Читать книгу Hannah und die Anderen - Adriana Stern - Страница 7
Zu Besuch bei Janne 2. Kapitel, in dem Janne sich erschreckt und eine richtig gute Idee hat
ОглавлениеJanne sah erschrocken auf das Mädchen hinunter. Tausend Gedanken überschlugen sich in ihrem Kopf.
Scheiße, was mache ich denn jetzt … Wie alt sie wohl ist … Hätte ich doch letzten Herbst bloß diesen Erste-Hilfe-Kurs gemacht … Ich weiß nicht mal, wie sie heißt … Wovor hat sie so eine schreckliche Angst? … Ob sie wohl gesucht wird? … Ich weiß nicht mal, wo sie herkommt … Ich weiß überhaupt gar nichts von ihr … Verdammt, ich muss den Laden abschließen … Ich bin um acht mit Noa verabredet … Noa! Ich kann nicht schon wieder einen Termin verbauen … Ob das Mädchen ohnmächtig ist? … Ich muss irgendwas tun.
Janne versuchte sich zu beruhigen. Ihr Herz raste. Sie sah das Mädchen am Boden liegen und fühlte einen Schmerz, sehr, sehr weit weg … so weit, dass sie sich kaum noch daran erinnern konnte und das Gefühl von Unwirklichkeit sie unwillkürlich zusammenzucken ließ. Sie sah sich selbst mit fünfzehn verzweifelt in ihrem Zimmer hocken und die Wände anstarren. Sie schob die Erinnerung zur Seite. Bloß nicht. Nicht jetzt. Sie beugte sich zu dem Mädchen hinunter und setzte sich dann neben sie auf den Boden.
»Hey, du. Hallo. Bitte, sag doch etwas. Komm, bitte, mach die Augen auf.«
Sie versuchte sich daran zu erinnern, welche Augenfarbe das Mädchen hatte, aber es fiel ihr nicht ein. Sie nahm ihre Hand und suchte hektisch nach ihrem Puls. Dann atmete sie erleichtert auf. Ein regelmäßiges Pochen war deutlich zu fühlen.
Ob Noa schon zu Hause ist?, überlegte sie. Ich würde sie so gerne fragen, was ich machen soll. Noa hat immer gute Ideen, gerade in Krisensituationen. Und mit Mädchen sowieso. Ach, fiel ihr dann ein, ich kann sie überhaupt nicht anrufen. Immerhin arbeitet sie im Mädchenhaus, und wenn ich jetzt eine Mitarbeiterin des Mädchenhauses anriefe, wäre das für die Kleine bestimmt ein Vertrauensbruch. Vielleicht hole ich lieber eine Decke. Im Büro müsste eigentlich eine sein.
»Du, ich hole mal eine Decke für dich. Ich komme sofort zurück, okay?«
Das Mädchen reagierte nicht und Janne stand auf, lief die wenigen Schritte an den Bücherregalen vorbei auf das winzige Büro zu, in dem gerade genug Platz war für einen Computer, einen Stuhl und zwei lange, schmale, bis zur Decke reichende Regale, in denen sich Buchhaltungsordner und Leseexemplare stapelten.
Janne bemerkte, dass sie den Computer noch nicht ausgemacht hatte, und die Hälfte der zu erledigenden Tagespost sprang sie regelrecht vorwurfsvoll an.
»Immer mir muss so was passieren«, seufzte sie. Immer bin ich diejenige, der Hunde zulaufen oder Mädchen, die nicht wissen wohin, oder Migranten, die vor der Hetze durch Rechtsradikale in den Laden flüchten, so wie vor einem halben Jahr Lois. Komisch, dass den anderen so was nie zu passieren scheint. Sie werden mir meine Geschichten bald überhaupt nicht mehr glauben.
Janne seufzte erneut und sah sich stirnrunzelnd in dem kleinen Büro um. Ihr fiel ihre Schulzeit wieder ein. Die Lehrer hatten auch immer geglaubt, sie hätte einfach nur eine sehr ausgeprägte Phantasie und einen besonderen Sinn für die originellsten Ausreden, wenn sie zu spät kam oder mal wieder die Hausaufgaben nicht gemacht hatte, was zugegebenermaßen ziemlich häufig vorgekommen war …
In der hintersten Büroecke sah Janne die rote Plüschdecke fein säuberlich zusammengefaltet liegen. Sie nahm sie und ging zum Verkaufsraum zurück. Das Mädchen lag immer noch genauso da, und Janne sah mehr als besorgt zu ihr hinunter.
Ich muss sie irgendwie wach kriegen. Ich kann sie unmöglich hier liegen lassen. Sie ist ja regelrecht umgefallen. Vielleicht ist sie krank und ich sollte eine Ärztin rufen.
Ihr fiel ein, dass sie es in alten Filmen immer mit Riechsalz lösten, wenn eine Frau in Ohnmacht gefallen war. Und dass überhaupt in allen Filmen ausschließlich Frauen in Ohnmacht fielen. Natürlich, dachte sie höhnisch.
Sie hatte sich noch nie überlegt, was in diesem Riechsalz genau drin war, und das bereute sie jetzt. Ihre Interessen waren weiß Gott vielfältig, aber Riechsalz hatte bislang nicht dazugehört.
Musik! Das ist es. Ich mach Musik. Irgendwas Lautes, Fetziges. Vielleicht Pur oder so. Das könnte ihr gefallen. Janne deckte das Mädchen zu und strich ihr leicht über die Hand. »Ich helfe dir. Du bist nicht allein. Hab keine Angst. Wie wär’s mit ein bisschen Musik?«
Hatte sich im Gesicht des Mädchens nicht gerade etwas bewegt? Hatte sie nicht ganz schwach gelächelt? Janne war sich nicht sicher, aber sie redete weiter in der Hoffnung, dass die Jugendliche sie hörte.
»Ich leg mal Pur auf. Kennst du die? Ist echt eine ziemlich coole Gruppe. Ich kenne viele Mädchen, die diese Musik total klasse finden. Eigentlich habe ich sie durch die Mädchen kennen gelernt und jetzt höre ich sie selber ständig.«
Janne hatte mit ihr gesprochen, als wäre sie wach und würde ihr auf jede Frage ganz selbstverständlich antworten. Und weil sie immer noch das Gefühl hatte, wirklich von dem Mädchen gehört zu werden, sprach sie weiter.
»Ich mache Kurse für Mädchen. Selbstbehauptungskurse nennen sich die. Dort spielen die Mädchen ganz viel und sie lernen zu sagen, was sie selbst wollen, und vor allem, sich gegen das zu wehren, was sie auf gar keinen Fall wollen. Und sie stellen viele Fragen. Eltern sind nämlich oft leider so bescheuert, dass Mädchen die für sie wirklich wichtigen Dinge von ihnen am allerwenigsten erfahren können.«
Janne sah zu ihr hin. Das Mädchen schien eingeschlafen zu sein. So, wie sie jetzt dalag, wirkte es auf Janne nicht mehr beunruhigend.
Vielleicht ist sie nur müde, überlegte sie. Wer weiß, wie lange sie schon unterwegs ist. Vielleicht hat sie seit Ewigkeiten weder geschlafen noch irgendwas gegessen. Und bestimmt hatte sie die ganze Zeit Angst.
Janne hatte in dem Mädchen eine ungeheure Kraft wahrgenommen. Und sie hatte in den vergangenen vielleicht eineinhalb Stunden völlig unterschiedlich auf Janne gewirkt. Trotzig, mutig, kämpferisch, selbstbewusst, klug und humorvoll. Und gleichzeitig auch verzweifelt, ängstlich und sehr verletzt. Misstrauisch und klein. Unglaublich viele Facetten in so kurzer Zeit.
Es ging etwas von ihr aus, das schwer zu beschreiben war. Eine Welle von Energie, die Janne tief berührte, sie ganz wach werden ließ und sehr aufmerksam.
Janne hatte sie vom ersten Augenblick an gemocht. Schon wie sie mit Marissa zur Tür hereingekommen war und darauf bestanden hatte, dass alles mit ihr in Ordnung sei. Wo es doch offensichtlich alles andere als völlig in Ordnung war, was in dem Leben des Mädchens los sein musste. Diese Jugendliche beeindruckte Janne.
Sie nahm sich vor, ihr zu helfen, zumindest so lange, bis sie an einem guten, sicheren Ort angekommen war, an dem sie sich geborgen fühlen konnte. Und an dem sie sie auch in guten Händen wusste. Bei Frauen, die dafür sorgten, dass sie nicht dahin zurückmusste, von wo sie offensichtlich und aus sicher schwer wiegenden Gründen geflohen war.
Janne stand auf und wandte sich nach links, wo auf einem kleinen Tisch ein CD-Player stand. Sie drehte die Musik laut und setzte sich auf den Stuhl von vorher, ein wenig abseits, damit das Mädchen in Ruhe aufwachen konnte. Sie hatte mittlerweile jegliches Zeitgefühl verloren. Draußen war es schon eine Weile ziemlich dunkel, aber einige Läden hatten noch offen.
Als Janne gerade beschlossen hatte, sich noch einen Kaffee aufzubrühen und das Mädchen einen Moment sich selbst zu überlassen, bewegte sich der rote Plüschberg. Also blieb sie sitzen und wartete gespannt ab.
Das Mädchen setzte sich auf und sah sich langsam und vorsichtig um. Als sie Janne erblickte, nickte die ihr kurz zu und lächelte.
Das Mädchen schien verwirrt und gleichzeitig darum bemüht, es sich nicht anmerken zu lassen. Janne beschloss, als Erste etwas zu sagen.
»Hey, ich heiße Janne und arbeite hier im Buchladen. Du bist wohl vor etwa einer viertel Stunde eingeschlafen. Ich dachte, ich weck dich lieber, denn der Boden ist nicht sehr gemütlich.«
Janne versuchte herauszufinden, wie ihre Worte gewirkt hatten. Der rote Plüschberg schwieg. Die beiden sahen einander an.
»Magst du die Musik?«, fragte Janne und das Mädchen nickte.
»Hm-hm«, murmelte sie zustimmend. »Pur finde ich gut. Die haben echt gute Texte. Jedenfalls viele Texte finde ich klasse.«
»Ich wüsste gerne, wie du heißt, damit ich dich mit deinem Namen ansprechen kann.« Janne stutzte einen Moment und fügte dann hinzu: »Wenn du willst, natürlich nur.«
Das Mädchen sah aus dem Fenster in den nachtdunklen Hinterhof. »Zu Hause nennen sie mich Hannelore«, sagte sie dann, ohne sich umzudrehen. »Aber in Wirklichkeit heiße ich Hannah«, fügte sie leise hinzu.
Janne nickte. »Magst du deinen Namen?«
»Ich glaube schon«, antwortete das Mädchen. Sie zögerte einen Moment. »Doch, Hannah ist ein schöner Name, irgendwie.«
»Ich weiß nicht«, fing Janne das Gespräch neu an und fühlte sich unsicher. Sie wollte Hannah nicht zu nahe treten, sie mit ihren Fragen nicht erschrecken. Der Gedanke, dass Hannah fluchtartig den Buchladen verlassen könnte, war für sie mehr als beunruhigend. Hannah sah sie an. Fragend, ein wenig trotzig und mit einer Spur von Geringschätzigkeit.
Bestimmt findet sie mich genauso bescheuert wie alle Erwachsenen, dachte Janne und der Gedanke machte sie traurig.
»Hier den Laden, den wollte ich jetzt abschließen und nach Hause gehen. Ich will dich nicht auf die Straße setzen. Wenn du magst, kannst du erst mal mit mir kommen.« Halb fragend sah Janne sie an.
»Und dann?«, wollte Hannah wissen.
»Dann können wir zusammen überlegen, was du machen willst, und ich könnte dich beraten. Vielleicht«, setzte sie etwas zweifelnd hinzu.
»Wieso willst du das?«
»Weil wir zusammen vielleicht eine gute Idee haben. Falls du nichts Besseres vorhast, könntest du doch einfach erst mal mitkommen und dann weitersehen. Was meinst du?«
»Und du rufst nicht die Bullen an?«
»Nein, ich rufe nicht die Bullen an.«
»Und bei mir zu Hause?«
»Nein, auch dort nicht. Und überhaupt werde ich nichts unternehmen, was du nicht willst. Echt nicht.«
Hannah runzelte die Stirn. »Da wärst du aber die erste Erwachsene, die das wirklich nicht macht.«
»Na, und?« Janne grinste. »Kennst du vielleicht Erwachsene, die Pur gut finden?«
»Okay. Eins zu null für dich«, stimmte Hannah anerkennend zu und Janne spürte, dass sie ihr ein wenig vertraute.
Die Abschlussarbeiten, die notwendig waren, um den Laden verlassen zu können, nahmen jeden Tag etwa eine halbe Stunde in Anspruch. Hannah hatte sich aus einem der Regale ein Jugendbuch ausgesucht, in das sie sich vertiefte, während Janne zügig und konzentriert die letzten Arbeiten erledigte. Ihr fiel wieder ein, dass sie mit Noa verabredet war.
Gut, dass sie einen Schlüssel zu meiner Wohnung hat. Dann kommt sie auf jeden Fall rein, falls ich erst nach acht mit Hannah nach Hause komme. Dann dachte sie: Oh, vielleicht ist das keine so gute Idee, dass Noa einfach so bei mir auftaucht. Vielleicht macht es Hannah Angst. Auch, überlegte sie weiter, weil sie im Mädchenhaus arbeitet, und möglicherweise denkt Hannah dann noch, ich hätte heimlich im Mädchenhaus angerufen.
Janne spürte, wie schnell das hauchdünne Vertrauen, das Hannah ihr entgegenbrachte, zerstört werden konnte. Durch ihre Arbeit als Selbstverteidigungstrainerin wusste sie, wie wichtig es war, auf gar keinen Fall etwas gegen den Willen eines Mädchens zu unternehmen. Ganz egal, wie sinnvoll ihr ihre Ideen vorkommen mochten.
Dass Menschen gegen Hannahs Willen über sie bestimmt hatten, ihr Gewalt angetan hatten oder Schlimmeres, um dann auch noch zu behaupten, es sei nur zu ihrem Besten, das hatte sie zu Hause mit Sicherheit schon zur Genüge erlebt.
Dass es bei Hannah um Schlimmeres ging, dessen war sich Janne sicher.
Wahrscheinlich hat niemand ihre Situation erkannt oder ihre Hilferufe ernst genommen. Wer weiß, Erwachsene haben gerade in dieser Hinsicht oft erstaunliche Bretter vorm Kopf, grübelte Janne.
Sie würde Noa anrufen und ihr erklären, dass sie sich später noch einmal melden würde. Noa würde das schon verstehen.
»Du, Hannah?« Janne ging zu dem kleinen Lesetisch, an dem das Mädchen saß und um sich herum alles vergessen zu haben schien. Hannah fuhr unwillkürlich auf.
»Oh, Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich will kurz eine Freundin anrufen, die mich heute Abend besuchen wollte, und ihr absagen. Weil ja heute du schon mein Besuch bist.«
Hannah sah erstaunt aus und auch ein wenig stolz. »Ja?«, fragte sie. »Bin ich dein Besuch?«
Janne lachte und bestätigte das, und Hannah strahlte über das ganze Gesicht.
»Okay, Hannah, ich rufe dann also mal kurz an.«
Sie wandte sich dem Telefon zu und warf dabei einen Blick auf den kleinen Wecker, der direkt zwischen dem Telefon, den Notizzetteln und der Stiftbox stand. Es war schon halb acht.
Noa war sicher noch zu Hause. Der Weg von ihr zu Jannes Wohnung betrug nur etwas mehr als einen Kilometer. Nach dem zweiten Klingeln meldete sich der Anrufbeantworter. Noa besprach ihren AB grundsätzlich zweisprachig, weil sie viele Leute kannte, die nur Englisch verstanden. Leider dauerte es deswegen immer ewig, bis der Signalton zu hören war.
»Mensch, hallo. Da hast du aber Glück gehabt, dass du mich noch erreichst. Ich wollte gerade los. Ist irgendwas passiert?«
»Ja«, erwiderte Janne. »Das kann man schon so sagen. Ich habe überraschend Besuch bekommen. Ich würd’s dir gern später erklären. Ist das in Ordnung so?«
»Ja. Ja, klar. Was denn für Besuch?«
»Ich kann und will im Moment nichts dazu sagen. Lass uns doch einfach später noch mal telefonieren, okay?«
Noa schwieg einen Moment, dann sagte sie: »Ja gut, Janne. Ich hab mich nur so auf dich gefreut, weißt du. Schade, dass wir uns nicht sehen. Ruf mich auf jeden Fall an, vergiss es nicht, ja?
»Ja, natürlich ruf ich dich an. Sei mir nicht böse. Diesmal kann ich es wirklich nicht anders lösen.« Janne spürte Noas Enttäuschung. »Bis später, liebste Noa. Ich vermisse dich und ruf dich bestimmt an.« Sie murmelte »Scheiße«, als sie den Hörer auf die Gabel zurückgleiten ließ.
Hannah, die immer noch unverändert am Lesetisch saß, sah von ihrem Buch auf. »Du?«, fragte sie. »Kann ich das Buch vielleicht ausleihen und bei dir weiterlesen? Es ist wirklich total spannend.«
»Ja, klar. Zeig mal, was liest du denn da?«
Hannah reichte ihr das Buch. Janne kannte es gut. Es war die Geschichte eines Mädchens, die zusammen mit einigen Delphinen ihrem autistischen Bruder half, in die Welt der Sprache zurückzufinden.
»Weißt du, ich würde dir das Buch gerne schenken.«
Hannah überlegte einen Moment, bevor sie fragte: »Weil es dir gefällt?«
»Ja, genau. Deshalb würde ich es dir gern schenken.«
Hannah legte den Kopf schief und lächelte. »Danke. Ich freue mich«, sagte sie nur, stand auf, klappte das Buch zu und verstaute es in ihrem Rucksack. Sie klaubte auch ihre immer noch feuchten Kleidungsstücke von den verschiedenen Heizkörpern und stopfte sie ebenfalls in den Rucksack, der nun aus allen Nähten zu platzen schien.
»Ist ja ein richtiger Geschenketag heute«, kommentierte sie den Anblick und verwandte dann ziemlich viel Kraft darauf, den Rucksack zuzuschnüren.
Es nieselte noch immer, und Hannah und Janne liefen schweigend zur nächstgelegenen U-Bahnstation. Sie mussten einige Minuten auf den nächsten Zug warten, und in der grellen Beleuchtung auf dem Bahnsteig schien Janne alles wie unwirklich.
Hannah trat von einem Fuß auf den anderen. Ihr schien der Bahnsteig auch nicht sonderlich zu gefallen. Als die U-Bahn nach einer Ewigkeit einfuhr, murmelte sie »na endlich«. Schweigend schaute sie aus dem Fenster, obwohl es dort nichts zu sehen gab außer den tiefschwarzen Wänden des Schachtes.
Janne betrachtete sie heimlich. Da stecke ich mal wieder mitten in einem Abenteuer, dachte sie. Wer weiß, wohin es mich führen wird. Sie lächelte und in diesem Augenblick trafen sich ihre Blicke mit Hannahs.
»Woran hast du gerade gedacht?«, wollte Hannah wissen
»Ich habe überlegt, dass ich es abenteuerlich finde, jetzt mit dir zusammen zu mir zu fahren.«
»Echt? Na ja«, fügte Hannah nach einem Zögern hinzu, »könnte man wahrscheinlich schon als Abenteuer bezeichnen. Hoffentlich eins mit Happy-End.«
»Ja, das wünsche ich mir auch«, erwiderte Janne.
Der Himmel hatte sich aufgeklart, und Janne sah vereinzelte Sterne und einen wunderschön großen, fast orangen Halbmond schräg über ihrem Kopf.
»Sieh mal«, wollte sie gerade sagen, doch da wies Hannah bereits mit dem Finger in den Himmel und Janne wusste, dass sie genau das Gleiche sah, und nickte.
»Sogar der Regen hat aufgehört«, bemerkte Hannah. »Und so ein schöner Mond. Bestimmt wird alles andere jetzt auch noch gut.«
Janne fragte nicht nach, was Hannah damit meinte.
Als das Licht in der Diele von Jannes Haus aufleuchtete, blühte Hannah auf. »Wow.« Sie blieb mitten im Flur stehen und sah sich um. Janne hatte die Tür zum Wohnzimmer offen gelassen, und mit einem »Darf ich mich hier umsehen« verschwand Hannah darin.
Janne folgte ihr. »Ja, also, das ist mein Wohnzimmer.«
Hannah nickte. »Das ist toll, so riesig irgendwie und mit so vielen Fenstern«, staunte sie.
»Ja, wenn die Sonne scheint, dann wandert sie von morgens bis abends durchs Zimmer«, lachte Janne.
»Ist das ein Kamin?«, fragte Hannah, und als Janne bestätigte, fügte sie leise hinzu: »So einen haben wir zu Hause auch.« Sie sah traurig aus.
»Magst du Kaminfeuer?«
Hannah schüttelte den Kopf. »Nein, ich mag kein Feuer«, flüsterte sie und sah zu Boden.
»Wenn du müde bist«, versuchte Janne sie abzulenken, »kann ich dir das Zimmer zeigen, das ich für Gäste eingerichtet habe. Da kannst du auch deine Sachen erst mal lassen.«
Hannah folgte ihr und strahlte wieder, als sie das Zimmer sah. »Es ist wirklich super hier. So gemütlich und bunt. Und deine Fußböden sind auch so schön. Wirklich megaklasse.«
»Hast du Lust, das ganze Haus zu sehen?«, fragte Janne, und Hannah nickte begeistert.
»Dann komm mal mit nach oben.«
Bereitwillig folgte ihr Hannah die kleine hölzerne Wendeltreppe hinauf in den ersten Stock. Janne ließ sie einen Blick in jedes Zimmer werfen.
»Das ist das Zimmer von meiner Freundin Noa«, erklärte sie, und Hannah blieb im Türrahmen stehen, ohne dass Janne etwas sagen musste. Sie schien ein gutes Gespür für Grenzen zu haben.
»Schön«, sagte sie, und dann: »Was ist denn das für ein besonderer Kerzenständer? Der kommt mir irgendwie bekannt vor.«
»Das ist eine Menora«, erklärte Janne. »Es ist tatsächlich ein besonderer Leuchter. Viele Juden stellen ihn sich in ihre Wohnung. Er ist ein wichtiges Symbol, das an den Tempel erinnert.«
»Aha«, meinte Hannah und zog die Stirn ein wenig kraus.
»Die beiden anderen Zimmer sind meine«, setzte Janne ihre Führung fort.
Begeistert stürzte sich Hannah auf einen riesigen Futon, auf dem sich Jannes 43 Kuscheltiere tummelten. »Darf ich?«, versicherte sie sich mit leuchtenden Augen, bevor sie jedes einzeln in die Hand nahm. Dann schüttelte sie den Kopf. »So ’ne Erwachsene wie du ist mir echt in meinem ganzen Leben noch nicht begegnet. Sind das alles deine?«
Janne setzte sich zu Hannah aufs Bett. »Ja, sie haben alle einen Namen und eine eigene Geschichte natürlich auch. Ich liebe Kuscheltiere«, fügte sie hinzu.
»Das ist nicht zu übersehen«, grinste Hannah und sah sich weiter im Zimmer um. »Wow. Das ist ja abgefahren.« Sie pfiff durch die Zähne, und Janne folgte ihrem Blick. Hannah hatte ihren kleinen Strand entdeckt. In einer Ecke füllte eine dicke Schicht Meeressand den Holzfußboden.
Hannah hockte sich vor die Sandecke. Ganz vorsichtig berührte sie die Muscheln, Steine und Murmeln, die Janne in wechselnden Mustern in den Sand gelegt hatte. Hannah veränderte nichts, berührte nur alles vorsichtig.
»Gefällt es dir?«, fragte Janne und Hannah nickte.
»Ja, es ist toll bei dir«, sagte sie nach einer Weile. »Hast du alles selbst gemacht hier?«
»Ja, ich habe alles selbst renoviert, aber der Vermieter hat das meiste vom Material bezahlt. Er ist echt in Ordnung.«
»Ich baue mir später selbst ein Haus. Mit ganz vielen verschiedenen Zimmern. Eins aus tausenden von Flaschen, so wie ich es in einem Architekturbuch aus Amerika gesehen habe.«
»Du interessierst dich für Architektur?« Dieses Mädchen erstaunte Janne.
»Ja, meinst du vielleicht, ich will mal Friseuse werden? Oder Arzthelferin, Krankenschwester oder Kellnerin? Nee, vielen Dank auch.« Hannah warf Janne einen wütenden Blick zu.
»Viele Mädchen kommen gar nicht auf die Idee, etwas Handwerkliches zu lernen oder etwas zu studieren, was als untypisch für Mädchen gilt«, verteidigte sich Janne.
»Ja, ja, ich weiß. Aber ich bin eben nicht so wie andere Mädchen.«
Hannahs Augen waren bei den letzten Worten sehr dunkel geworden. Ihr Gesicht wirkte schmaler, fast eckig, und Janne stutzte. War das noch das gleiche Mädchen, das sich vorhin auf die Kuscheltiere gestürzt hatte?
»Und? Was gibt es noch zu sehen in deinem tollen Haus?« Fast kampflustig sprang die Jugendliche auf die Füße, und Janne sah sie verunsichert an.
»Hannah, wir können auch einfach runtergehen, und ich mach uns was zu essen.« Janne spielte nervös mit einem Stift, der auf ihrem Schreibtisch lag.
»Nee, wieso, ist doch nett, so ’ne Hausführung. Hab nix dagegen und auch grad eh nichts Besseres zu tun.«
Die Ironie in den Worten entging Janne nicht, aber sie wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Sie beschloss, sie einfach zu überhören. »Okay, dann komm. Ist sowieso nur noch ein Zimmer«, sagte sie.
Als Janne ihr das Schlafzimmer zeigte, musste Hannah lachen. »Das ist ja wie im Frauenbuchladen hier«, stellte sie fest, und Janne wunderte sich, dass sie jetzt wieder so wirkte wie vorher. Irritiert schüttelte sie innerlich den Kopf. Was für ein seltsames Mädchen!
»Na ja, ganz so viele Bücher habe ich leider nicht, aber das schaffe ich bestimmt noch. Und meine Auswahl ist auch etwas anders. Denn ich mag einige Schriftsteller gern, die du bei uns im Laden nicht findest, weil es Männer sind.« Was war da eben so plötzlich in das Mädchen gefahren und hatte sich genauso schnell wieder in Luft aufgelöst?
»Ach ja, stimmt«, erwiderte Hannah und sah sich die Bücher in den deckenhohen Regalen an. »Puh«, war alles, was ihr dazu einfiel.
»Ich werde uns jetzt mal was kochen«, schlug Janne vor. »Du kannst gern mitkommen in die Küche.«
»Ich glaube, ich krame noch ein bisschen in meinen neuen Schätzen rum und komm dann nach.«
Nach kurzem Überlegen beschloss Janne, dass Spaghetti mit Tomaten-Käse-Sahnesoße und ein Salat genau das Richtige für den heutigen Abend wären, und machte sich an die Arbeit.
Als sie das Nudelwasser abschüttete, hörte sie Hannah in die Küche kommen. Der Tisch war bereits gedeckt und in der Mitte brannte eine Kerze.
»Schön«, sagte Hannah, und nachdem sie sich gesetzt hatte: »Danke, das alles ist echt total toll.«
Janne setzte sich zu Hannah an den runden Küchentisch. »Hier ist Selbstbedienung. Nimm dir einfach von allem, so viel du magst.«
Als Hannah sich Saft eingießen wollte, stieß sie mit der Hand ihr Glas um, und der Saft lief quer über den Tisch und tropfte auf der anderen Seite auf den Boden. Hannah schrie auf und duckte sich. Sie sah entsetzt aus und völlig verängstigt. Janne wollte sie beruhigen, doch Hannah wich vor ihrer Stimme zurück. Ihre Bewegung dabei war so heftig, dass sie beim Aufspringen fast ihren Teller vom Tisch riss. Janne sah sie erschrocken an, und Hannah wich weiter in Richtung Tür aus, die Hände wie zum Kampf geballt und schützend vor den Kopf gehoben.
»Hannah, bitte. Hab keine Angst. Das ist überhaupt nicht schlimm. Ich hole einfach einen Lappen und wische das auf. Ich würde dir niemals etwas tun. Wirklich, Hannah, es ist überhaupt nicht schlimm. Es ist doch nur Saft.«
Hannah blieb regungslos stehen. Janne konnte nicht erkennen, was in ihr vorging. Ihr Gesicht hatte sich völlig verändert. Die Augen waren zu Schlitzen verengt. Sie wirkte um einige Jahre älter, und als sie sprach, klang ihre Stimme sehr hart und sehr tief.
»Und, was haben Sie jetzt mit mir vor? Was soll das Ganze hier? Wie lange werden Sie noch nett und freundlich zu mir sein? Und was haben Sie wirklich vor?«
Bevor Janne antworten konnte, stieß das Mädchen, das da vor ihr stand und das sie kaum wiedererkannte, hervor: »Sie werden mich nicht kriegen. Niemand wird mich je wieder kriegen. Nein.«
Janne beobachtete Hannah. Was war hier los? Was war gerade geschehen? Wovor hatte Hannah eine solch wahnsinnige Angst? Was sollte sie nur tun? Janne besann sich und sagte ganz ruhig: »Hannah, die Tür nach draußen ist gleich da vorne durch die Diele links. Sie ist niemals abgeschlossen. Wenn ich abschließe, dann steckt der Schlüssel immer von innen. Du kannst einfach gehen. Ich will dir nichts tun.«
Janne konnte an Hannahs Gesicht nicht ablesen, wie ihre Worte gewirkt hatten. Wenn Hannah jetzt weglief, konnte sie sie nicht zurückhalten, und sie wusste, dass sie genau das auch nicht versuchen durfte.
Nein, Hannah hatte ihr nicht vertraut. Keinen Augenblick. Sie hatte das alles nur für einen Trick gehalten, um sie zu locken und dann zu verletzen.
Mein Gott, was haben sie ihr nur angetan, fragte sich Janne zutiefst erschrocken, während sie einander unverwandt ansahen. Janne konnte nicht sagen, wie lange. Es kam ihr vor wie viele endlos lange Minuten, in denen es zwischen ihnen so still war, dass das Knistern der Kerze fast wie ein Knall in die gespannte Lautlosigkeit fuhr. Janne wurde immer ruhiger in diesen Minuten, auch wenn sie nicht wagte, sich zu bewegen.
Plötzlich setzte sich Hannah auf den Boden und fing leise an zu schluchzen. Das Weinen schüttelte ihren ganzen Oberkörper, obwohl es kaum zu hören war.
Jannes Blick fiel auf ihren kleinen blauen Drachen auf dem Fensterbrett und sie riskierte es, sich ein wenig vorzubeugen, um ihn sich zu angeln. Es war eine Handspielpuppe aus weichem Nickistoff mit einem fröhlichen, frechen Gesicht und einem weit aufgesperrten lachenden Mund.
Mit dem Drachen im Arm ließ sich Janne vorsichtig auf den Boden gleiten. Hannah rührte sich nicht von der Stelle. Sie hatte das Gesicht in den Händen vergraben, und doch wusste Janne instinktiv, dass sie genau beobachtet wurde. Sie ließ ihre linke Hand in die Handpuppe hineinschlüpfen und bewegte den lachenden Mund auf und zu.