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Liebes Tagebuch Sonntag, 11. September 1994

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Jetzt versuche ich schon bestimmt zwei Stunden lang einzuschlafen, aber es gelingt mir einfach nicht. Und ich muss doch morgen eine Mathe-Arbeit schreiben!

Manchmal habe ich richtig Angst vor der Schule. In Mathe bin ich wirklich nicht gut. Ich verstehe ganz oft die Aufgaben nicht. Komischerweise schreibe ich dann trotzdem oft eine Eins. Die anderen in der Klasse denken, das ist ein blöder Trick von mir und dass ich in Wirklichkeit bloß nicht zugeben will, dass ich eine Streberin bin.

Vielleicht haben sie ja Recht und ich bin schon dermaßen unehrlich und verlogen, dass ich nicht mal vor mir selbst zugeben kann, dass ich sehr wohl alles in Mathe und auch in den anderen Fächern kapiere.

Die einzigen Fächer, die ich wirklich liebe und wo ich auch weiß, dass ich darin gut bin, sind Deutsch und Geschichte.

Ach, gerade fällt mir wieder ein, dass ich ja ein Tagebuch an dich, Klara, schreiben wollte.

Ach Klara, mit dem Tagebuchschreiben ist es viel, viel schwerer, als ich mir vorgestellt hatte. Ich habe vorhin gesehen, dass ich über zwei Monate gar nichts hier reingeschrieben habe, und wenn ich versuche, dir zu erzählen, was in der Zwischenzeit passiert ist, dann fällt mir überhaupt nichts mehr ein.

Na ja, ich bin auf jeden Fall versetzt worden in die neunte Klasse. Und mein Klassenlehrer meint, dass ich locker das Abitur schaffen würde. Ich glaube manchmal, er ist der Einzige, der eine hohe Meinung von mir hat.

Gestern habe ich mich ganz schrecklich mit Mama gestritten. Ich bin total ausgerastet, obwohl ich gar nicht mehr weiß, warum eigentlich.

Und ich habe sie richtig angeschrien. Am Schluss hat sie sogar geweint und gesagt, dass sie sich von mir nicht länger fertig machen lässt, dass ich sie noch ins Grab bringen würde und dass ich mal warten soll, bis Papa nach Hause kommt. Ich habe ihr gesagt, dass es mir Leid tut, und es tut mir auch wirklich Leid, aber Mama wollte davon nichts wissen. Sie meinte, mit mir würde es noch mal ein schlimmes Ende nehmen und sie hätte es langsam aufgegeben, aus mir einen anständigen und ehrlichen Menschen machen zu wollen. Sie schlug mir vor, in eine Besserungsanstalt zu gehen, ein Heim für Schwererziehbare. Sie meinte, wenn ich ihr gegenüber noch einmal ausfallend würde, dann würde sie mich schon an den richtigen Ort bringen, und dass sie das mit Papa besprechen wird, sobald er nach Hause kommt.

Als ich dann in meinem Zimmer saß, sah ich plötzlich, dass mein Kleid da unten voller Blut war, und ich bekam schreckliche Bauchkrämpfe. So schlimm, dass ich dachte, ich sterbe gleich.

Heute Nacht war wieder mal die Hölle los. Um Mitternacht kam Papa mit der schwarzen Luxuslimousine nach Hause. Da wusste ich natürlich gleich, was die Uhr geschlagen hat! Oh, Mann, wie ich die hasse. Aber irgendwas war anders als sonst, wenn mich Papa spätabends abholt und ich mit ihm dann zur Burg fahre.

Mama war so freundlich. Echt richtig unheimlich. So wie sie sonst nie zu mir ist. Vor allem nicht, wenn’s draußen dunkel ist. Sie hat mich in die Badewanne gesteckt und mich mit Duftöl gebadet. Ich dachte, jetzt ist sie völlig durchgeknallt. Also, das geht doch wohl echt zu weit. Dann hat sie mich regelrecht bestochen. Mit Cola. Ich dachte, ich glaub’s nicht. Plötzlich darf ich Cola trinken? Naja, okay, dachte ich mir, was soll’s. Sitz ich halt dumm rum in der Badewanne und trink dafür ne coole Cola. Der Deal ist schon okay, irgendwie.

Na ja, und wie ich da so sitze in der Wanne und mich langsam an den Gestank gewöhne, wird mir plötzlich total anders. Ganz dumpf im Kopf und ich kann meine Arme und Beine überhaupt nicht mehr bewegen.

Und meine Mutter sieht original aus wie ein Zombie. Und sie sagt immer: Sunny, Sunny – echt völlig bescheuert und ihre Stimme hallt so komisch in meinem Kopf.

Wisst ihr was? Die hat mir irgendwas ins Glas getan. Echt jede Wette!

Du, Klara, stell dir vor, ich weiß nicht mal mehr, was wir in den großen Ferien gemacht haben. Ich zermarter mir schon seit bestimmt einer halben Stunde das Hirn, aber es fällt mir nicht ein.

Das ist vielleicht komisch. Ich sitze seit einer halben Stunde vor dem Tagebuch und es fällt mir immer weniger ein, was ich dir schreiben könnte. Mit der Angst vor der Mathe-Arbeit, das habe ich ja schon geschrieben. Und morgen wird die Arbeit bestimmt wieder erste Klasse, obwohl ich überhaupt nicht das Gefühl habe, dass ich etwas von Algebra verstanden habe.

Ich wollte dir noch ein Geheimnis anvertrauen. Etwas, was ich mit niemandem besprechen kann. Ich glaube, weil ich mich viel zu sehr deswegen schäme.

Also gut, ich traue mich jetzt. Aber bitte versprich mir, dass du mich nicht auslachen wirst und mir auch trotzdem weiter zuhörst, auch wenn das wirklich irre klingt und ich selbst auch schon das Gefühl habe, wirklich verrückt zu sein. Okay?

Also – manchmal, wenn ich spazieren gehe und ganz alleine bin, dann höre ich plötzlich Stimmen. Obwohl da überhaupt niemand anderes ist. Die unterhalten sich richtig und lachen auch und manchmal schreien sie, und wenn ich mich umdrehe, dann ist niemand da. Aber ich, ich höre sie ganz deutlich. Irgendwo drin in mir, und manchmal reden die auch laut. Hört sich dann an wie Selbstgespräche. Ich habe Mama übrigens schon öfter heimlich dabei belauscht, wie die auch mit sich selbst gesprochen hat. Das klingt richtig gruselig. Die hat dann auch verschiedene Stimmen.

Mein Herz rast, wenn ich dir das schreibe. Ich habe das Gefühl, dass es total verboten ist, was ich schreibe.

Sollte Mama das Tagebuch jemals finden, bringt sie mich mit Sicherheit um. Glaubst du, ich habe das von Mama geerbt? Dieses zwanghafte Selbstgesprächeführen? Dabei wollte ich nie so werden wie Mama. Das ist für mich der größte Horror. Obwohl ich dir gar nicht sagen kann wieso. Oder was ich an Mama eigentlich so schrecklich finde.

Ich will nicht so leben wie sie. Das weiß ich auf jeden Fall.

Sie hat irgendwie immer eine Maske auf, wenn sie mit anderen Leuten zu tun hat. Ich habe das Gefühl, Mama ist so gut wie nie sie selbst. Sie spielt dauernd irgendwelche Rollen. Die tolle Ehefrau, die tolle Mutter, die tolle Erzieherin. Nie weiß ich, was Mama wirklich denkt. Wer sie wirklich ist.

Und ich finde es auch schrecklich, dass sie mich nie in den Arm nimmt, mich nie tröstet, mich nie fragt, wie es mir geht. Irgendwie scheint sie überhaupt nicht davon auszugehen, dass es mir überhaupt mal irgendwie geht. Sie fragt mich nicht nach der Schule, nicht nach Freundschaften, außer nach Jungs. Danach fragt sie mich dauernd. Ich muss ihr haarklein erzählen, was ich mit den Jungen in der Klasse rede und mit ihnen zusammen mache, und am Schluss glaubt sie mir sowieso kein Wort und schreit mich nur an.

Komisch, Mama denkt, ich bin eine Hure. Das hat sie selbst gesagt.

Oh Gott, Klara, warum denkt Mama so schreckliche Sachen über mich? Dabei will ich doch nur, dass Mama mich lieb hat. Was mache ich denn nur so schrecklich falsch, dass sie so von mir denkt?

Ich würde niemals mit einem Jungen ins Bett gehen oder so was. Bestimmt nicht, Klara! Ich hoffe, du glaubst mir das.

Warum nur glaubt Mama mir nicht?

Ich versuche so oft, ihr zu helfen und sie zu verstehen, aber zwischen uns liegt ein riesiger Graben, den ich nicht überwinden kann.

Ich möchte noch immer ganz oft sterben! Zur Kirche gehe ich aber jetzt nicht mehr. Ich trau mich auch nicht mehr, mit welchen in der Klasse darüber zu reden, nachdem ich Anne gefragt habe, ob sie auch so oft an den Tod denkt. Erst hat die mich angeguckt, als hätte sie einen Marsmenschen vor sich, und dann hatte sie nichts Besseres zu tun als das gleich Frau Liesban weiterzupetzen, und die hat dann mit mir ein Gespräch gemacht, weil sie doch Vertrauenslehrerin ist.

Dabei hat der Pfarrer doch gesagt, alle Jugendlichen denken in meinem Alter an Selbstmord! Ich habe Frau Liesban natürlich nix erzählt. Die denkt am Schluss doch nur, dass ich verrückt bin und in die Klapse gehöre, nur weil ich sterben will wegen Mama und weil Mama mich niemals lieben wird.

Ach Klara, was soll ich nur tun? Ich verstehe mich selbst immer weniger und es gibt keinen Menschen, mit dem ich über mich reden könnte.

Ich bin wirklich total verzweifelt und fühle mich schrecklich allein. Ich glaube, der Pfarrer hat gelogen. Der wollte wahrscheinlich einfach nichts hören von meinen Gedanken und Gefühlen. Na ja, kann man ja verstehen. Aber er hätte trotzdem nicht so tun müssen, als sei das ganz normal mit dem, was ich denke.

Warum bin ich nur so geworden, Klara? So verkorkst und so. Depressiv, meinte Frau Liesban. Ich würde depressiv auf sie wirken, und dann fragte sie, ob ich Probleme zu Hause hätte.

Na, die hat vielleicht Nerven! Probleme zu Hause. Mit ihrem Chef womöglich. Das vergessen die Pauker hier immer so gerne. Dass good old Daddy schließlich der Schuldirektor ist. Ich kann das jedenfalls nicht vergessen. Tut mir Leid. Auch wenn ich Paps an sich ganz in Ordnung finde, so weiß ich doch andererseits schon längst, dass er zu Mädchen alles andere als nett ist. Aber das würde mir an dieser Schule sowieso niemand glauben. Also wieso fragt die blöde Lehrerin uns überhaupt, wenn sie die Antwort doch sowieso nicht hören will?

Und wie ich mit ihr über meine nächtlichen Abenteuer reden soll – das ist mir das absolute Rätsel überhaupt!

Siehst du, Klara, jetzt hab ich schon wieder die ersten Flecken in meinem neuen Tagebuch. Ich bin doch wirklich ein hoffnungsloser Fall. Bitte, verzeih mir! Ich habe gerade auf die Uhr geguckt. Ich muss unbedingt schlafen. Aber ich verspreche dir, dass ich jetzt öfter in das Buch hier schreibe, weil das toll ist und ich mich jedes Mal nach dem Schreiben richtig gut fühle. Es war übrigens eine gute Idee von dir mit dem Schulbuch. Ich glaube, es ist die perfekte Tarnung.

Komisch, wer kommt denn da die Treppe rauf mitten in der Nacht? Oh Gott, Mama …

Hannah und die Anderen

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