Читать книгу Hannah und die Anderen - Adriana Stern - Страница 6
Liebes Tagebuch Donnerstag, den 2. Juni 1994
ОглавлениеTante Lore hat mir heute zum Geburtstag ein Buch mit leeren Seiten geschenkt. Tante Lore ist – glaube ich – die einzige Tante, die ich richtig gerne mag aus meiner ganzen Verwandtschaft. Sie hat gesagt, ich könnte es als Tagebuch benutzen oder um Gedichte darin aufzuschreiben. Dass Tante Lore überhaupt weiß, dass ich Gedichte schreibe! Das Wichtigste ist wahrscheinlich, dass ich das Tagebuch sehr gut verstecke, damit Mama es nicht findet.
Denn sie würde bestimmt alles lesen. Meine Post macht sie ja schließlich auch einfach auf. Sie meint, Briefgeheimnis gilt nicht für Kinder, solange sie noch zu Hause wohnen. Und weil sie das Sorgerecht für mich hat – Mama sagt immer ›die elterliche Gewalt‹, so wie das wohl früher mal hieß, tja, solange sie also für mich noch zuständig ist, hätte sie das Recht, alles zu lesen und zu kontrollieren, was für mich ist oder von mir kommt.
Klar, bei ihrer Paranoia, dass ich sowieso bloß lüge. Woher sie das wohl weiß?
Ich jedenfalls finde es echt gefährlich, hier mal eben so locker ein Tagebuch zu führen. Denn was wirklich zu Hause passiert, sollte man hier wohl lieber nicht reinschreiben. Na, kann mir ja egal sein. Meine Meinung interessiert dich ja sowieso nicht.
Jetzt kaue ich schon die ganze Zeit auf meinem Stift herum – eine sehr schlechte Angewohnheit, sagt Papa. Ich glaube, da hat er wohl Recht. Eigentlich war es wohl ein ganz schöner Geburtstag. Ich weiß gar nicht, wieso ich mich trotzdem so allein fühle. So einsam.
Der Blick aus dem Fenster bedeutet Einsamkeit
keine Spur im Sand
die zu mir führt
niemand, der mich erreicht, der mich versteht
niemand, der begreift, was ich selbst nicht begreifen kann
ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich nicht Hannelore heiß
Hannelore ist echt ein bescheuerter Name. Ich würde viel, viel lieber, na ja, vielleicht nicht gerade Rumpelstilzchen heißen, aber auf jeden Fall nicht so. Miriam zum Beispiel, das ist ein Name, der mir gut gefällt. Eigentlich, finde ich auch, heiße ich schon immer so. Wie diese tolle Schriftstellerin, die so viele Bücher übersetzt hat und auch selber tolle Bücher schreibt. Ich möchte gerne noch mindestens zwei andere Sprachen lernen. Leider kann ich die ja nur in der Bibliothek lesen, aber diese Miriam Pressler finde ich einfach klasse. Sie schreibt und übersetzt, finde ich, wirklich wichtige Bücher. Ich weiß ja, dass ich nicht so bin wie sie, aber vielleicht kann ich es mal werden, wenn ich erwachsen bin.
Da fällt mir ein, so ein Tagebuch, das müsste sich an irgendjemanden wenden. Ich muss alles jemandem erzählen können. Jemandem, der mich versteht. Jemand, der ein bisschen so ist wie meine Tante Lore, nach der ich ja immerhin benannt sein soll.
Oh ja, ich weiß. Ich werde mir einfach jemanden vorstellen, so wie es Anne Frank in ihrem Tagebuch gemacht hat. Und sie soll älter sein als ich. Schon erwachsen, aber nicht steinalt. Neunzehn vielleicht. Und sie heißt Klara, weil sie so viel Klarheit hat und mir immer helfen und mich trösten kann, wenn ich nicht mehr weiterweiß.
Okay, also dann fange ich jetzt noch mal ganz neu an.
Liebe Klara,
na ja, das habe ich ja schon aufgeschrieben, dass ich heute Geburtstag habe und mir Tante Lore ein Buch geschenkt hat mit leeren Seiten darin.
Sag mal, findest du eigentlich auch meine Schrift so zerfahren und unterschiedlich? Manchmal, das gebe ich zu, habe ich echt eine Sauklaue. Ich glaube, das war auf jeden Fall auch ein Grund, wieso ich vorher noch nie überlegt habe, ein Tagebuch zu schreiben. Weil plötzlich meine Schrift richtig schlecht und krakelig wird und dann tausend Tintenkleckse da reinkommen und Fettspritzer und so, und das finde ich echt eklig. Ich habe keine Ahnung, wieso mir das immer passiert. Ich setze mich eigentlich nie mit Fett- oder Schokoladenfingern an meine Hausaufgaben. Trotzdem passiert das ständig. Das ärgert mich total, zudem mir in der Schule die Lehrer nicht glauben – na ja, wie sollten sie auch –, dass ich echt überhaupt nichts dafür kann – komisch, es sind ja meine Hefte? Scheiße, so was verwirrt mich echt. Interessiert dich das eigentlich? Bestimmt gibt es wichtigere Themen als beschmierte Hefte. Ich muss mal kurz nachdenken, was ich dir erzählen könnte.
Also, Fettfinger sind doch nun wirklich nicht so ein tragisches Problem, ich könnte da über ganz andere Sachen berichten, die ich viel schwieriger finde. Meine Alpträume zum Beispiel. Außerdem liebe ich Käsebrot essen oder Schokolade und dann was aufschreiben echt megamäßig. Ehrlich, ich kann mich viel besser konzentrieren, wenn ich gleichzeitig was in den Bauch bekomme! Und ich würde mich wirklich freuen, Miriam, wenn du meine Existenz wenigstens dadurch mal bemerken würdest!
Ich denke zum Beispiel sehr viel darüber nach, dass ich mich so oft schlecht fühle, obwohl, wenn ich dann darüber nachdenke, was an dem Tag so alles passiert ist, dann muss ich doch zu dem Ergebnis kommen, dass es eigentlich ein schöner Tag gewesen ist. Aber ich fühle das einfach nicht. Mama sagt, dass ich vom Leben zu viel erwarte und dass man mich nie zufrieden stellen könne, egal, was auch immer man Tolles für mich tut. Dann kriege ich richtig Schuldgefühle, wenn ich mich so schlecht fühle, und fühle mich noch viel schlechter als vorher sowieso schon. Das ist wie ein Hamsterrad. Manchmal kann ich aus dem überhaupt nicht mehr aussteigen, dann wird es manchmal so schlimm, dass ich am liebsten sterben würde. Oh bitte, Klara, das darfst du niemandem weitersagen. Versprich es mir! Aber natürlich, du bist ja meine Freundin und du hilfst mir ja auch. Auch wenn ich dir nicht genau sagen kann wie, kannst du mir ja vielleicht trotzdem helfen.
Vor zwei Wochen habe ich mal in der Kirche gebeichtet, weil ich mit diesen ganzen schrecklichen Gedanken überhaupt nicht mehr fertig geworden bin. Aber der Pastor meinte, das wäre in meinem Alter ganz normal. Er meinte, ich müsste den Sinn in meinem Leben erst noch finden und alle Jugendlichen würden sich mal eine Zeit lang so schlecht fühlen. Und dass es eine Sünde wäre, an Selbstmord zu denken. Da habe ich dann lieber nichts mehr gesagt. Aber warum, warum fühle ich mich so dreckig und schlecht und nutzlos? Ach Klara, ich will doch lieber bald erwachsen sein. Wenn dann diese Gefühle endlich aufhören. Oh, jetzt fällt mir schon eine erste Hilfe ein. Schreib mir doch bitte auf, wo ich das Buch am sichersten verstecken kann? Ach Mann, ich hab manchmal schon komische Ideen. Na ja, ich hoffe du verzeihst mir. Ich wünschte so sehr, dass es dich wirklich gäbe.
Oh je, ich glaube, Papa ruft mich.
Komisch, ich bekomme dann manchmal richtiges Herzrasen und mir wird ganz schummrig und ich kann gar nicht mehr richtig gucken.
Ich habe schon mal überlegt, ob ich vielleicht eine unheilbare Krankheit im Gehirn habe. Komisch, das will ich auf keinen Fall. Ich glaube, in Wirklichkeit will ich gar nicht sterben, sondern mich einfach nur nicht so schlecht und sinnlos fühlen. Und siehst du, kaum schreibe ich an dich, schon fühle ich mich wieder viel besser.
Oh Gott, Papa ruft schon wieder. Klara, mir ist so schlecht auf einmal …
Sonntag, 5. Juni 1994
Vielleicht als Schulbuch tarnen, eins, wo eine Mutter niemals reinguckt, zum Beispiel Geschichte oder Erdkunde oder Biologie. Gut, oder?