Vernunft hören, wenn sie nur laut genug hinausposaunt wurde, belustigte ihn.

»Es wird etwas eng werden, Sokrates«, brummte er. Sokrates knurrte zustimmend und rollte sich an der Mauer neben Carlo zusammen.

»Bleibt nur, wo ihr seid«, murmelte die Stimme. »Bewegt euch nicht.« Dieser Bettler schaute schon wieder herüber. Aber das war jetzt gleichgültig. Er würde ein leichtes Ziel sein, sofern die Demonstranten nicht zu dicht hintereinander herliefen. Würden sie das tun? Nein, das war nicht zu erwarten. Solche Umzüge zogen sich erfahrungsgemäß auseinander. Da kommen ja schon die ersten. Diese albernen Gutmenschen und Wichtigtuer mit ihrer Mission. Er würde leicht zu erkennen sein. Er war ja nicht zu übersehen. Und höchstwahrscheinlich war er auch nicht zu überhören.

Die Frau, die direkt vor Melzick auf der linken Seite des Demonstrationszuges lief und sich bisher ruhig verhalten hatte, fing plötzlich an zu schreien.

»Hey Falk! Falk! Hier bin ich! Huhu, Falk! Hey Mann!« Melzick schätzte sie auf etwa vierzig. Die leuchtend blonden Haare waren auf einer Seite kurzgeschoren, auf der anderen schulterlang. Sie trug ein kleines, braunes Pappschild, auf dem mit blauer Acrylfarbe in unbeholfenen Blockbuchstaben „ALLE MACHT DER FREIEN ENERGIE“ gepinselt war. Der Mann, den sie auf sich aufmerksam machen wollte, war fast zwei Meter groß. Er war Melzick schon vorhin auf dem Königsplatz aufgefallen, weil er auf die einsetzenden Trommelschläge mit wilden Zuckungen seiner Arme und Beine reagiert hatte. Aber dann hatte sie ihn aus den Augen verloren. Er musste sich von weiter hinten nach vorne durchgedrängelt haben. Mit seiner schwarzen Afrolook-Frisur und dem schwarzen Vollbart war er alles andere als unauffällig. Abgesehen davon gebärdete er sich, als wäre er mit hunderttausend Volt geladen. Seine Stimme war rau und kräftig. Er gab die Parolen vor und alle Teilnehmer in seiner Hörweite antworteten im Chor. „HOCH MIT DEM KLIMASCHUTZ — RUNTER MIT DER KOHLE“ oder „AUF DIE BARRIKADEN — AUF DIE BARRIKADEN“ oder „WHAT DO WE WANT? — CLIMATE JUSTICE! — WHEN DO WE WANT IT? — NOW!!“ Wie ein Irrwisch zappelte er dabei mit seinen Armen und verscheuchte damit jeden in seiner unmittelbaren Nähe. Die blonde Frau versuchte es noch einmal.

»Verdammt nochmal, Falk! Hörst du nicht? Falk! Falk!!« Ihre Stimme überschlug sich. Er reagierte nicht darauf. Er lief rechts außen und war nicht zu bremsen.

»Der hört Sie nicht«, rief Melzick der Blonden zu. Sie drehte sich zu Melzick um.

»Der will mich nicht hören, der will mich nicht sehen, der will überhaupt nichts mehr, dieser …« Ihr Schimpfwort ging im nächsten Sprechchor unter. Melzick zuckte mit den Schultern. Die Frau warf einen kurzen Blick auf Jocelyn und dann nach rechts.

»Wo ist er denn plötzlich hin?« Melzick deutete nach vorn.

»Scheint ein Drängler zu sein.« Sie waren jetzt auf der Höhe des Teeladens „Eilles“. Der schwarze, wilde Haarschopf war vier, fünf Reihen weiter vorn zu sehen. Er lief direkt auf den „Weißen Hasen“ zu. Die Trommelgruppe hinter Melzick schlug einen neuen Rhythmus an. Zacharias grinste zu seiner Schwester hinüber. Er legte den Arm auf Jocelyns Schulter, die zwischen ihnen ihre zaghaften Schritte machte.

»Läuft doch alles prima!«, rief er in ihr Ohr, um die Djemben zu übertönen. Melzick hörte weiter vorn die unverkennbare Stimme des Mannes, der Falk genannt wurde. Seine Energie war unerschöpflich, als hätte er eine doppelte Dosis Aufputschmittel genommen. Der Demonstrationszug kam ins Stocken. Carlo hatte seine schwere Hand beruhigend auf Sokrates’ Nacken gelegt. Inmitten der unzähligen Menschen fielen ihm zwei besonders auf: Dieser riesige verrückte Mann mit der gewaltigen Stimme und ein paar Reihen weiter hinten eine junge Frau mit einem Turm aus roten Dreadlocks auf dem Kopf. Nie im Leben wäre er auf die Idee gekommen, dass es sich dabei um eine Polizistin handeln könnte. Er sah, wie der Mann wild mit den Armen um sich schlug.

»WHAT DO WE WANT?«, schrie er

»CLIMATE JUSTICE!«, antwortete ihm die Menge.

»WHEN DO WE WANT IT?«

»NOW!«

Jetzt war die Sekunde gekommen. Den Mann ins Herz zu treffen, schien schwierig. Er zappelte herum wie ein Techno-Freak auf Ecstasy. Doch plötzlich hielt er inne, stand stocksteif im träge fließenden Strom der Demonstranten da, als hätte man dem unter Strom Stehenden den Stecker rausgezogen. Er stand da, das Gesicht dem „Weißen Hasen“ zugewandt, die Augen geschlossen. Seine breite Brust unter dem albernen T-Shirt eine Zielscheibe wie sie deutlicher nicht sein konnte. Es klackte zweimal kurz hintereinander. Der erste Schuss war bereits tödlich. Der Griff nach der zweiten Waffe. Es waren noch ein paar Treffer erforderlich. Opfer gab es reichlich zur Auswahl. Es klackte noch drei Mal. Ein Geräusch, wie es Kieselsteine machen, wenn man sie aneinanderschlägt.

Die blonde Frau, die versucht hatte, den Mann auf sich aufmerksam zu machen, hatte es kurz davor aufgegeben, sich umgedreht und lief nun die Annastraße gegen den Strom zurück Richtung Königsplatz. Melzick sah diesen Mann plötzlich stillstehen, als wäre er zu Eis erstarrt. Dann sah sie ihn fallen. Jocelyn neben ihr schrie auf. Zacharias war im wilden Rhythmus der Trommelgruppe gefangen und begriff nicht, was geschah. Jocelyn sank zu Boden. Melzick sah das Blut an ihrem Bein. Jocelyn stöhnte vor Schmerzen und Angst, Tränen schossen aus ihren Augen. Sie hielt das verletzte Bein umklammert. Melzick ließ das Transparent fallen. Die nachrückenden Demonstranten versuchten, der am Boden kauernden jungen Frau mit dem vor Schmerz verzerrten Gesicht auszuweichen und trampelten dabei über die blaugrüne Erdkugel hinweg. „VEGAN FOR THE PLANET“ wurde mit staubigen Turnschuhabdrücken gestempelt.

»Zack! Hilf mir!«, rief Melzick und war dabei, Jocelyn hoch zu helfen. Zacharias starrte entsetzt auf das Blut, das aus einer fünf Zentimeter langen Wunde heraussickerte.

»Was ist denn los?«, schrie er fassungslos, »Jocelyn, was ist passiert? Was hast du?«

»Quatsch nicht, hilf mir lieber! Heb sie unter den Achseln hoch. Wir müssen hier weg!« Melzicks Befehlston wirkte. Gemeinsam hievten sie Jocelyn hoch. Sie schrie auf, als sie das verletzte Bein belastete.

»Da rüber, in den Laden rein!«, rief Melzick. »Schaffst du es allein? Jocelyn, stütz dich auf seine Schultern. Zack hilft dir. Ruf einen Notarzt. Es ist wahrscheinlich nur ein Streifschuss.«

»Ein was?«, kreischte Zacharias, doch Melzick war schon in Richtung des nächsten Opfers unterwegs.

»Ruf mehr Notärzte!«, schrie sie Zacharias über die Schulter hinweg zu. Die Sambatrommler hämmerten unvermindert laut und rasend schnell ihren mitreißenden Rhythmus, begleitet von unzähligen Trillerpfeifen. Die aufgeheizte Stimmung trieb die Menge an, einfach weiter zu marschieren. Nur wenige hatten Jocelyns Sturz überhaupt mitbekommen. Melzick drängelte sich zu dem Mann durch, der ein paar Meter weiter vorn auf dem Pflaster lag. Sie hatte eine böse Ahnung und blickte sich suchend um. Von den Bereitschaftspolizisten war keiner zu sehen. Später würde sie erfahren, dass der Einsatzleiter die meisten rund um den Rathausplatz beordert hatte, da er dort am ehesten mit Ausschreitungen rechnete. Und weil dort die meisten Kameras und Reporterteams versammelt waren. Nur wenige seiner Männer patrouillierten an den Rändern des Demonstrationszuges durch die Annastraße. Als Melzick den Mann erreichte, kniete ein junger Polizeibeamter neben ihm. Er hatte den Helm abgesetzt und wendete sein schweißüberströmtes Gesicht ihr zu.

»Weitergehen! Nicht stehenbleiben!«, rief er ihr entgegen. Melzick zückte ihre Dienstmarke.

»Was ist mit ihm?« Wortlos deutete der Polizist auf zwei kleine, kreisrunde Löcher auf dem verschwitzten Superman-T-Shirt. Sie saßen genau da, wo die letzten zweiundvierzig Jahre bis vor wenigen Minuten ein Herz geschlagen hatte.

Der tote Riese blickte aus erloschenen dunklen Augen verwundert in den blauen Sommerhimmel über Augsburg. Auf seiner Stirn klebten schweißfeuchte Haare. Seine schwarze Afrolook-Mähne wirkte wie eine Perücke. Sein schwarzer, ungepflegter Vollbart verstärkte die wilde Erscheinung. Melzick spürte immer noch die unbändige Energie, die bis vor wenigen Minuten in diesem Körper gelodert hatte. Sie hatte einen Moment lang den verrückten Eindruck, der Mann könnte urplötzlich mit einem Wutschrei hochfahren, sie an den Schultern packen und durchschütteln, weil sie nicht besser aufgepasst hatte.

»Drei Schüsse«, dachte Melzick, »und ich habe keinen einzigen gehört.«

»Wir müssen ihn hier wegschaffen«, rief der junge Polizist. Melzick schüttelte den Kopf.

»Auf gar keinen Fall. Er darf nicht bewegt werden! Holen Sie Verstärkung! Wir müssen die Stelle absperren.« Er starrte sie an und rührte sich nicht.

»Der Mann ist erschossen worden. Das hier ist Mord. Er bleibt liegen! Ist das klar? Und jetzt ruf endlich die Verstärkung!« Er nickte etwas verwirrt und griff nach seinem Sprechfunkgerät. Melzick zögerte kurz, dann griff sie dem toten Falk in die Hosentasche, um zu sehen, ob er einen Ausweis bei sich hatte. Außer einem flachen Kieselstein mit einem perfekt ausgeschnittenen Loch fand sie nichts. Vermutlich ein Talisman, dachte sie und überlegte, ob sie den Körper umdrehen sollte, um seine Gesäßtaschen zu untersuchen. Sie entschied sich jedoch anders. Sie wollte seine Lage nicht verändern. Es war immerhin möglich, dass sich daraus ableiten ließ, von wo die Schüsse abgefeuert wurden. Melzicks Blick ging hinüber zur anderen Seite der Annastraße. Zwischen all den Vorbeimarschierenden, die unvermindert energisch ihre Sprechchöre schmetterten, sah sie einen alten Mann auf dem Boden sitzen, neben sich einen Hund.

»Hat es den etwa auch erwischt?«, dachte sie und fühlte ein Kribbeln im Nacken.

Der Lärm der Demonstranten drang hoch in den ersten Stock des „Weißen Hasen“. Der Blick ging durch den riesigen Raum, in dem diffuses Licht den Eindruck vermittelte, es sei alles in Ordnung. Die Werkzeugtasche wog merkwürdigerweise schwerer. Aber das war Einbildung. Das wichtigste Ziel, und darauf kam es an, war erreicht. Er war beseitigt und würde nun vielleicht die Engel nerven. Auf Erden würde ihm niemand nachweinen. Also war alles in Ordnung. Nur dieser unselige Bettler. Warum hatte der sich auch im letzten Moment bewegen müssen? Das Risiko für weitere Schüsse war zu groß gewesen. Bei dieser großen Menschenmasse konnte es immer einen geben, der seinen Blick nach oben gleiten ließ. Sicherheit hatte absolute Priorität. Das Problem mit diesem Bettler musste anders gelöst werden. Diese junge Frau aus dem Esprit-Laden hatte ihm eine Schale Wasser für seinen Hund gebracht. Und sie hatte ihn am Morgen begrüßt. Sicher hatte er seinen Stammplatz vor diesem Laden. Das haben diese Bettler doch meistens. Möglicherweise wusste sie, wo er wohnte. Es war sicher nicht schwer, sie zum Reden zu bringen. Ja — das war sicher nicht schwer. Der Blick ging noch einmal durch den Raum. Es gab unzählige Spuren. Und keine einzige würde die Polizei zum Ziel führen. Es war Zeit, zu gehen. Den „Weißen Hasen“ unbemerkt zu verlassen, war ein Kinderspiel bei dem Tumult, der auf der Annastraße herrschte. Nur noch kurz den Bauzaun wieder zurechtrücken und alles war gut.

Mord aus gutem Hause

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