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Tötet sie alle, Gott wird die Seinen erkennen
ОглавлениеIm Frühjahr des Jahres 88 v. Chr. fassten geschworene Feinde des Römischen Reiches in Dutzenden von Städten in Anatolien einen geheimen Plan. Sie schworen, an einem bestimmten Tag des folgenden Monats alle römischen Männer, Frauen und Kinder auf ihrem Territorium zu töten.1
Die Verschwörung wurde von König Mithridates dem Großen angeführt, der zu zahlreichen lokalen Führern in der neuen römischen Provinz Asia heimlichen Kontakt hielt. Der Begriff »Asien« bezog sich damals auf ein Gebiet, das von der östlichen Ägäis bis Indien reichte; die römische Provinz Asia erstreckte sich aber nur auf die westliche Türkei. Wie es Mithridates gelang, die Verschwörung geheim zu halten, ist eines der großen Rätsel des antiken Spionagewesens. Die Verschwörer vereinbarten, alle Römer und Italiker zu töten, die in ihren Städten lebten, auch Frauen, Kinder und Sklaven italischer Abstammung. Sie beschlossen, sich den Besitz der Ermordeten anzueignen und deren Leichen den Hunden und Krähen zum Fraß vorzuwerfen. Wer versuchte, die Römer zu warnen oder die Ermordeten zu begraben, sollte schwer bestraft werden. Sklaven, die nicht Latein sprachen, sollten verschont oder, wenn sie sich an der Tötung ihrer Herren beteiligten, sogar belohnt werden. Wer einen römischen Geldverleiher ermordete, dem sollten die Schulden erlassen werden. Wer Informationen lieferte oder Römer tötete, die sich versteckt hatten, sollte ebenfalls eine Belohnung erhalten.2
Der mörderische Plan funktionierte perfekt. Verschiedenen Geschichtsschreibern des Altertums zufolge wurden am vereinbarten Tag mindestens 80 000, vielleicht sogar 150 000 römische und italische Bewohner Anatoliens und der Ägäischen Inseln getötet. Die Zahlen sind schockierend und möglicherweise übertrieben, aber nicht unrealistisch. Genaue Bevölkerungszahlen für das erste Jahrhundert v. Chr. sind nicht bekannt. Aber römische Kaufleute und Neubürger waren scharenweise in die frisch eroberten Gebiete aufgebrochen, als das Römische Reich in der späten Republik sein Herrschaftsgebiet erweitert hatte.
Einzelheiten des blutigen Massakers wurden später von dem griechischen Geschichtsschreiber Appian in seiner Römischen Geschichte aufgezeichnet. Seine Zahlen beruhen zum Teil auf den Erinnerungen von Cornelius Sulla, dem römischen Feldherrn, der vom Senat ausgeschickt wurde, um die Morde zu rächen. Viele Details kann man auch den Berichten von Augenzeugen und Überlebenden wie P. Rutilius Rufus entnehmen, einem römischen Beamten, der dem Anschlag entkam und eine Geschichte über den Massenmord und die Zeit danach schrieb. Weitere Informationen stammen von feindlichen Kämpfern, die Sulla in dem Krieg, der auf das Massaker folgte, gefangen nahm, und aus feindlichen Kommuniqués, die er erbeutete. Zahlen aus dem Altertum sind oft grobe Schätzungen oder Übertreibungen. Manche Historiker halten selbst die niedrigere Angabe von 80 000 Toten noch für übertrieben. Aber selbst wenn diese Zahl noch einmal halbiert wird, handelt es sich immer noch um ein bestürzendes Gemetzel an nichtsahnenden, unschuldigen Opfern. Das Ausmaß als solches ist nicht umstritten. Die moderne Geschichtswissenschaft stimmt mit den antiken Quellen darin überein, dass praktisch alle römischen und italischen Bewohner der Provinz Asia umgebracht wurden.3
Der Plan war sorgfältig synchronisiert und wurde mit großer Härte und Grausamkeit durchgeführt. In der Morgendämmerung des schicksalhaften Tages stürzten wütende Menschenmengen die römischen Statuen und Inschriften um, die auf den Plätzen ihrer Städte aufgestellt waren. Über das, was danach geschah, sind aus fünf der zahlreichen Städte, in denen Römer abgeschlachtet wurden, eindringliche Schilderungen erhalten.
Pergamon, eine wohlhabende Stadt im Westen Anatoliens, war der Sage nach von einem Sohn des Herakles gegründet worden. Wie viele hellenistische Städte war auch Pergamon von Griechen besiedelt, die sich mit der einheimischen Bevölkerung vermischt hatten, und hatte nach dem Tod Alexanders des Großen (323 v. Chr.) eine Mischform von Demokratie und persisch beeinflusster Monarchie entwickelt. Als kulturelles Zentrum Kleinasiens verfügte die Stadt über eine riesige Bibliothek mit 200 000 Schriftrollen, ein imposantes Theater mit 10 000 Sitzplätzen und den monumentalen Großen Altar, der mit Skulpturen dekoriert war, die den Sieg der olympischen Götter über die Titanen zeigten. Aus dem gesamten Mittelmeerraum kamen Menschen nach Pergamon, um im berühmten Tempel des Gottes der Heilkunst, Asklepios, Heilung zu suchen. Die Römer hatten Pergamon zur Hauptstadt ihrer neuen Provinz bestimmt. Aber 88 v. Chr. war der größte Teil Kleinasiens mit König Mithridates verbündet, und dieser hatte im Königspalast von Pergamon sein Hauptquartier aufgeschlagen.4
Als das Morden in der Stadt begann, flohen Tausende römischer Familien in Todesangst durch das Stadttor zum Asklepiostempel. Nach altem griechischem Brauch waren alle Tempel heilige, unverletzliche Orte, die unter dem Schutz der Götter standen und vor Krieg und Gewalt Zuflucht boten. Nach dem Asylrecht (asylia) konnte jeder, gleichgültig ob Bürger, Fremder oder Sklave, ob schuldig oder unschuldig, in einem Tempel Zuflucht finden. Die Verfolger scheuten in aller Regel vor dem Sakrileg zurück, einen Menschen im Angesicht der Götter zu töten. An diesem Tag jedoch gab es keine Gnade für die Menschen, die sich um die Statuen des Gottes der Heilkunst drängten. Die Pergamener brachen in das Heiligtum ein und erschossen die in der Falle sitzenden Männer, Frauen und Kinder aus nächster Nähe kaltblütig mit Pfeil und Bogen.
Unterdessen trieben die Einwohner des Schiffbauhafens Adramyttion die römischen Siedler bei Einbruch der Nacht zum Meer hinunter. Die verzweifelte Menge stürzte sich in das dunkle Wasser. Die Mörder wateten ihnen nach, mähten die Männer und Frauen nieder und ertränkten die Kinder in den Fluten.
In Ephesos, einer Weltstadt mit fast einer Viertelmillion Einwohnern, wurde der Tempel der Artemis durch ähnliche Gräuel entweiht. Die Epheser waren sehr stolz auf ihren Tempel, eines der sieben Weltwunder der Alten Welt. Die Amazonen hatten an diesem Ort die Göttin verehrt, der sagenhaft reiche König Kroisos hatte den ursprünglichen Tempel erbaut, und der Sage nach hatte die Göttin höchstpersönlich mit Wunderkräften den kolossalen Türsturz über den Eingang gehievt. Das Heiligtum war voller Schätze von unschätzbarem Wert, die Bittsteller der Artemis geweiht hatten. Die Göttin, die bei den Römern Diana und im Osten Kybele oder Anahita hieß, wurde sowohl von den Griechen als auch von den Barbaren verehrt. Als der Apostel Paulus ein Jahrhundert nach dem Massaker in Ephesos predigte, räumte er ein, dass Artemis immer noch »von der ganzen Provinz Asien ... verehrt« werde.5
Der Artemistempel galt als die älteste Asylstätte überhaupt. Die Epheser erzählten gern, wie Alexander der Große ihren Tempel besucht und in einer großzügigen Geste den Schutzkreis erweitert hatte. Zwei Jahrhunderte später war König Mithridates selbst auf das Dach des Tempels gestiegen und hatte verkündet, dass die neue Grenze des Asylbereichs von nun an so weit reiche, wie er einen Pfeil schießen könne (sein Pfeil flog etwa 200 Meter weit).
Jeder in der griechischen Welt wusste, dass der Mord an heiliger Stätte ein Tabu war. Tatsächlich verschonte mindestens eine mit Mithridates verbündete Gemeinde, nämlich die der Insel Kos, die römischen Familien, die sich am Tag des Massakers schutzsuchend im Tempel drängten. Als die Bewohner von Ephesos begannen, die römischen Statuen zu zerschlagen, flohen die Römer natürlich in den großen Tempel der Artemis. Doch die Epheser verletzten die heilige Tradition des Asyls. Sie strömten durch die aus Zypressenholz geschnitzten Tore und hieben die Römer in Stücke, obwohl sie sich an die Standbilder der Göttin klammerten und um ihr Leben flehten.6
Das Artemision von Ephesos. Zeichnung von André Castaigne, 1897. In diesem Artemis-Heiligtum wurden auf Mithridates’ Befehl im Jahr 88 v. Chr. zahllose Römer getötet.
Weiter im Süden, in der Hafenstadt Kaunos, setzte sich das Blutbad fort. Die Stadt war für ihre köstlichen Feigen berühmt, berüchtigt hingegen für ihre ungesunden Sümpfe. Zur Zeit des Massakers waren ihre wichtigsten Exportgüter Salz und Sklaven für die Römer. Über die grünliche Hautfarbe der malariageplagten Einwohner von Kaunos waren in anderen Städten zahlreiche Witze in Umlauf, und ihre sommerlichen Fieberanfälle wurden von den Spöttern auf den übermäßigen Verzehr der berühmten Feigen zurückgeführt. Der schlechte Ruf der Stadt blieb bis in die byzantinische Ära erhalten. »Diese elenden Kaunier!«, tobte ein frühchristlicher Redner. »Wann haben sie je einen wertvollen Bürger hervorgebracht? All ihr Unglück ist auf ihre extreme Narrheit und Bosheit zurückzuführen.«
Im Jahr 167 v. Chr. hatten die Römer Kaunos von der Herrschaft der mächtigen Insel Rhodos »befreit«. Doch im Jahr 88 waren gerade die Bürger von Kaunos besonders grausam. Am Tag des Massakers drängten sich die bedrohten Italiker um die Statue der Vesta, jener Göttin, die nach dem Glauben der Römer die Familie schützte und das Überleben Roms sicherte. Die Kaunier jedoch ergriffen als Erstes die Kinder und töteten sie vor den Augen ihrer Eltern. Dann schlachteten sie die schreienden Frauen ab, und zum Schluss mähten sie die Männer nieder und häuften ihre Leichen auf die anderen Familienmitglieder.
Tralleis, eine reiche Handelsstadt, die für ihre farbenprächtigen Blumenfelder mit Löwenmaul und Heliotrop bekannt war, hatte Rom lange Widerstand geleistet, und als Vergeltungsmaßnahme hatte der römische Senat der Stadt das Münzrecht entzogen. Ihre Bewohner wollten keine Blutschuld auf sich laden, als sie die geheime Botschaft des Mithridates erhielten, und so beschlossen sie auf der Volksversammlung, einen Fremden mit dem Töten zu beauftragen: den Banditen Theophilos aus Paphlagonien, einer Region, die für ihre guten Pferde bekannt war, aber auch als die Heimat störrischer, abergläubischer Bauerntölpel galt. Am vereinbarten Tag ritt Theophilos in Tralleis ein, seine Leute trugen Helme aus Weidengeflecht, hohe Lederstiefel und waren mit Krummsäbeln bewaffnet. Sie trieben die Römer im Tempel der Concordia zusammen, den diese selbst erbaut und der Eintracht geweiht hatten. Den Überlebenden mag sich das Bild ins Gedächtnis gebrannt haben, wie die Banditen ihren Opfern die Hände abhackten und diese, in die Statuen verkrallt, hängen blieben.7
Ähnliche Szenen spielten sich noch in vielen anderen Städten ab, die mit Mithridates verbündet waren. Wir wissen zum Beispiel, dass auch die Römer auf der Insel Chios getötet wurden, denn Mithridates beschuldigte später deren Bewohner, das beschlagnahmte Vermögen der Ermordeten nicht mit ihm geteilt zu haben. In Nysa, östlich von Tralleis gelegen, lassen antike Inschriften darauf schließen, dass die italischen Bewohner der Stadt im Tempel des Zeus ermordet wurden.8
»So war das schreckliche Schicksal, das die Römer und Italiker in Asia erlitten, Männer, Frauen und Kinder mitsamt ihren Freigelassenen und Sklaven italischen Ursprungs«, schrieb der Historiker Appian. 500 Jahre später war das Gemetzel immer noch ein Sinnbild des Grauens. In den letzten Jahren des Römischen Reichs, als die Vandalen und Goten über Nordafrika hinwegfegten, berichtete der heilige Augustinus (geb. 354 n. Chr. im heutigen Algerien) von den schrecklichen Katastrophen, die die Römer erlitten hatten, als sie noch Heiden gewesen waren. Er erinnerte »an den schrecklichen Tag«, als »Mithridates, König von Asien, die allenthalben in Asien sich aufhaltenden und in unzählbarer Menge ihren Geschäften nachgehenden römischen Bürger an einem einzigen Tage zu ermorden befahl... Welch klägliches Schauspiel, als plötzlich jeder, wo man ihn nur gerade antraf: auf dem Felde, auf dem Wege, im Ort, im Haus, auf der Straße, auf dem Marktplatz, im Tempel, im Bett, beim Gastmahl, unerwartet und erbarmungslos niedergemacht wurde! Das Gestöhne der Sterbenden begleiteten die Tränen der Zuschauer, vielleicht selbst der Mörder. Welch harte Aufgabe für die Gastfreunde, dieses ruchlose Gemetzel in ihrem Hause nicht bloß mitansehen, sondern sogar verüben zu müssen... wobei es gewiss, ich möchte sagen, Wunden absetzte hüben und drüben, da der Ermordete am Leibe und der Mörder in der Seele getroffen wurde!«9
Wer waren die Mörder? Historiker haben lange angenommen, dass der gemeine »Pöbel« das Massaker angerichtet habe. Nach genauer Lektüre der Quellen kommen die Fachhistoriker jedoch heute zu dem Schluss, dass sich Menschen aus allen Klassen, ethnischen Gruppen und Lebensbereichen an der breiten Verschwörung zur Vernichtung der Römer beteiligten. Die Mörder waren alteingesessene Bewohner Anatoliens sowie Griechen und Juden, denen die harte Herrschaft Roms mit seinem korrupten Steuersystem, das viele Einzelpersonen und sogar ganze Städte in tiefste Verschuldung trieb, verhasst war. Im Jahr 88 v. Chr. zog der Widerstand des Mithridates gegen Rom Reiche und Arme gleichermaßen an. Selbst wenn weniger Menschen zu Tode kamen als die 80 000 bis 150 000, von denen in den antiken Quellen die Rede ist, war das Massaker eine deutliche Botschaft. Wie Appian in seiner Geschichte der Mithridatischen Kriege schrieb, wurde durch die Gräueltaten mehr denn je deutlich, wie verhasst die Römische Republik ihrer habgierigen Politik wegen war. Römische Zeitgenossen räumten die Gründe des Angriffs ein. »In Asia«, warnte Cicero, »wird der Name Rom verachtet und die römischen Tribute, Abgaben und Steuern sind Instrumente des Todes.«10
Die italischen Siedler mit ihren Bediensteten und Sklaven »verwoben sich mit dem Gewebe dieser anatolischen Städte und errangen wirtschaftliche Macht und politisches Gewicht«. Bis 88 v. Chr. lebten zahlreiche römische Kaufleute, Geldverleiher, Steuereintreiber, Sklavenhändler, Unternehmer, Ladenbesitzer und viele andere inmitten der griechisch-asiatischen Bevölkerung. Viele dieser Siedler hatten ihr Land Einheimischen abgekauft, die durch die römischen Steuern in den Bankrott getrieben worden waren. Sie sprachen untereinander Latein oder italische Dialekte, aber Griechisch, wenn sie auf dem Markt waren. Sie wetteten bei Hahnenkämpfen, beteten in Tempeln und lachten und weinten im Theater. Aber sie vermischten sich nicht mit den Einheimischen. Ihre Kleidung und ihre Sitten waren anders. Jeder wusste, wer die Römer waren, oder wie die Historikerin Susan Alcock es formuliert: »Sie wussten, wo sie lebten. Und sie zeigten klar und deutlich, dass sie sie zutiefst verabscheuten.«11
Die Sklaverei war Salz in der Wunde. Zwar hielten auch viele Griechen Sklaven, aber die römische Nachfrage nach Sklaven vertrug sich schlecht mit der Mischung aus demokratischen Traditionen und einheimischen Monarchien in Anatolien. Die Sklaverei war gemäß dem alten persischen Gesetz und der alten persischen Religion verboten.12 Die Römer aber versklavten bevorzugt Nicht-Italiker, besonders gerne Menschen aus dem Osten. Es kam ein scheinbar endloser Nachschub an Kriegsgefangenen von den Grenzen des expandierenden Imperiums, und Piraten machten das Schwarze Meer und die östliche Ägäis unsicher auf der Suche nach menschlicher Beute, die sie an die Herren der Mittelmeerwelt verkaufen konnten. Angeblich wurden auf dem großen römischen Sklavenmarkt auf der einst heiligen Insel Delos an einem einzigen Tag oft bis zu 10 000 Gefangene aus dem Schwarzmeerraum und dem Nahen Osten verkauft. Auch war die massiv überhöhte Steuerlast selbst für die Reichen eine Form der Knechtschaft und zwang manche Familien, ihre Kinder in die Sklaverei zu verkaufen. Ein typischer Vertreter der römischen Oberschicht besaß mehrere Hundert Sklaven, ein römischer Handwerker zwei oder drei. Neuesten Schätzungen zufolge gab es damals im ersten Jahrhundert v. Chr. in Italien etwa 1,5 Millionen Sklaven. Ihr Anteil in der römischen Provinz Asia war sogar noch höher. In Pergamon zum Beispiel machten sie etwa ein Drittel der Bevölkerung aus.13
Die meisten Geknechteten hatten eine nichtitalische Muttersprache, aber sie waren nicht nur an der Sprache leicht zu erkennen. Viele trugen einfache Tätowierungen lateinischer Worte auf der Stirn, die sie als römischen Besitz auswiesen. Sklaven (und Salz) waren Güter, die der römischen Steuerpflicht unterlagen. Laut einem Rechtstext aus jener Zeit, einer in Ephesos gefundenen Inschrift, mussten importierte Sklaven mit den Worten »Steuer bezahlt« tätowiert werden. Später im Kaiserreich war »Nehmt mich fest, ich bin entlaufen« ein beliebter Spruch, den die römischen Herren ihren Sklaven in die Stirn stachen.14
Einige Jahre vor dem Massaker hatten die Römer die Epheser bestraft, weil sie einen entlaufenen Sklaven beschützt hatten, der sich in den Tempel der Artemis geflüchtet hatte. Die Epheser (die sich selbst für die Nachkommen entlaufener griechischer Sklaven hielten)15 hatten damals einem römischen Beamten den Zugang zum Tempel verwehrt, als er sich sein Eigentum wieder holen wollte – vielleicht einen Einheimischen, der wegen Überschuldung versklavt worden war. In den Inschriften über die Heilungen, die die Menschen im Tempel des Asklepios suchten, fanden Archäologen auch die Namen von Sklaven, die den Gott anflehten, sie von der Tätowierung auf ihrer Stirn zu befreien. Entlaufene Sklaven trugen oft piratenartige Kopftücher, um die Zeichen für ihren Status zu verbergen, andere versuchten, die Tätowierung mit ätzenden Salben zu entfernen. Nach dem Massaker schlossen sich etwa 6000 befreite Sklaven dem Mithridates an – hochmotivierte Kämpfer mit einem gewaltigen Hass auf die Römer.16
Als sich die Nachricht von dem Massaker des Jahres 88 verbreitete, desertierten im Osten massenweise Söldner, die von römischen Offizieren kommandiert wurden. Die römische Schwarzmeerflotte, die mit griechischen Seeleuten bemannt war, lief zu Mithridates über und führte ihm Hunderte von Kriegsschiffen zu. Außerdem war das Bündnis zwischen Mithridates und den Städten, deren Einwohner sich geschlossen an dem Gemetzel beteiligt hatten, nun mit Blut besiegelt. Mithridates hatte mit seiner meisterhaften Strategie bewerkstelligt, was Experten für internationale Beziehungen als »glaubwürdiges Engagement« bezeichnen. Im diplomatischen Kräftemessen und im Krieg kann man seine strategische Position verbessern, indem man sich ganz bewusst Rückzugsmöglichkeiten verbaut und seine Drohungen dadurch glaubwürdiger macht. Die ganze römische Provinz Asia war nun auf einen Krieg mit den Römern verpflichtet.
In der Heimat der Opfer reagierte man geschockt und empört zugleich. Mithridates’ Timing war perfekt gewesen. In Italien tobte gerade ein grausamer Bürgerkrieg; die römischen Verluste in Asia lösten in Rom eine massive Finanzkrise aus, und eine ganze Serie schrecklicher Vorzeichen hatte die Römer in Angst und Schrecken versetzt: Eine himmlische Trompete blies aus heiterem Himmel einen langen klagenden Ton. Etruskische Wahrsager erklärten, der Ton kündige das Ende eines Zeitalters und den Beginn einer neuen Weltordnung an. Der Halleysche Komet (wie er heute genannt wird) erschien den Römern als ein weiteres schreckliches Vorzeichen. Der Senat erklärte Mithridates zum größten Feind Roms und erteilte dem erbarmungslosen Feldherrn Lucius Cornelius Sulla den Auftrag, den Feind aufzuspüren und zu vernichten.17
Das Massaker von 88 v. Chr. war selbst für das blutgetränkte Zeitalter der späten Römischen Republik einzigartig. Es fand weder in Städten statt, die sich im Krieg befanden, noch wurde es nach einer Schlacht von Soldaten im Blutrausch verübt. Niemals sonst im Altertum wurde die Tötung so vieler genau ausgewählter Zivilisten durch ganz normale Leute so sorgfältig im Voraus geplant. Kein antiker Terrorangriff fand zugleich in so vielen Städten statt.18 Der von der Kriegerkönigin Boudicca geführte Eingeborenenaufstand im römischen Britannien wird manchmal mit dem Massaker von 88 verglichen. Ihr Aufstand im Jahr 59 n. Chr. kulminierte mit der Tötung von etwa 70 000 Römern und romfreundlichen Briten, aber diese Morde wurden spontan und nicht geplant und systematisch verübt.19
Völkermord ist ein belasteter Begriff, aber es ist wohl berechtigt, das Blutbad von 88 v. Chr. als solchen zu bezeichnen. Der Begriff wurde 1948 von den Vereinten Nationen definiert und meint die Tötung oder Verstümmelung einer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe in der Absicht, sie ganz oder teilweise zu vernichten.20 Mithridates’ Versuch, die in Anatolien lebenden Römer auszurotten, hob explizit auf deren Sprache und ethnische Herkunft ab. Sein Ziel war es, die gesamte italische Bevölkerung in Kleinasien zu töten.
War das Massaker ein terroristischer Akt, wie wir ihn heute verstehen? Terrorismus ist ein höchst umstrittener Begriff, aber die meisten würden zustimmen, wenn man ihn als eine verwerfliche Methode begreift, die in der Regel durch Gewalt gegen Unschuldige gekennzeichnet ist und im Dienst eines politischen Zieles Angst auslösen soll. Im Jahr 88 v. Chr. wurden nichtsahnende römische Nichtkombattanten systematisch getötet, und zwar mit der politischen Absicht, Rom zu einer Änderung seiner Außenpolitik und zum Rückzug aus Asia zu bewegen. Natürlich begingen auch die Römer im eigenen Land und im Ausland Akte des Terrorismus. Oder wie es der Historiker Gregory Bolich kürzlich in einem Artikel über Terrorismus im Altertum formulierte: »Wann immer die Römer Staatsterrorismus übten, reagierten die unterworfenen Völker ebenfalls mit Terrorismus.« Wer zum Mittel des Terrorismus greift, sei immer der Ansicht, dass dies durch seine Ideale und Ziele gerechtfertigt sei, schreibt Bolich. Es seien die Opfer, die letztlich bestimmten, was als Terrorismus gelte.21
Es sei schwierig, Konzepte aus dem modernen Völkerrecht auf die Vergangenheit anzuwenden, ohne anachronistisch zu werden, warnt R. Bruce Hitchner, Experte für römische Geschichte und Direktor des Dayton Peace Accords Project. Er weist darauf hin, dass die Römer und andere Völker im Altertum sowohl im Krieg als auch im Frieden regelmäßig Handlungen verübt hätten, die heute unter die Kategorien Völkermord, Terrorismus und Verbrechen gegen die Menschlichkeit fielen. Die Gesellschaften des Altertums seien von Grund auf gewalttätig gewesen, und im ersten Jahrhundert v. Chr. habe es massenweise private, kollektive und staatliche Terrorakte gegeben. »Es ist höchste Zeit, dass wir diese dunkle Seite des Altertums zur Kenntnis nehmen«, schreibt Hitchner und kommt zu dem Schluss: »Das Massaker von 88 v. Chr. sieht eindeutig wie Terrorismus, Völkermord und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus.«22
Was Ausmaß und Vorsatz betrifft, war der schwarze Tag im Jahr 88 v. Chr. der schrecklichste und erfolgreichste Akt des Terrorismus in der Geschichte des Altertums. Trotzdem tendieren die meisten heutigen Experten für römische Geschichte dazu, »die beunruhigende Episode« zu verharmlosen. Diese Tendenz stellt laut Susan Alcock eine Art »Amnesie der Wissenschaft« dar, einen Versuch, die Gewalt zu ignorieren, von der die römische Annexion des Ostens geprägt war, und sich stattdessen auf die friedliche »Hochkultur« und den Konsens zu konzentrieren, die sich später im Kaiserreich entwickelten. Anstatt jedoch aus Bequemlichkeit das Massaker von 88 v. Chr. einfach zu vergessen, sollten die Historiker laut Alcock die komplexe »Hintergrundgeschichte« untersuchen, um die kulturellen Zusammenstöße zu verstehen, die zur Entstehung der Welt des Mithridates mit beitrugen.23
Es sei enttäuschend, dass Historiker »diesem außerordentlichen Ereignis im Altertum« nicht die Debatte widmeten, die es verdiene, meint auch der junge türkische Historiker Deniz Burcu Erciyas. »Bis heute«, so Erciyas, »wurde dieses Ausmaß an Völkermord nur von sehr wenigen Ereignissen übertroffen«. Auf jeden Fall sei es in unserer eigenen Ära, in der Massenmorde und Terrorismus leider ein vertrautes Phänomen geworden seien, wahrscheinlich nützlich, sich mit einem im Alten Orient verübten Angriff von diesem Ausmaß und dieser Grausamkeit auseinanderzusetzen, also mit einem historischen Moment, in dem sich eine leidende, aus vielen Gruppen bestehende Bevölkerung zusammengeschlossen und einen schweren Schlag gegen die herrschende imperiale Macht geführt habe.24
Nach dem Massaker marschierten Mithridates’ Heere nach Griechenland und befreiten das griechische Festland von der römischen Herrschaft. Dabei wurde der brillante Stratege als der Befreier begrüßt, dessen Auftauchen in alten Orakelsprüchen geweissagt worden war. Er wurde zum mächtigsten Herrscher im westlichen Asien, annektierte weitere Gebiete und gewann begeisterte Anhänger von der Schwarzmeerregion bis zum Gebiet des heutigen Irak. So kam es, dass die Römer, ohnehin schon geschwächt durch einen blutigen Bürgerkrieg und Sklavenaufstände in Italien, in einen langen Krieg im Osten verwickelt wurden, der zahllose Menschenleben forderte, die Schatzkammern leerte und am Mythos der römischen Unbesiegbarkeit nagte.
Die besten Feldherrn Roms von Sulla über Lucullus bis zu Pompeius dem Großen sollten noch versuchen, Mithridates zu töten oder zu fangen. Doch er konnte sich ihrem Zugriff immer wieder entziehen und plante mit seinen scheinbar unerschöpflichen Heeren neue Angriffe. Er war die schwerste Bedrohung Roms seit Hannibal und errang glänzende Siege in einigen der spektakulärsten Schlachten des Altertums.25 Er erlitt jedoch auch vernichtende Niederlagen, nach denen sein Heer nur noch aus einem kleinen Häuflein Überlebender bestand. Die unglaubliche Fähigkeit des charismatischen Herrschers, nach jedem Rückschlag gestärkt wiederzukehren, zermürbte die Römer. Seine Methoden waren oft hinterhältig, diabolisch und zerstörerisch. Doch er folgte auch edlen Idealen. So befreite er Tausende von Sklaven, begnadigte Kriegsgefangene, verlieh breiten Bevölkerungsschichten demokratische Wahlrechte und teilte seinen königlichen Staatsschatz mit seinen Anhängern. Widersprüche wie diese trugen zu seiner legendären Aura bei.
Mithridates’ zwiespältiges Image – als tragischer Held, der den römischen Moloch bekämpfte, und als Ikone der Grausamkeit – blieb in Europa und im Orient bis in die Moderne hinein lebendig. Obwohl sein griechisch-persisches Erbe östliche und westliche Traditionen verband, schien er wegen seines lebenslangen Kampfs gegen die Römer für viele den Gegensatz zwischen Ost und West zu verkörpern. Die Römer empfanden ihn wegen seiner griechischen Prägung zwar als kulturell hochstehend, konnten ihn aber wegen des persischanatolischen Einflusses auch als minderwertigen Barbaren sehen. Cicero, ein Zeitgenosse der Mithridatischen Kriege, ist ein gutes Beispiel für diese Ambivalenz der Römer gegenüber dem Mann, der »das elende und unmenschliche Massaker aller römischen Bürger in so vielen Städten in ein und demselben Augenblick« anrichtete mit der Absicht, »jede Erinnerung an den Namen Roms und jede Spur seines Reiches« zu tilgen. Die Bevölkerung im Osten habe diesen Mithridates einen Gott genannt, fuhr Cicero fort. Sie habe ihn als ihren Guten Vater und den Retter Asias bezeichnet und ihn als Befreier gefeiert. Doch nach seinem Tod bezeichnete Cicero selbst den König als den »größten Monarchen seit Alexander« und als den furchtbarsten Gegner, den Rom je gehabt habe. Noch Generationen nach seinem Tod sprach man nur mit einem »Gemisch aus Furcht und Bewunderung« von Mithridates, wie der römische Autor Velleius Paterculus um das Jahr 30 n. Chr. bemerkte. Mithridates, erklärte er, sei außerordentlich tapfer und ein großer Geist, aber in seinem Hass auf Rom ein zweiter Hannibal gewesen.26
Auch heute noch ist er eine zwiespältige Figur: Held und Vorbild für die einen, monströser Urheber von Verbrechen gegen die Menschlichkeit für andere. Wie konnte diese eine Person einen so massiven Widerstand gegen das mächtige römische Reich mobilisieren? Wer war dieser Mann? Und warum hegte er einen so mörderischen Hass gegen Rom?