Читать книгу Hannah und die Anderen - Adriana Stern - Страница 10

Liebes Tagebuch Donnerstag, den 24. November 1994

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Liebe Klara,

heute habe ich es mal geschafft, sofort daran zu denken, mein Tagebuch an dich zu schreiben. Ist doch auch schon ein Fortschritt, oder?

Es gibt total viel zu berichten, so dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll. Das Wichtigste ist, glaube ich, dass ich mich mit jedem Tag total viel verändere. Ich weiß nicht so richtig, wie ich dir das in Worten beschreiben kann. Vor allem, weil es mir manchmal unheimlich ist, aber manchmal finde ich es auch toll.

Manchmal bin ich neuerdings in der Schule plötzlich so richtig offen und erzähle dann ganz viel von mir.

Mein Klassenlehrer hat letzte Woche in der Pause zu mir gesagt: »Mensch, Hannelore, du taust ja richtig auf. Geht es dir besser?« Wieso besser? Ich wusste gar nicht, dass es mir so schlecht ging. Na ja, da war dieses Gespräch mit der Vertrauenslehrerin. Wer weiß, vielleicht hat sie ja meinem Klassenlehrer was weitererzählt, obwohl ich das ehrlich gesagt nicht in Ordnung finde.

Mit dem vielen Reden, das ist mir oft schon richtig peinlich. Weißt du, die Worte kommen einfach so aus mir herausgepurzelt, ohne dass ich richtig darüber nachgedacht habe. Ich höre mich dann reden und bin selber über meine Gedanken erstaunt. Manchmal sind die sehr philosophisch, echt so richtig tiefgründig. Wusste gar nicht, dass ich so denken kann.

Und manchmal, da mache ich richtig gute Witze, so dass in der Klasse alle lachen, und echt scharfsinnige und witzige Kommentare, vor allem, wenn die Jungs blöde Sprüche über Mädchen machen.

Aber ich selbst sozusagen bin eigentlich gar nicht besonders schlagfertig oder witzig oder so etwas. Und ironisch, wie ich jetzt manchmal auch bin, bin ich schon gar nicht – von meiner Natur her würde ich mich eher als ruhigen, ernsten und traurigen Menschen beschreiben. Schon klug – also dumm kann man mich wirklich nicht nennen –, aber eigentlich total verschlossen, in mich selbst eingegraben. Richtig erzählen tue ich nur dir hier im Tagebuch, nur dir vertraue ich richtig. Und sage dir auch Sachen, die mir sehr, sehr schwer fallen und wegen denen ich mich auch schäme.

Ich finde, das muss sich wirklich ändern, diese Verschwiegenheit ist ja nicht zum Aushalten. Und das Leben ist doch viel zu kurz, um sich in seine eigene kleine Welt zurückzuziehen. Ich habe bloß so lange nichts gesagt, weil ich ganz genau weiß, dass Papa nicht will, dass wir was von zu Hause erzählen. Und wieso will er das nicht? Na, ist doch logisch. Aus Angst, was andere Menschen, zum Beispiel Frau Liesban oder unser Klassenlehrer Herr Kuck, wohl über die saubere Familie Merkum herausfinden könnten.

Ich finde, wir dürfen nicht schweigen! Wir müssen weg von zu Hause. Wieso freundet sich die blöde Miriam nicht endlich mit der Neuen an. Stephanie oder wie sie noch mal heißt. Ich trau mich das irgendwie nicht so richtig, weil sie doch ein Mädchen ist und so. Ich komme einfach besser mit Jungs klar. Zum Beispiel den Stephan, den finde ich echt superklasse. Endlich mal nicht so ein Hohlkopf, der nur an Mädchenärgern, Fußball und Rumprahlen denkt. Und Gitarre spielt der Typ – echt zum Verlieben! Aber das lass ich wohl lieber mal bleiben. Jedenfalls ist es spitzenmäßig, dass wir jetzt mit ihm zusammen in der Schülerzeitungsredaktion arbeiten. Das war die beste Idee des Jahrhunderts – ehrlich.

Und diese Jugendgruppe, die für ein unabhängiges Jugendzentrum kämpft, die finde ich wirklich cool. Okay, die Leute sind nicht vom Gymnasium, sondern von der Hauptschule, und Vater meint, diese Leute wären ja wohl nicht so ganz unser Niveau, aber ich finde Vater sowieso in vielerlei Hinsicht reichlich reaktionär, wollte ich bei dieser Gelegenheit mal vermerkt haben.

Mit Vater über Politik zu streiten mag ja bis zu einem gewissen Grad tatsächlich Spaß machen, aber teilweise hat der Typ dermaßen rückständige Überzeugungen, dass man sich wirklich schämt, sein Kind zu sein.

Letztens zum Beispiel behauptet er doch glatt, nur Arbeitslose und Sozialschwache und Alkoholiker würden ihren Kindern Gewalt antun. Er hat sogar auf einem Kongress, wo es um Gewalt in der Familie geht, ein Referat gehalten, wo er das wissenschaftlich, man stelle sich vor: wissenschaftlich nachgewiesen hat, dass Gewalt an Kindern in Mittel- und Oberschichtsfamilien nur einen geringen Bruchteil ausmacht.

Vorher hat er Miriam das Referat zum Lesen gegeben – und jetzt halte dich fest, Klara – Miriam hat doch glatt gesagt: »Mensch, Papa, bin ich froh, dass ich nicht solche Eltern habe.« Also, tut mir Leid, aber da hat es mir dann gereicht. Ich sie also weggeschubst und dann mit Vater mal ein paar ernste Worte gewechselt – von wegen keine Gewalt in Mittelschichts- und Oberschichtsfamilien.

Dann ist Vater ziemlich wütend geworden. Also, bei ihm sieht das ja so aus, dass man das nicht an seiner Lautstärke merkt oder so. Er wird im Gegenteil dann immer total ruhig – so dass einem himmelangst wird – wie vor einem tierischen Sturm, wo dann die Vögel aufhören zu singen und die Luft vor Spannung zu knistern beginnt und die Leute auf der Straße ganz still werden und wirklich jegliche Unterhaltung einstellen. Ja, also Vater wird dann genau so, dass einem angst und bange wird. Dann färbt sich sein Gesicht langsam rot und er schiebt im Zeitlupentempo seine Brille von der Nase hoch auf die Stirn. Seine Stimme wird dann gefährlich leise und er sagt: »Wer bist du eigentlich, dass du so mit deinem Vater sprichst?« Dann fasst er mich voll brutal an den Schultern und schüttelt mich, dass mir echt ganz anders wird – von wegen keine Gewalt gegen Kinder in Mittelschichtsfamilien.

»Wer bist du«, hat er dann geflüstert, »dass du es wagst, derart mit deinem Vater zu sprechen?«

»Jurek«, habe ich geantwortet, und er sagt: »Aha, dann zieh dich schon mal aus, ich hole inzwischen ein paar Dinge, damit du eine Ahnung davon bekommst, was Gewalt ist und wovon wir hier gerade reden. Und danach schreibst du einen Aufsatz darüber, haben wir uns verstanden?« Ich hab bloß genickt, und kaum ist der Typ zum Zimmer raus, habe ich gemacht, dass ich wegkomme.

Am nächsten Morgen in der Schule tat mir alles weh und beim Sportunterricht wollte ich mich nicht ausziehen. Ich hatte den ganzen Rücken und die Oberschenkel blau bis grün – netter Regenbogen, wirklich – wer hat so was schon persönlich auf seiner eigenen Haut! In der Dusche bekam ich fast einen Herzinfarkt. So schlimm hatte ich mir das gar nicht vorgestellt.

Der Sportlehrer hat’s dummerweise auch gesehen und ich hatte ein Gespräch mit Frau Liesban. Inhalt? Keine Ahnung, weiß ich echt nicht.

Scheiße, ich habe irgendwie mal wieder den Faden verloren.

Ach, ich glaube, es ging um meine neue Redseligkeit. Vielleicht liegt es auch an meinem neuen Klassenlehrer, Herrn Kuck, der ist schon irgendwie echt toll drauf. Im Unterricht macht er so abgefahrene Sachen in Deutsch – aber auch in den anderen Fächern, das ist richtig gut. Ich traue mich vielleicht deshalb mehr. Was vor allem echt toll an ihm ist, dass er mich völlig in Ruhe lässt, wenn ich mal wieder ›abwesend‹ bin, wie man so schön sagt. Er stört mich dann nicht oder versucht, mich auf frischer Tat dabei zu ertappen, dass ich gerade nicht aufgepasst habe, wie es vor ihm schon etliche Lehrer getan haben. Er versteht es einfach und lässt mich machen.

Das Einzige, was ein bisschen komisch ist, dass er denkt, dass ich voll die tolle Sozialarbeiterin oder Psychologin oder so etwas bin. Weil er dann Mädchen mit Selbstmordgedanken oder Problemen zu Hause zu mir schickt und tatsächlich glaubt, ich könne denen helfen. Irgendwie rede ich dann auch mit ihnen – ich weiß nicht was –, und den Mädchen geht es wirklich besser danach. Ich versuche dann, stolz auf mich zu sein, Herr Kuck ist es auf jeden Fall, aber ehrlich gesagt macht mir das Angst mit den drei Schülerinnen, mit denen ich bisher gesprochen habe. Aber das traue ich mich natürlich nicht Herrn Kuck zu sagen. Ich bin ja froh, dass er nicht so scheiße von mir denkt.

Weißt du was? Ich finde, ich schreibe irgendwie viel zu wenig über mich, ich meine darüber, wie es mir wirklich geht. Für so vieles habe ich keine Worte, es gibt keine. Und viel zu oft weiß ich überhaupt keinen Grund dafür, warum ich mich schlecht fühle, aber auch nicht, warum ich mich gut fühle. Eigentlich beobachte und analysiere ich mich ständig. Meinst du, das ist in meinem Alter ganz normal? Irgendwie kann ich über solche Fragen echt mit niemandem reden. Manchmal habe ich das Gefühl, von einem völlig anderen Planeten zu kommen.

Wir haben seit einem Monat ein neues Mädchen in der Klasse. Ich glaube, sie ist nett. Sie kommt aus München und ist neu hierher gezogen, weil ihre Mutter hier eine Stelle gefunden hat. Sie spricht so klar und direkt über sich selbst und mit anderen und hat sehr viel Humor und ist trotzdem auch tiefsinnig und ernsthaft. Sie ist wirklich gut drauf, glaube ich. Ich würde sie so gerne ansprechen, aber ich traue mich nicht.

Ich wäre wirklich gerne so wie sie. Sie ist so selbstbewusst und redet, wie ihr der Schnabel gewachsen ist, und scheint überhaupt vor nichts Angst zu haben. Ich meine vor allem nicht davor, wie andere über sie denken könnten. Letzte Woche hat sie mich angelacht und ist mit ihren Schulsachen einfach auf den leeren Platz neben meinem gezogen. »Was dagegen, eine neue Nachbarin zu bekommen?«, hat sie gefragt und mich ganz spitzbübisch angesehen dabei. Und ich Idiot habe nur den Kopf geschüttelt. Na ja, jetzt sitzt sie jedenfalls neben mir und ich bin froh darüber.

Ach, könnte ich doch so reden und mich ausdrücken wie sie. Ich glaube, das ist im Moment fast mein allergrößter Wunsch.

Warum nur bin ich nicht so wie sie? Warum gibt es niemanden, mit dem ich wirklich über mich reden kann? Und wieso habe ich so große Angst davor? Ich will das nicht mehr! Niemand weiß, wie ich wirklich bin.

Warum verhält man sich nicht so, wie man ist? Warum ist man nicht einfach so, wie man ist? Vor wem müssen wir uns denn verstecken?

Ich bin so oft überhaupt nicht ich selbst, ich halte das nicht mehr aus, ich will das nicht mehr. Kannst du das denn nicht verstehen, Klara? Ich will, ich will sofort anders sein!

So, jetzt ist eine Stunde vergangen. Ich habe den Stift erst mal zur Seite gefeuert und geheult wie ein Schlosshund. Und jetzt geht es schon wieder.

Also wirklich. Dass ich vor Selbstmitleid nicht zerflossen bin! Es tut mir Leid. Ist ja alles Blödsinn. Ich kenne mich eben nur nicht mehr so richtig (aus). Nimm’s mir nicht so übel. Ich habe das Gefühl (das Gefühl, wie gesagt), ich bin etwas auf die schiefe Bahn geraten. Wie komme ich nur dazu?

Ich finde einfach keine Worte für meine Gedanken. Am besten male ich nur noch und spreche überhaupt nicht mehr. Im Kunstunterricht lebe ich. Es ist die einzige Zeit, in der ich mich wirklich lebendig fühle. Ich spreche nicht mit Worten, ich spreche mit Farben und Formen. Mein Kunstlehrer hält mich für sehr begabt. Er fährt wirklich total auf meine Bilder ab. Aber ich, ich kann meinen Schmerz, meine Wut, all meine Gefühle nicht mal annähernd deutlich aufs Papier bringen, obwohl mein Lehrer sagt, er hätte selten ausdrucksstärkere und emotionalere Bilder gesehen als meine.

Es gibt ein Bild, das wir uns letzte Woche angesehen haben im Kunstunterricht. Es heißt ›Der Schrei‹ oder ›Der Schrei auf der Brücke‹. Und genau so fühle ich mich oft. Genau so will ich malen. Ich könnte schreien, schreien, schreien und ich würde bestimmt niemals damit aufhören, wenn ich nur einmal damit angefangen habe. Meinem Kunstlehrer habe ich erzählt, dass ich mit meinem Namen überhaupt nichts anfangen kann und mir einen Künstlernamen wünsche. Er fragte mich dann, wie ich am liebsten heißen würde, und ich sagte ihm, dass ich in Wirklichkeit Silver heiße.

Er hat nur genickt und nennt mich seitdem Silver. Das finde ich echt klasse.

Warum schreibe ich solche Sachen? Bin ich es überhaupt, die diese Sachen schreibt? Oder habe ich sie nur irgendwoher geklaut? Ich finde mich schrecklich!

Liebe Miriam,

1. Dezember 1994

triff dich doch einfach mal mit Stephanie. Sie ist ein tolles Mädchen und sie mag dich gern! Deine Klara

Hannah und die Anderen

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