Читать книгу Ausgerechnet Kirgistan - Adi Traar - Страница 8
Verlängerte Wartezeiten
ОглавлениеWir sitzen auf der Terrasse des Hauses und frühstücken. Dabei sind wir umgeben von einer Unmenge an Frühstückskomponenten und Wespen. Die Fliegenpatsche des Onkels gehört zur Basis-Heimausstattung, heftige Knaller ohne jegliche Vorwarnung, abgelöst von kurzen Begeisterungsrufen begleiten unser sonst geruhsames Schlemmen. Das ganze Gemetzel hat nicht viel für sich, den Unterschied höchstens, dass die Wespen jetzt tot in der Marmelade landen.
Die Mama hat über Nacht gebüffelt. „Du … Sohn … Ich … Mutter … Jasina, Faris … Bruder.”
Aha. Mein Verdacht von gestern erhärtet sich. Infamiliennahme.
Danach wird für mich gebetet, das rührt mich, noch nie haben fremde Menschen das für mich getan. Der Onkel betet vor, Jasina und ihre Mutter nehmen’s nicht so ernst mit der Ernsthaftigkeit des Wahrhaften; ihre Hände bedecken zwar das Gesicht, ihr Lachen können sie aber kaum verbergen. Ich tue es ihnen gleich und beobachte mal ergriffen, mal vergnügt die Szenerie, die mich allzu sehr an Glaubens(h)ausübungen im verchristeten Europa erinnert, nur dass es in heimatlichen Gefilden noch nie einem Gastgeber eingefallen wäre, für einen Gast zu beten. Dann werden mir – es handelt sich um ein ortsübliches Phänomen, wie ich schon weiß – Warnungen mit auf den Weg gegeben. Die bereits bekannte Palette wird durch Spinnen-, Schlangen- und Böserwolfsaufkommen erweitert. Man sagt mir auch genau, wie viel Geld ich maximal den korrupten Polizisten geben soll, um meinen Reisepass samt innerer Ruhe zurückzugewinnen, beziehungsweise um mein Leben und die Würde des Polizisten aufrechtzuerhalten.
Eine Frau bringt die Zeitung, das wird gleich zum Anlass für ein ausgiebiges Schwätzchen genommen. Mir drängt sich der Vergleich zu den motorisierten, zeitungswerfenden Austrägern in der westlichen Welt auf. Diejenigen, die in unseren Augen laufend ihre Zeit vergeuden, haben sichtlich keine Zeitnot und folglich ein Problem weniger als wir. Sie gewinnen einen schier unendlichen Raum ohne Korsett aus Zeit. Als die Frau nach langer Zeit wieder geht, frage ich mich, ob sie nicht schon den gesamten Inhalt der Zeitung vorweggenommen und sich damit ihrer Funktion enthoben hat.
Nachdem ich morgens Katja angerufen hatte und sie uns den Weg genauer beschrieb, finden wir heute Tien-Shan Travel auf Anhieb. Hinter einem verriegelten, eisernen Einfahrtstor ohne Firmenschild (so eines sei zu gefährlich, wie man mir später erklärten wird) verbirgt sich so manches: kläffende Hunde, die leidige Abkommen mit den zahllosen, hier ansässigen Katzen geschlossen haben müssen, ein abenteuerlich genutzter Geländewagen, ein Bus, der als jemandes Schlafgelegenheit herhalten muss, und ein Haus mit einem überraschend netten Büro und einer ebensolchen Katja. Endlich jemand, der mich vor nichts und niemandem warnt. Sie ist tatsächlich die Erste, die versteht, dass ich das alles machen muss und so gesehen nicht zu halten bin.
Diese Abenteuerlust, die zur Sucht ausarten kann, woher kommt sie nur? Vermutlich auf gemeinsame Anregung von linker und rechter Gehirnhälfte aus einem diffusen Raum irgendwo dazwischen. Manchmal orte ich sie als ein kugeliges Brennen zwischen Bauch und Brust, dem Graubereich zwischen Empfindlichkeit und Stolz. Obendrein muss sie herhalten als Kompensation eines daheim ins Stocken und Einfrieren geratenen Selbst-Managements in Sachen Lebenskrisen und derer Nachwehen. Unterwegs an der frischen Luft gerät der ganze Seelenkrimskrams wieder in Aufruhr, holt mich oft genug ein, verschanzt sich irgendwo weit vor mir, um mich abzupassen, und wirft sich mir mit herausgestreckter Zunge schonungslos vor die Räder. Und das gibt Komplikationen mit Beulen nach innen. Ich fürchte auch, die Abenteuerlust entsteht unweit der Bastard-Geburtenstation der Kriegslust (die Gedenkstätte des Heldenfriedhofs ist auch nicht weit), jener Lust also, der man anno dazumal ungeniert und offenherzig frönte, solange das Morden, entkeimt und desinfiziert von Angst und Schrecken, in den Köpfen der dummen Kriegsfreiwillen stattfand; Krieg – fiktiv und blutleer. Wo also auch immer dieser Erlebnishunger herkommt, noch viel weniger weiß ich, wo er eines Tages hinführt; wobei ein kirgisischer Straßengraben oder eine pakistanische Gefängniszelle sicherlich zu den behebbaren Übeln zählen dürften.
Ich bekomme mein provisorisches Permit ausgehändigt, das ich für die Durchfahrung der abgelegenen kasachischen Grenzregionen benötige. In Karakol wartet eine Kontaktperson auf mich, die die Behördengänge erledigen und mir den offiziellen Erlaubnisschein übergeben wird.
Das alles nimmt viel Zeit in Anspruch, und vor allem, der Morgen schlendert allzu gemächlich aus der Obhut der Nacht und wird im Nu vom Mittag überrumpelt. Ich beschließe, erst am nächsten Tag loszufahren. Denn, dass es einfach nur blöd ist, um zwölf Uhr aufzubrechen und dabei Gefahr zu laufen, gleich in der Mittagshitze umzukommen oder später in der Dunkelheit in irgendeinem Straßengraben, weiß ich auch ohne mir zugetragener Warnungen. Jasina freut sich sehr, ich mich im Grunde auch, trotz des verloren gegangenen Tages. Andererseits gewinne ich ein bisschen Zeit, die ich für Gisi verwenden kann.
Im Innenhof der Pension kontrolliere ich sorgfältig ihre Schrauben und Befestigungen, diverse Bestandteile vertragen eine Feinjustierung. Dann radle ich auf ein paar Metern Probe und – upsala-aditraa – Gisi macht sich selbstständig, wir machen einen kleinen Ausritt der mit Abwurf endet – ich habe tatsächlich vergessen, den Lenker zu fixieren. Gut, dass mir das nicht im halsbrecherischen Straßenverkehr passiert ist – wenngleich; ob Selbstmord durch technisches Eigenverschulden, oder irgendwann von einem Autofahrer niedergemetzelt zu werden ist für das praktische Ergebnis wirklich einerlei.
Danach sitze ich mit Jasina am großen Esstisch auf der Terrasse und schreibe mein … dieses … Tagebuch, während sie ihre Englischaufsätze verfasst. Zwischendurch versuche ich mich im Korrigieren. Die Situation hat einen Touch ‚Vater-Tochter-Alltag‘, beide genießen wir’s, und beide haben wir wohl auch einen Grund dafür. Kam mir doch zeit meines Lebens die Tochter und ihr, so wie es scheint, der Vater abhanden. Es passiert nicht von ungefähr, dass sich Ereignisse und Begegnungen dergestalt fügen müssen, dass sie stimmig zueinander passen. All das wird mir nun doch ein bisschen eng, und ich muss raus.
Ich mache einen Spaziergang in Richtung Stadtzentrum. Mit all den Werten an Leib und Haupt komme ich mir in der kirgisischen Öffentlichkeit nun doch etwas provokativ vor.
Wenige Meter vor mir, am Rande der Schwarzkrähen-Allee steht ein gebückter Mann mittleren Alters. In sein grünliches Gesicht ist Armut und Bürde gezeichnet, die roten, halb zugekniffenen Augen nesteln unverblümt an meiner Umhängtasche. Als ich ihn beinahe erreiche, versuche ich einen mächtigen Luftbogen zu machen, stoße dabei fast an das Gerippe eines hageren Burschen, der plötzlich aus dem Nichts auftaucht. Ich nehme keine Gesichter mehr wahr, auch die Gestalten lösen sich auf, registriere nur mehr, wie mir die Tasche mit all den Wertsachen und Sachwerten entrissen wird. Ein dumpfer Stoß von hinten, begleitet von einem hellen Glockenton, lässt mich vornüber in den Wüstensand poltern. Während ich so daliege, harte Klänge einer E-Gitarre vernehme und auf die Geier warte, empfinde ich nichts als Verständnis und Mitgefühl für dieses arme Volk und bin richtig glücklich, dass mir dieses gerechte Schicksal widerfahren ist.
Derartige Phantasien gehen mir durch den Kopf, während ich in den Straßen der Innenstadt umherschlendere und mir dabei so unnötig overdressed vorkomme.
Spät am Nachmittag taucht die Mama auf und erfüllt den Innenhof mit den lebensfrohen Klängen ihres Akkordeons; dazu singt sie auch. Ihre hohe Stimme, die sie stets gewohnt ist zurückzunehmen, wächst über sich und uns hinaus, holt sich Kraft aus der ungeteilten Aufmerksamkeit unserer offenen Ohren, durchdringt das Gemäuer der Häuser und unser aller Seelen, und trägt uns ins ferne Irgendwo zwischen Frohmut und Wehklagen. Sich wiegen inmitten von Leichtigkeit und Schwere; Weinen, welches der Freude so nahe ist – russische, tatarische und kirgisische Volkslieder machen das in einem. Qualität und Fülle ihrer Darbietung sind enorm, ich bin verblüfft über diesen inneren Reichtum, der von so viel Armut umgeben ist und gerade deshalb so zu florieren scheint. Es folgt Lied auf Lied, wir Zuhörer raten die jeweilige nationale Herkunft und haben viel Spaß dabei. Noch mehr erstaunt bin ich, als sie sich für einen kurzen Moment ans Klavier setzt – es ist im Inneren des Wohnhauses verborgen – und die Pathetique (die Beethoven‘sche) zitiert.
Das alles ist wie (Zwangs-)Therapie für so einen zeitgeizigen Zivilisationskranken wie mich. In einem fort lasse ich mich in den schwebenden Raum aus Zeitlosigkeit hineinziehen.