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Die verlorenen Jungen
ОглавлениеDa Mithridates fürchtete, seine Gegner könnten das, »was sie mit Gift nicht fertig gebracht hatten, mit dem Stahl vollenden«, musste er sich schützen.1 Es gab nur zwei Möglichkeiten: Der junge Mithridates konnte entweder in Sinope bleiben, das von seiner verräterischen Mutter beherrscht wurde, und darauf hoffen, so lange am Leben zu bleiben, bis er ihr die Macht entreißen konnte. Oder er konnte selbst die Initiative ergreifen und damit der Lehre des Diogenes, des großen Philosophen aus Sinope, entsprechen. Wenn man bedenkt, welches Schicksal Mithridates von Orakeln und Kometen prophezeit worden war, stand im Grunde von vornherein fest, dass er sich für die zweite Option entscheiden würde.
Bei der Ausarbeitung eines Plans konnte sich Mithridates die Erfahrungen Kyros’ von Persien, Alexanders des Großen und des Gründers des Pontischen Königreichs, Mithridates’ I., zunutze machen. Sie hatten alle drei eine Zeitlang Haus und Familie verlassen, bevor sie die Macht übernahmen. Im Exil hatten die Führer Erfahrungen gesammelt, treue Anhänger, politische Macht und breite Unterstützung gewonnen. Auch der Rebellenführer Aristonikos hatte im anatolischen Kernland Zuflucht und Unterstützung gefunden.
Wenn Mithridates die persischen Erzählungen von seinen Vorfahren hörte und Xenophons Schriften las, konnte er sich wohl mit Kyros dem Großen identifizieren, dessen Gegner versucht hatten, ihn als Kind zu töten. Im Alter von 13 Jahren verließ Kyros den Königspalast in Susa und lebte in Medien; später kehrte er zurück und wurde der Herrscher über ganz Persien. In hochdramatischen Schilderungen der Großwildjagden und anderer Abenteuer des Kyros erzählt Xenophon, wie der künftige König Persiens und seine Gefährten dank wagemutiger Taten im iranischen Hochland Selbstvertrauen und Entschlossenheit entwickelten. In Xenophons Abhandlung über die Jagd (Kynegetikos), die für junge griechische Adlige verfasst war, konnte ein Junge aufregende Anekdoten und praktische Ratschläge finden. Bei einer gemeinsamen Jagd lernten heranwachsende Adlige tugendhaftes Verhalten, Führungsqualitäten und militärisches Können. Xenophon beschrieb nicht nur die geeignete Kleidung, Ausrüstung und Jagdmethoden bis ins kleinste Detail, sondern der griechische Feldherr erklärte darüber hinaus, dass ein großes Geschick in der Jagd naturgemäß auch große Krieger und Feldherren hervorbringe.
Alexander, Mithridates’ großes Vorbild, hatte die Jagd mit seinen Freunden geliebt. Sie fanden Entspannung auf der Jagd nach Kaninchen und Wieseln und standen im Kampf gegen Löwen und Bären ihren Mann. Der eigensinnige, unbesonnene Teenager Alexander war berühmt dafür, dass er in der Jagd wie im Krieg die Gefahr liebte. Mithridates beneidete Alexander mit Sicherheit um die Möglichkeit, schon im Alter von 16 Jahren während der Abwesenheit seines Vaters als Befehlshaber in die Schlacht zu ziehen. Später rief Alexander seine Gefährten zusammen und ritt in die Wildnis Illyriens, ganz im Westen des makedonischen Reiches. Alexander und seine Freunde lebten dort völlig selbstständig von der Jagd. Als Alexanders Vater dann ermordet wurde, musste er rasch handeln, um das Vertrauen der makedonischen Armee zu gewinnen. Die Idee eines vergleichbaren Abenteuers, eines, das Jagd mit Staatskunst kombinierte, nahm allmählich in Mithridates’ Kopf Gestalt an.2
Laut Justin dachte sich Mithridates einen kühnen Plan aus, der großen Einfallsreichtum und Ausdauer erforderte. Justins Schilderung ist knapp, aber aufschlussreich: Seit seiner Kindheit war Mithridates ganz fixiert auf das eigene Überleben. Da er ständig auf der Hut vor Verschwörungen, insbesondere Giftmorden, war, härtete er seinen Körper durch Gegengifte und Gymnastik ab. Nach dem Tod seines Vaters, berichtet Justin, verschwand Mithridates mit einigen Gefährten aus Sinope. Sieben Jahre lang lebten sie von der Jagd und schliefen nicht unter einem Dach, sondern schlugen in den Bergen ihr Lager auf. Der junge König verbesserte seine Ausdauer, indem er zu Fuß wilde Tiere jagte und vor ihnen davonrannte, wenn sie sich gegen ihn wandten und ihn angriffen. Manchmal wagte Mithridates es sogar, wie der griechische Halbgott Herakles, seine Kraft mit gefährlichen Tieren zu messen, indem er mit ihnen rang und sie mit bloßen Händen tötete.3
Justin beschrieb exakt die Art von »Pfadfinderleben«, die Xenophon den griechisch-persischen Adligen so sehr ans Herz gelegt hatte. Auf diese Weise sei Mithridates, so Justin, nicht nur Anschlägen aus dem Weg gegangen, sondern habe darüber hinaus enorme Kraft erlangt und seine Ausdauer und seinen Mut auf atemberaubende Weise auf eine Probe gestellt. Nach sieben Jahren Abwesenheit sei Mithridates, schreibt Justin in seiner lakonischen Art, nach Sinope zurückgekehrt, habe mit seinen Gegnern kurzen Prozess gemacht und die Herrschaft angetreten.
Leider ist Justin die einzige erhaltene Quelle für diesen wichtigen Abschnitt aus Mithridates’ Leben: die Zeit nach der Ermordung von Mithridates’ Vater um 120 v. Chr. bis zum Beginn der Herrschaft durch Mithridates selbst um das Jahr 115. Weil Justin das verlorene Werk des Historikers Trogus zusammenfasst, lässt seine Version einige Ereignisse aus, legt andere zusammen oder wiederholt sie. Wenn wir nur die vollständigen Schilderungen im Original von Trogus hätten! Einige Historiker lehnen Justins Chronologie mit Blick auf die ungenauen Datierungen völlig ab und weisen darauf hin, dass in Delos in den Jahren 116/115 v. Chr. Statuen und Inschriften zu Ehren von Mithridates und seinem jüngeren Bruder errichtet wurden. Das wäre fünf Jahre nach dem Mord an ihrem Vater, als sich Mithridates angeblich nicht in Sinope aufhielt. Dabei hätte auch Königin Laodike ohne Weiteres im Namen ihrer jungen Miterben in deren Abwesenheit Statuen aufstellen und Inschriften anbringen lassen können. Genau genommen wäre das ein kluger Propagandaschachzug gewesen, um Gerüchten entgegenzutreten, der vermisste Prinz sei aus dem Weg geschafft worden. Im Gegenzug mögen die Anhänger des Mithridates Münzen mit seinem Geburtskometen geprägt haben, während er im Exil war, um so das Schicksal des jungen Königs in Erinnerung zu rufen und seine mögliche Rückkehr vorzubereiten. Beide Parteien hatten allen Grund, das Bild des Mithridates während seiner Abwesenheit zu verbreiten.4
Es stimmt natürlich, dass die von Justin genannten »sieben Jahre« eine auffällig mythische Zahl darstellen: Sieben steht in volkstümlichen Überlieferungen häufig einfach für »mehrere Jahre«. Wenn man diese Ausschmückungen aus dem Reich der Sage beiseite lässt, dann ist Justins Bericht weder sensationell noch unlogisch. Der Gedanke, dass Mithridates nach dem Mord an seinem Vater untertauchte, ist keineswegs unglaubhaft. In Sinope schwebte er tatsächlich in Gefahr: Aus jener Zeit sind etliche Beispiele für den Mord an Königskindern überliefert. Es besteht kein Grund, daran zu zweifeln, dass der Kronprinz mit einigen Gefährten in der von Justin genannten (und von Trogus möglicherweise näher beschriebenen) Weise geflohen ist. Wie lange sich Mithridates genau versteckte, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, aber vier oder fünf Jahre erscheinen durchaus plausibel.5
Wie organisierte Mithridates seine Flucht? Was erlebte er in der geheimnisumwittertsten Phase seines Lebens, in den Jahren bis zur Ergreifung der Macht? Der folgende Abschnitt entwirft ein plausibles Szenario für das selbstauferlegte Exil des Mithridates, das sich auf bekannte Tatsachen und begründete Mutmaßungen stützt.
Der Plan
Die Reise war kein spontaner Entschluss, sondern erforderte mit Sicherheit eine monatelange sorgfältige Vorbereitung. Der verschwiegene, einfallsreiche und mutige Jugendliche Mithridates, der sich seines Platzes in der Geschichte sicher war, mag sich eine Strategie ausgedacht haben, die etliche Episoden aus dem Leben seiner Lieblingshelden aufgriff, und sie mit seiner Liebe zur Jagd kombiniert haben. Der Thronerbe von Pontos hatte viele enge Freunde im gleichen Alter, aber auch etwas ältere. Dieser Freundeskreis war den elitären Zirkeln nachempfunden, die Alexander und Kyros um sich geschart hatten.
Sein bester Freund Dorylaos mag Mithridates mit der Logistik geholfen haben. Auch sein Leben war in Gefahr. Da er der Neffe des Heerführers Dorylaos war, hatten es die Verschwörer im Palast vermutlich auch auf den jungen Dorylaos abgesehen. Man kann sich vorstellen, wie die beiden Jungen bis spät in die Nacht miteinander flüsterten und berieten, wem unter ihren Schulkameraden sie vertrauen konnten. Der verwöhnte jüngere Bruder Mithridates Chrestos zählte jedenfalls nicht dazu. Aus Inschriften auf Büsten, die in Delos gefunden wurden, sind die Namen einiger enger Vertrauter des Mithridates während der ersten Jahre seiner Herrschaft bekannt. Der eine oder andere gehörte womöglich schon in der Jugend seinem engeren Freundeskreis an, etwa Gaius, der Sohn des Hermaios, und Diophantos, der Sohn des Mithares, und Gordios, der Kappadokier, der später Mithridates’ Sondergesandter wurde.
Die Flüchtlinge gingen davon aus, dass sie einige Jahre lang ständig auf der Wanderschaft sein würden, bis sie sich stark genug fühlten, siegreich zuzuschlagen. Eine allzu große Gruppe könnte Aufsehen erregen; acht bis zehn Mann hingegen konnten gemeinsam gut jagen und sich selbst versorgen. Mithridates muss schon im Alter von 14 oder 15 Jahren große Selbstsicherheit und Klugheit ausgestrahlt haben, wenn er so ergebene Gefährten hatte, die ihm bereitwillig ins Exil folgten. Getrieben von Freundschaft und Abenteuerlust, hofften sie womöglich auch auf großen Lohn. Sie wussten, dass Alexanders Gefährten einst sein Reich geerbt hatten. Mithridates und Dorylaos hatten ihrerseits ein überaus starkes Motiv: Sie liefen um ihr Leben.
Wie Justin berichtet, täuschte Mithridates bevor er untertauchte »eine große Leidenschaft für die Jagd vor«. Seine Gruppe blieb bei jedem Ausflug länger weg, ohne dass jemand Verdacht schöpfte. Möglicherweise versteckten sie bei den Ritten vor dem großen Tag Lebensmittel und Münzen in sicheren Depots. Der junge Mithridates konnte aus dem königlichen Stall zusätzliche Pferde für einen verlängerten Jagdausflug beschaffen. Immerhin war die Jagd seine Lieblingsbeschäftigung, geradezu eine Manie. Es ist anzunehmen, dass Mithridates und seine Freunde um das Jahr 118/117 v. Chr. für das große Abenteuer bereit waren. Mithridates konnte den Ausflug als ein besonderes Ereignis zur Feier seines sechzehnten Geburtstags und seines ersten Jahres als jugendlicher König von Pontos ausgeben.
Als Mithridates und seine Gefährten womöglich in jenem Frühling nach dem Festessen ausritten, mögen sie allesamt praktische Jagdkleidung in dezenten Farben, wie Xenophon geraten hatte (kein helles Weiß oder Purpurrot!), getragen haben: braun gefärbte Tuniken, Hüte, kurze Wollmäntel und hohe Lederstiefel oder wie Mithridates persische Hosen. Ihr Anführer war an dem schlichten Diadem und einem schweren Siegelring aus Gold mit dem königlichen Siegel von Pontos zu erkennen. Jeder Junge nahm wohl ein Paar Wurfspieße, Stöcke und Knüppel, Pfeil und Bogen, ein Schwert und einen Dolch mit. Die Lieblingshunde trotteten neben den Packpferden einher, beladen mit Decken, Netzen für Großwild, Tassen und Kochutensilien, persönlichen Dingen wie Musikinstrumenten, Spielsteinen, Angelhaken und -leinen oder den Lieblingsbüchern. Jeder Abenteurer trug einen prall mit Münzen gefüllten Lederbeutel für den täglichen Bedarf und Lebensmittel, und auch um hilfreiche Bürger von Pontos zu belohnen. Auch für Spenden in Heiligtümern brauchten sie Geld.6
Mithridates gelang es wohl, sich eine Karte von Pontos zu verschaffen sowie Informationen über Gebirgsketten, Flüsse und Quellen, Städte und Dörfer, Befestigungsanlagen, Tempelbezirke, königliche Straßen, kleinere Wege und Pfade über Gebirgspässe zu sammeln.7 Die Gruppe dürfte längst ihren ersten Lagerplatz ausgekundschaftet haben, einen vollen Tagesritt von Sinope entfernt. Wie üblich verabschiedeten sich die Jungen von ihren Familien und Freunden und taten so, als würden sie bald zurückkehren, doch sie wussten genau, dass sie ihre Lieben über Jahre nicht wiedersehen würden – wenn überhaupt.
In freier Natur
Bei Sonnenaufgang bricht die Gruppe vom Stadttor nach Süden auf und nimmt den mittleren Weg über die Hügel ins Tal des Flusses Amnias. Die westliche Abzweigung führt entlang der Felsküste zu den winzigen Buchten Paphlagoniens; die östliche folgt der Küste bis Amisos. Die Berge und Täler Anatoliens verlaufen in Ost-West-Richtung. Nachdem sie die ersten Ausläufer hinter sich gelassen haben, durchqueren die Jungen den Amnias und wenden ihre Pferde auf der alten persischen Straße entlang des Halys nach Südosten. Zur Rechten steigen dicht bewaldete Berghänge an, mit unzähligen guten Lagerplätzen, reinen Quellen und reichlich Jagdwild. Aber sie wollen nicht in der Reichweite Sinopes bleiben. Die Reiter überqueren die Steinbrücke über den Halys und passieren auf ihrem Weg entlang der alten Straße etliche kleine Dörfer. In den ersten Nächten können sie vor Aufregung, vermischt mit einer gewissen Beklemmung angesichts der Größe ihrer Mission, vermutlich kaum schlafen.
Möglicherweise dreht sich das Gespräch um das Thema Gifte, als die Gruppe die Straße zu der Festung meidet, die das Realgar-Bergwerk bewacht. Die Sklaven starben dort scharenweise an den giftigen Dämpfen der sinopischen Roterde. Diese tödliche Substanz, Arsen, hatte vermutlich ihren König Mithridates Euergetes umgebracht. Sein Sohn Mithridates hatte die Absicht, seine toxikologischen Studien fortzusetzen und freute sich schon darauf, in freier Natur neue pharmaka zu testen. Wenn er lange genug leben wollte, um all die ehrgeizigen Ziele zu erreichen, die er sich gesteckt hatte, dann musste er sein Universalgegenmittel vervollkommnen.
Anderes ging jedoch vor. Mithridates wusste natürlich, was sein Vorbild Alexander nach der Ermordung seines Vaters als Erstes getan hatte, und war sich darüber im Klaren, wie unerlässlich es war, zunächst das Vertrauen der militärischen Befehlshaber seines Vaters zu gewinnen. Viele betrachteten ihn womöglich als Marionette seiner einflussreichen Mutter, als König, der aller Wahrscheinlichkeit nach seinen 20. Geburtstag nicht erleben würde. Er musste ein starkes Signal an die Armeen des Königreichs aussenden, um ihnen zu demonstrieren, dass Mithridates VI. Eupator jetzt nicht nur nominell, sondern auch real ihr Führer war. Er musste ihnen klarmachen, dass er eine konkrete Strategie für die Rückeroberung der Macht in Sinope hatte. Sie sollten wissen, dass Mithridates dem Königreich Ruhm und seinen Kriegern Reichtum und Ehre bringen werde.
Im ersten Jahrhundert v. Chr. glichen das Reich Pontos und die übrigen Territorien Ostanatoliens einer mittelalterlichen Landschaft der Ritterzeit. Ein Netz aus Straßen verband die größeren Städte miteinander, kleinere Wege erschlossen Dörfer, Tempelbereiche und Erbgüter; hinzu kamen unzählige Reitwege und Trampelpfade. Burgen und Festungen wachten über strategisch wichtige Orte. Das logische erste Ziel des Mithridates mag die Zitadelle von Amaseia gewesen sein, etwa 240 Kilometer von Sinope entfernt.
An der nächsten großen Kreuzung erreicht die Gruppe den Fluss Iris und den bekannten Kurort Phazemon, wo die Reisenden dem Gott der Heilkunst Asklepios und den lieblichen Nymphen ein Opfer bringen, die sich in den heißen Quellen tummeln sollten. Nach einer Erholung in den Heilbädern setzen die jungen Reiter erfrischt ihre Reise nach Amaseia fort. Sie haben keinen Grund, die großen Straßen zu meiden, weil noch niemand in Sinope sie vermisst. In der Nähe von Amaseia steigen sie zu dem Tempel des Zeus Stratios (»Heerführer«) hinauf, wo Mithridates häufig zugesehen hatte, wie sein Vater auf dem Hochaltar ein Feueropfer darbrachte (die Dynastie der Mithridatiden betete Zeus als eine Form von Ahuramazda/Mithra an). Womöglich vollzieht Mithridates jetzt zum ersten Mal selbst die Zeremonie. Die Ruinen des Altars mit Zeus gewidmeten Inschriften sind noch heute zu sehen.8
Das Machtzentrum der Königin Laodike lag im Palast in Sinope und reichte allenfalls bis zu einigen Nachbarstädten. Die Freunde und Truppen von Mithridates’ Vater kontrollierten immer noch die Festungen von Pontos; sie dürften Mithridates und seine Gefährten mit offenen Armen empfangen haben. Die Bürger der chora (des Hinterlandes) hielten dem ermordeten König und seinem Sohn die Treue, überdies war Amaseia die Heimat der Familie von Dorylaos. Der Historiker Strabon pries die Schönheit und strategische Lage seiner Heimatstadt Amaseia, der ehemaligen Hauptstadt (die Residenz war um 183 v. Chr. nach Sinope verlegt worden). Die fruchtbaren Täler der Region waren berühmt für ihr Obst und Getreide, im Nordwesten lagen reiche Silberbergwerke.
Amaseia wurde von einer uneinnehmbaren Festung hoch oben auf einem Zwillingsberg verteidigt. Eine natürliche Felsbrücke verband die beiden Gipfel. Unterirdische Treppen und mehrere geheime Vorratskammern gestatteten es der Festung, langen Belagerungen zu trotzen (die Kammern sind noch heute in den Ruinen von Amaseia zu sehen). Die Soldaten zeigten dem König und seinen Freunden die geheimen Wege und Wasserreservoire und vorgelagerte Wachtürme, die mit der Festung verbunden waren. Dieses kostbare Wissen brauchte Mithridates als Befehlshaber der Truppen von Pontos.9
Einige Jahrzehnte nach dem Tod des Mithridates suchte Strabon sämtliche Festungen aus mithridatischer Zeit auf. Er stieg auf den uralten Steinturm bei Sagylion in der Region um Amaseia, der die heißen Quellen überragt. Dieser Turm enthielt ein weiteres großes Reservoir, das, so Strabon, »den Königen von Pontos einst sehr nützlich« war. Zur Zeit Strabons waren jedoch alle geheimen Zisternen des Mithridates ausgetrocknet, weil die Zuflüsse auf Befehl des Pompeius nach den Mithridatischen Kriegen mit riesigen Steinblöcken versperrt worden waren.10
Aber an einem kühlen Frühlingstag des Jahres 117 v. Chr. steigen Mithridates und seine Freunde, den Duft der Apfelblüten in der Nase, den Turm Sagylion und die Mauern von Amaseia hoch, um die Befestigungsanlagen zu inspizieren und die herrliche Aussicht zu genießen. Von den erfrischenden Hügeln im Norden Amaseias aus haben sie einen weiten Blick auf die baumlose Ebene um den mehrere Kilometer entfernten See Stiphane. Am Ufer war wohl Laodikeia zu erkennen, das Mithridates’ Mutter unmittelbar nach dem Mord an seinem Vater gegründet hatte. Sie hatte sich von den Römern eine ansehnliche Summe geliehen – Geld, das aus der Versklavung und den Steuern Anatoliens stammte –, um am See eine überdimensionierte Villa und auf einer Felsklippe die heute als Icizari bekannte Burg zu bauen. Als Mithridates den Blick über die Landschaft schweifen lässt, muss er schmunzeln. Seine Mutter hatte den Platz für ihre Burg in unmittelbarer Nähe der heißen Quellen und des hübschen Sees gewählt. Sie dachte nur an die angenehme Reise und Vergnügungen, nicht daran, ob der Ort gut verteidigt werden konnte.
Nach den Mithridatischen Kriegen besuchte Strabon den See und schrieb, dass es darin vor fetten Fischen nur so wimmelte. Von dem prächtigen Palast Laodikes waren aber nur von Wein überwucherte Trümmer übrig. Ringsum wogten Kornfelder. Ihre Burg war verlassen, stand aber noch. Die Burg Icizari (Kizari) ist noch heute in der Nähe des Dorfes zu sehen, das die türkische Form von Laodikes Namen trägt: Ladik. Archäologen haben hier Bronzemünzen mit Laodikes Bild und Schriftzug entdeckt, die während Mithridates’ Abwesenheit geprägt wurden. Diese Funde und andere Münzen mit ihrem Namen und Porträt sowie den Wahrzeichen von Pontos, Stern und Halbmond, lassen darauf schließen, dass Laodike sich für die legitime Herrscherin des Reiches hielt. Manche Historiker vermuten, dass sie vorhatte, Laodikeia zur neuen Hauptstadt von Pontos zu machen.11
Mithridates mied diese Region, die von seiner Mutter kontrolliert wurde. Aber im übrigen Reich gab es Hunderte andere Festungen, Türme und Wachposten, die von treuen Anhängern gehalten wurden, von »Adligen alter persischer Abstammung, die ihre abgelegenen Lehen von hochragenden Burgen tief im Wald aus regierten«.12 Sie hießen Mithridates vermutlich als ihren Anführer willkommen und versorgten ihn mit Proviant und frischen Pferden. Mithridates wollte so viele Burgen wie möglich besuchen, um im ganzen Königreich Anhänger zu werben. Außerdem musste er unbedingt seine Ansprüche auf die Schätze der Mithridatiden anmelden und Vorkehrungen zum Schutz des Goldes und Silbers treffen, das sein Vater im Lauf der Jahre in diesen abgelegenen Burgen deponiert hatte. Während Mithridates das Vertrauen der Garnison von Amaseia gewann, erhielt er vermutlich detaillierte Informationen über verborgene Schätze, Waffenlager und wenig bekannte Pfade über die Berge.
Sofern Nachrichten über die Aktionen der Römer nach Amaseia drangen, dürfte er wegen ihrer Pläne für Westanatolien und deren Duldung durch seine Mutter Qualen ausgestanden haben. Laodike sah tatenlos zu, wie die Römer ihr Großphrygien abnahmen, das der römische Senat seinem Vater nach dem Aufstand des Aristonikos und der Heliopoliten geschenkt hatte. Um 116 v. Chr., während der Abwesenheit des Mithridates, kam eine Gruppe von zehn römischen Beamten nach Sinope, um die Übernahme dieser neuen Provinz zu arrangieren. Königin Laodike zog die pontische Armee aus Phrygien ab und löste die Streitkräfte des Königreichs auf. Sie riet ferner ihrer Tochter Laodike der Älteren, Königin von Kappadokien, sich mit Rom zu verbünden. Seine Mutter warf die großartigen Errungenschaften der Regierungszeit ihres Gatten zum Fenster hinaus.13
Um die Loyalität der pontischen Heere zu gewinnen, war es wichtig, die Kontinuität der königlichen Linie demonstrativ zur Schau zu stellen. Alexander hatte beispielsweise das Grab Kyros des Großen aufgesucht, um sich selbst als der nächste wahre König Persiens zu präsentieren. Mithridates schlug mit Sicherheit das Herz höher, als er und seine Gefährten im Mausoleum in Amaseia seinen königlichen Vorfahren ihre Reverenz erwiesen. Fünf kunstvolle Grabstätten für die Könige von Pontos waren in die Steilhänge hoch über dem Fluss gehauen, wie es die uralten iranischen und anatolischen Bestattungsriten verlangten. Die prächtige Totenstadt und die mächtigen Mauern der Festung auf der Akropolis von Amaseia sind die eindrucksvollsten archäologischen Überreste des ganzen Pontischen Reiches. Im Jahr 2002 entdeckten Archäologen im Felsinneren Treppen und Tunnel, welche die Gräber mit der Burg über ihnen verbanden. Eine Inschrift kennzeichnet die Ruhestätte von Pharnakes I., dem Großvater des Mithridates. Vor jedem Grab lag eine kleine Terrasse, auf der Wildblumen wuchsen. Nach dem zoroastrischen Glauben erlosch das persönliche Feuer des Königs mit seinem Tod, aber sein xvarnah (Geist) blieb möglicherweise noch bei den bestatteten Gebeinen. Wenn die Geister der Vorfahren Mithridates’ wirklich in der Nähe waren, lächelten sie mit Sicherheit erfreut zu den kühnen Plänen des Jungen, dem Tod zu entgehen und den Mord an seinem Vater zu rächen.14
Eine herzliche Begrüßung in Amaseia stärkte sicherlich die Zuversicht des Mithridates und die Abenteuerlust seiner Gefährten. Nach dem Schwur, eines Tages zurückzukehren, wenn die berühmten goldenen Äpfel Amaseias reif waren, reiste Mithridates womöglich den Fluss Iris entlang weiter nach Süden und machte in Dadasa Halt, einer anderen Festung seines Vaters auf einer Steilklippe hoch über dem Dorf Gaziura. Von Gaziura aus führte eine Straße nach Zela im Westen, das von der Festung Skotios bewacht wurde. In dem Ort befand sich ein großer, der persischen Göttin Anahit geweihter Tempelbereich, den skythische Nomaden vor Jahrhunderten gegründet hatten. Falls die Jungen aus Sinope das Glück gehabt hatten, zur Zeit des alljährlichen großen Festes anzukommen, haben sie sich unter eine Schar berauschter Männer und Frauen in skythischen Kostümen (in Zickzackmustern gestrickte Beinkleider, Ledertuniken und auffällige mit Quasten geschmückte Kappen) gemischt und »ausschweifend gefeiert«, wie Strabon schreibt.
Nach Zela wenden sich die Jungen wiederum nach Osten, überqueren die Brücke über die Iris und besuchen bei Dazimon und Talaura weitere Burgen. Womöglich unternahmen sie von hier aus auf der Straße nach Kappadokien einen kleinen Abstecher nach Süden an den Halys. Bei jedem Vier-Augen-Gespräch mit den Befehlshabern seines Vaters bekam Mithridates Unterstützung zugesagt und sorgte so dafür, dass er sein Vermächtnis kontrollierte. Die Münzdepots und Schätze, die in jedem Fort versteckt lagen, sollten in den späteren Kriegen eine wichtige Rolle spielen.15
Das Turmvolk
Als sich die Blätter rot und golden färben, führt Mithridates die Gruppe nach Norden an die milde Meeresküste – ein idealer Ort, um den ersten Winter zu verbringen. Die Route führt an Kabeira vorbei, einem befestigten Palast der alten Könige von Pontos. Der gut zu verteidigende Ort, strategisch günstig am Lykos gelegen, und die wilde Schönheit Kabeiras machen einen starken Eindruck auf den jungen Mithridates. Strabon bemerkt, dass der Ort von dicht bewaldeten Bergen voller Jagdwild umgeben war.
Zu den eindrucksvollsten Naturschauspielen in der Region von Kabeira zählte eine ganzjährig sprudelnde Quelle auf einer hohen Felsklippe über dem Fluss einige Kilometer nordwestlich des Ortes. Die Quelle ergoss sich in einen mächtigen Wasserfall, der über nackten Fels in eine tiefe Klamm stürzte. Neben der befestigten Residenz barg Kabeira ein großes Heiligtum, das dem anatolischen Mondgott Men und der Mondgöttin Selene geweiht war. In dem von Pharnakes I. gegründeten Tempel legten die Könige von Pontos traditionell ihren heiligen Eid ab und beschworen Men, ihnen Gesundheit, Sicherheit und Wohlstand zu schenken. Die Jungen aus Sinope mögen das Bild des Gottes hoch zu Pferde, mit dem Wurfspieß in der Hand und dem Halbmond über der Schulter, bewundert haben.16
Von Kabeira aus wählte Mithridates möglicherweise den wenig benutzten Pfad, der sich über die Berge bis ans Schwarze Meer schlängelte. Strabon erwähnt die Gazellenherden und Kornfelder in der Region, die übervollen Weinreben, Birnen-, Apfel- und Nussbäume, die das ganze Jahr über Nahrung spendeten. Er erwähnt auch die dicken Laubteppiche, mit denen Reisende ihr Lager polstern konnten. Wenn sie anschließend auf der schmalen Küstenstraße dem Sonnenaufgang entgegenritten, folgten die Reiter der gleichen Route wie einst Xenophon und seine 10 000 griechischen Söldner oder – im Mythos – Jason und die Argonauten. Während die Gruppe die Felsküste erkundete, entdeckte sie versteckte Buchten, die häufig von den Piraten des Schwarzen Meeres genutzt wurden. Aus der Straße wurde allmählich ein einfacher Pfad im abgelegenen Hinterland von Trapezus, einer Stadt mit einem ausgezeichneten Hafen. Von Trapezus aus führte eine Straße nach Süden über den Ziganapass in das obere Euphrattal und nach Armenien. Nordöstlich der Stadt lag Kolchis, »das legendäre Land des Goldes, der Gifte und Zauberei«. In der Ferne ragten bedrohlich die Gipfel des Kaukasus auf, und jenseits davon erstreckten sich die endlosen Steppen Skythiens.17
Nachdem sie mit ihren Pferden eine Weile die Küstenstraße entlang getrottet sind, macht Mithridates bei den Forts von Side, Phabda, Chabaka und Pharnakeia Halt. Die Menschen hier verdienten sich ihren Lebensunterhalt mit dem Abbau von Silber und Zink und dem Thunfischfang. Jeder Ort fühlt sich hoch geehrt, weil der junge König von Pontos ihm einen Besuch abstattet. Man begrüßt die königliche Jagdgesellschaft mit Fisch, Brot und Wein. Vor rund 300 Jahren hatten Xenophon und seine Armee eine ähnliche Gastfreundschaft erlebt. Als Mithridates und seine Gefährten in Trapezus ankamen, dachten sie womöglich daran, wie Xenophons heimwehkranke Soldaten wohl gejubelt hatten, als endlich das Schwarze Meer in Sicht kam.
Auf diesen Reisen lernte Mithridates seine künftigen Untertanen und die natürlichen Ressourcen seines Königreichs kennen, seine fruchtbaren Täler, die Häfen und seine Festungen in den majestätischen Bergen. Mit seinen jungen Freunden nahm er Gefahren und Entbehrungen auf sich, hielt ständig nach plötzlich aufziehenden Gewittern in den Bergen Ausschau und war auf der Hut vor Giftschlangen, Wölfen, Ebern und Bären. Hinzu kam die Gefahr, die von isoliert lebenden Völkern und ihrer tödlichen Flora ausging. In den Bergen von Pontos und Armenien, die von Silber-, Zink-, Zinn- und Eisenminen durchlöchert waren, hausten viele »völlig wilde« Bergvölker: die Sanner, Chaldaier, Kerkiten und Mosynoiker, um nur einige aus Strabons Aufzählung zu nennen. Mit dem ihm angeborenen Sprachtalent konnte Mithridates es vermutlich gar nicht erwarten, diesen exotischen Stämmen zu begegnen, und er hätte gewiss nur zu gerne mit ihnen kommuniziert. Die Schamanen kannten mit Sicherheit seltene Giftstoffe und geheimnisvolle Gegenmittel. Würden die Bogenschützen ihnen Geheimrezepte für Giftpfeile enthüllen? Hochgiftige Pflanzen wie Nieswurz, Tollkirsche und Blauer Eisenhut blühten auf den Wiesen und Berghängen. Die Reisenden müssen aufpassen, dass ihre Pferde nicht die tödlichen Kräuter fressen. Mithridates sammelt sorgfältig Exemplare und macht sich Notizen zu ihren Eigenschaften und den entsprechenden Gegenmitteln.
Vermutlich hatten die Jungen bereits mit Pfeilen experimentiert, deren Spitzen in Nieswurz getränkt waren und die von den »wilden« Völkern für die Kleintierjagd verwendet wurden. Die Methode funktionierte hervorragend, solange man rasch das giftgetränkte Fleisch um die Wunde ausschnitt. Die Gallier trugen ständig Gegengifte bei sich, für den Fall, dass sich jemand selbst an einem Pfeil verwundete, und ebenso die Skythen. Mithridates konnte hoffen, eines Tages den Soanen zu begegnen, einem Stamm in abgelegenen Gegenden von Kolchis, der für sein Pfeilgift berühmt war. Strabon bemerkte dazu, dass angeblich schon der Geruch eines vorübersausenden Soanen-Pfeils einen Mann umbringen konnte!
Die Mosynoiker, das »Turmvolk«, waren in Strabons Augen das »schlimmste der wilden Bergvölker«. Das Turmvolk ernährte sich von Kastanien, eingelegtem Fisch und Wildbret, schnitzte Einbäume und benutzte Streitäxte und Speere aus Eisen. Sie bauten auf hohen Gestellen Baumhäuser in die dichten Rhododendronwälder an den Hängen über dem Meer. Xenophon hatte einst seine Männer durch ihr Gebiet geführt und berichtete, dass der Stamm einen »König« wählte, der Recht sprechen sollte. Dieser König wurde im höchsten Turm gefangen gehalten. Wenn seine Urteile den Leuten nicht gefielen, hungerten sie ihn kurzerhand aus. Ohne jede Scheu trieb das Turmvolk, so Xenophon, in aller Öffentlichkeit Geschlechtsverkehr, und die blasse Haut der Männer und Frauen (und sogar der Kinder) war stark tätowiert, »bedeckt von bunten Mustern aus den verschiedensten schönen Blumen«. Das Turmvolk mochte Fremde nicht und war berüchtigt dafür, dass sie ahnungslose Reisende angriffen, indem sie wie Affen von ihren mosynoi, »Türmen«, aus auf sie sprangen. Auf diese Weise dürften auch Mithridates und seine Freunde zum ersten Mal mit ihnen Bekanntschaft gemacht haben. Irgendwie schaffte Mithridates es jedoch, den kriegerischen Stamm für sich zu gewinnen. Im letzten Mithridatischen Krieg sollte sich das Turmvolk als wichtiger Verbündeter erweisen.18
Als der Frühling kommt, führen die Ausreißer aus Sinope ihre Pferde in die Berge und tauchen in den kühlen Hochwäldern unter, wo der letzte Schnee von den immergrünen Ästen tropft. Vielleicht feiern die jungen Männer mit einem Freudenschrei den ersten Jahrestag, seit sie – wie später Robin Hood und seine Mannen im Sherwood Forest – frei von dem leben konnten, was ihr Können ihnen eintrug. Sie freuen sich auf den Lauf des Jahres, gehen allen aus dem Weg, die Kontakt zu den Verrätern in Sinope halten, und schmieden Pläne für ihre triumphale Rückkehr.
Die Jungen schlagen sich den Bauch mit Mandeln, Pistazien, Kastanien und getrockneten Feigen voll, die sie in tieferen Lagen gesammelt haben, und gemäß der strengen Diät des weisen alten Diogenes pflücken sie im ganzen Frühjahr und Sommer zarte Sprösslinge. Mithridates erinnert sich daran, wie der junge Kyros Jahrhunderte zuvor seine Gefährten in Persien ermahnt hatte, und erklärt, das reine, eiskalte Wasser aus geschmolzenem Schnee sei des beste Mittel gegen den Durst und die Erde selbst biete die beste Ruhestätte. Goldene Birnen, dziran (Aprikosen) und Pflaumen werden nach und nach reif. Als der Sommer zu Ende geht, tun sich die Jungen an den Wildkirschen gütlich, die in Pontos und in den Steppen wachsen, und trocknen einige als Vorrat. Womöglich trifft die Gruppe auch einen Bauern, der ihnen beibringt, wie man Stutenmilch mit Kirschsaft gerinnen lässt und so den erfrischenden, fermentierten Trank herstellt, den skythische Nomadenstämme lieben. Die Frucht scheint die Belastungen ihres harten Lebens in freier Natur zu lindern – es ist in der Tat erwiesen, dass Kirschsaft schmerzenden Muskeln guttut.
So vergehen Wochen, Monate, Jahre. Mithridates’ Bande jagt Hasen, Gazellen, Wildziegen und Rehe; Trophäen von ihren Beutetieren setzen sie als Opfer an die einheimischen Götter auf Äste. Für Abwechslung bei den Mahlzeiten sorgt der Fischfang in Seen und Wasserläufen. Einige ältere Jungen zeichnen sich vielleicht mit dem Basteln von Ködern aus, indem sie Federn an die Angelhaken binden – eine neue Technik, die man in Griechenland hundert Jahre zuvor erfunden hatte. Einmal erlegen die Jäger einen pontischen Biber und drängen einander zum Spaß, die Hoden zu essen, was angeblich die Manneskraft stärkte. Alle halten nach wilden Löwen und Bären Ausschau, die hier immer noch durch die Wälder streichen, genau wie zu Herakles’ Zeiten.19
Gefährlicher Zeitvertreib
Je mehr Selbstvertrauen und Erfahrung die Jungen sammeln, an desto gefährlichere Wildtiere wagen sie sich heran. Die erfahrensten Jäger rühmen sich ihrer Kraftproben mit wilden Keilern. Die Jagd auf einen Keiler war zur Zeit Alexanders des Großen in Makedonien die wichtigste Mutprobe: Erst wenn man persönlich einen Keiler mit einem Speer (ohne Netz) erlegt hatte, wurde man geachtet. Als die Jungen an die großen Keilerjagden der griechischen Sagenhelden – unter ihnen eine Heldin, Atalante – dachten, mögen sie sich gefragt haben: Stimmte es wirklich, dass die Hauer immer heißer wurden, wenn man einen Keiler reizte? Alte Jäger behaupteten, dass vor Wut glühende Hauer das Fell der Jagdhunde versengen konnten.
Xenophon schildert die übliche Methode für die Keilerjagd. Man hielt eine knapp drei Meter lange Lanze, mit einer gut 30 cm langen Spitze und einem Querstück, damit das Tier nicht die Lanze hinaufrannte, machte einen Höllenlärm und verfolgte das Untier, bis es in die Ecke getrieben war. Wenn man es verfehlt, greift das verzweifelte Tier an und spießt Jäger und Hunde auf. War es nun tatsächlich gelungen, den Keiler zu erlegen, stand einem fürstlichen Mahl nichts mehr entgegen.20
Eines Frühlingstages, nachdem die Abenteurer auf ihre neuen Freunde, das Turmvolk, gestoßen sind, reiten sie in der Nähe von Trapezus durch riesige Rhododendronbüsche, die gerade in voller Blüte stehen und magenta, rosa und weiß schimmern. Sie haben erfahren, dass Pfeile durch den giftigen Saft dieser Blumen zu tödlichen Waffen werden. An dem kurvenreichen Waldweg bemerken sie einige wilde Bienenstöcke, und aus den Waben trieft verführerisch Honig. Mithridates schwirrt schon der Kopf vor toxikologischen Experimenten, aber er erinnert sich an die Warnungen des Turmvolks, in diesen schönen Wäldern auf keinen Fall Honig zu essen. Was für ein herrlicher Widerspruch: süßes Gift! Mit einem Mal wird ihm klar, weshalb Xenophons ganzes griechisches Heer auf wundersame Weise zusammenbrach und drei Tage lang unfähig war, sich zu rühren, nachdem sie den wilden Honig von Trapezus probiert hatten. Xenophon schrieb, er stehe vor einem Rätsel, wieso alle seine Männer in einem fremden Territorium völlig hilflos auf dem Boden gelegen hatten.
Mithridates verwöhnt seine Gefährten mit Xenophons lebhafter Schilderung der starken Wirkung des Rhododendronnektars.21 Die neugierig gewordenen Jungen forschen vermutlich nach: Der Honig ist dünn und flüssig, rötlich und leicht bitter, nicht wie die goldenen Honigkuchen, die zu Hause bei Geburtstagsfesten aufgetischt wurden. Ein Tropfen von der dunklen Flüssigkeit kitzelt auf der Hand. Die Zunge kribbelt, wenn man nur ganz leicht kostet. Mithridates fordert seine Freunde zu einem teuflischen Wettbewerb heraus: Er selbst fungiert als Schiedsrichter. Wer kann am meisten Honig essen, ohne zu lallen, wie ein Betrunkener herumzutorkeln, in die Hose zu machen oder am Ende umzukippen?
Mithridates erweitert also sein Wissen über Gifte und Gegenmittel, und die jungen Männer messen ihre Kräfte, doch sie lernen auch Lektionen in Loyalität, Teamarbeit, Vertrauen und Führungsstärke, und sie sammeln praktische Erfahrung. Wie weit kann man einen Pfeil schießen oder einen Speer werfen? Wie viele Stadien (fünf Stadien entsprechen etwa einem Kilometer) kann man an einem Tag zu Pferd zurücklegen? Wer hält die meisten Hornissenstiche aus? Wie behandelt man einen Schlangenbiss am effektivsten? Wie schnell kann man rennen, wenn man von einem wütenden Bären verfolgt wird? Bei anderen Wettkämpfen zeigt sich, wer am besten die Verse des Homer rezitieren, Gedichte aufsagen, ringen oder schwimmen kann, oder wer einen Spottwettkampf gewinnt. Die Jungen fordern sich gegenseitig zu Wettläufen, Pferderennen und unzähligen anderen todesmutigen Spielchen heraus.
Der Tempel der Liebe
Sie waren ein Haufen vor Kraft und Tatendrang strotzender Teenager, die ihre Freiheit genossen und das Abenteuer suchten. Aber wie erlebten die Jungen in diesen Jahren in der Einsamkeit ihre Pubertät? Einige Jugendliche fanden sich wohl zu homoerotischen Liebespaaren zusammen, nach der traditionellen Art der griechischen Adligen. Andere pflegten bisexuellen Verkehr und folgten damit den bekannten Neigungen Alexanders des Großen und seiner makedonischen Gefährten, sowie dem Vorbild hoher römischer Adliger jener Tage. Das war aber nicht die traditionelle persische Art; laut dem griechischen Historiker Herodot hatten die Perser erst von den Griechen gelernt, Homosexualität zu akzeptieren. Römische Historiker aber bemerkten – voller Überraschung mit Blick auf die griechischen Hauslehrer –, dass sich Mithridates nur zu Frauen hingezogen fühlte, niemals zu Knaben oder Männern. Vermutlich teilten auch andere in seinem Kreis diese für die damaligen Gewohnheiten bemerkenswerte Neigung.22 Aber wo sollten Mithridates und seine Freunde in der ländlichen Region willige Mädchen finden?
Bei den Banketten seines Vaters hatten Mithridates, Dorylaos, Gaius und ihre Schulkameraden vermutlich gehört, wie die Männer mit ihren sexuellen Erlebnissen in bestimmten, berüchtigten Heiligtümern in Anatolien prahlten. Die dem Kult nahöstlicher Liebesgöttinnen (Mylitta, Ma, Enyo, Anahit und Bellona) geweihten wohlhabenden Tempelkomplexe besaßen riesige Bestände an heiligem Land und beschäftigten Tausende von Priestern, Priesterinnen und Dienern. Im Reich Pontos war der Hohe Priester sehr mächtig; er unterstand allein dem König, der ihn ernannte. Der große Reichtum der Tempel stammte von heiligen Prostituierten, ein zwar gut belegter, aber wenig erforschter nicht alter Brauch. In Pontos, Kappadokien, Armenien, Babylon, Lydien und anderen antiken Kulturen war es Brauch, dass junge Frauen zuerst mit wildfremden Männern im Tempel schliefen, bevor sie heirateten. Sie spendeten das Silber, das sie dabei verdienten, der Göttin.
Die wohl bekanntesten »Liebestempel« waren Komana Kappadokia und Komana Pontike. Der Historiker Diodor beschrieb einen Besuch in Komana Pontike als überaus entspannendes und unterhaltsames Erlebnis, nicht als feierliches religiöses Ritual. Schon in Sinope haben Mithridates und seine Freunde davon geträumt, einmal diese Gärten der Lust aufzusuchen. Sie stellen sich vor, wie sie von einem ganzen Schwarm hübscher Mädchen empfangen werden, deren Aufgabe es ist, mit den Fremden, die zufällig des Weges kamen, heiligen Geschlechtsverkehr zu treiben. Mit blumigen Worten schrieb der epikureische Philosoph Lukrez, ein Zeitgenosse des Mithridates, über Liebe und Lust: In die Träume junger Knaben am Rand des Mannesalters halten häufig Bilder von verführerischen, entzückenden Frauen Einzug, und die Körper der Jungen geben Flüssigkeiten von sich, während sie tief schlafen – selbst der kostspielige Glanz orientalischer Bezüge bleibt davon nicht verschont.23
Jetzt haben die Jugendlichen Gelegenheit, diese Träume wahr werden zu lassen! Der Hohe Priester in Komana Pontike im malerischen Tal des Flusses Iris war von Mithridates’ Vater ernannt worden. Als zweiter Mann nach dem König war der Priester in einer Stellung, in der er viele Geheimnisse kannte und viele Gefälligkeiten empfing und erwies. Das war eine einzigartige Gelegenheit für Mithridates, das Angenehme mit dem Nützlichen zu verbinden. Die Vertrauensperson, ein Verwandter oder enger Freund des ermordeten Königs, empfing Mithridates mit Sicherheit als neuen Monarchen. Getrieben von den, wie Lukrez es nannte, »Gewalten der Lüste«, die sich »kaum dass gereift heran das Alter die Glieder« einstellen, mögen Mithridates und seine Freunde den Gärten von Komana in den Jahren, in denen sie auf sich gestellt waren, mehr als nur einen Besuch abgestattet haben.
Was sich in Komana abspielte, wissen nur die Beteiligten. Aber eine Übersetzung der diskreten, nüchternen Beschreibung des idealen Geschlechtsakts durch Lukrez vermittelt einen Eindruck von den Gastspielen des Mithridates in Komana: Die Sehnsucht sowohl der Männer als auch der Frauen nach Wonnen stellt sich in unwiderstehlichen Wellen ein ... Körper klammern sich gierig aneinander, eifrig schlingen sich Gliedmaßen ineinander, feuchte Lippen werden in wilden Küssen auf Lippen gepresst, der Atem wird durch zusammengebissene Zähne eingesogen, und es ist Saatzeit auf den Feldern der Venus. Mehrere antike Autoren beschreiben die Bräuche in diesen Tempeln. Wie es scheint, konnten die jungen Frauen Angebote ablehnen und die Partner nach ihrem Geschmack auswählen. Sie erhörten jene, deren Rang und Attraktivität am ehesten ihren eigenen entsprachen. Man kann sich denken, dass die jungen adligen Freunde des Mithridates als stattliche, reiche »Fremde« begrüßt wurden, denen der Ruf voraneilte, großzügig Silbermünzen zu verteilen.24
Die gemeinsamen Erlebnisse in Komana festigen das Band zwischen Mithridates und seinem Freund Dorylaos. Einmal verspricht der Thronerbe seinem Freund, dass er ihn, sobald er die Herrschaft über das Königreich gewonnen habe, zum Hohen Priester des Liebestempels ernennen werde.
Studien auf dem Lande
Das Leben in der Natur, wo er Pflanzen, Säugetiere, Insekten, Vögel und Reptilien beobachten konnte, gefiel Mithridates. Genau wie Alexander interessierte er sich sehr für Naturgeschichte und experimentierte für sein Leben gern. Wenn er beispielsweise beim Feuerholzsammeln unter einem modrigen Baumstamm einen Salamander entdeckte, dann konnte das ein böses Ende für das Tier nehmen. Welcher Junge konnte schon der Versuchung widerstehen, den Volksglauben zu testen, von dem diese Amphibien umwoben sind? Waren sie wirklich unempfindlich gegen Feuer? Getrocknete »Salamander«-Häute wurden in der Antike für die Aufbewahrung von Wertgegenständen verwendet. Die Händler in Sinope präsentierten Tücher aus der grauen, fasrigen »Wolle«, welche die Riesensalamander im fernen Indien verloren (in Wirklichkeit handelte es sich um Asbest aus Tadschikistan). Die angebliche Unverwundbarkeit des Salamanders gegen Feuer mag einen jungen Mann, der es sich zum Ziel gesetzt hatte, selbst gegen Gifte immun und unbesiegbar zu werden, fasziniert haben. Mithridates erinnerte sich vielleicht an die Behauptung des Hauslehrers Alexanders des Großen, Salamander würden nicht nur durchs Feuer gehen, sondern könnten die Flammen sogar löschen. Sollte Mithridates wirklich mit einem Salamander im Feuer experimentiert haben, wies er vermutlich nach, dass Aristoteles sich geirrt hatte. Womöglich probierten die Jungen weitere Mythen über die Salamander aus, etwa dass sie zwar giftig seien, dass ihr Fleisch mit Honig vermischt jedoch ein starkes Aphrodisiakum ergebe.25
Die Gespräche am Lagerfeuer drehten sich mit Sicherheit immer wieder um Militärgeschichte und verschiedene Taktiken. Welche Mittel zum Beispiel waren am besten dafür geeignet, hölzerne Belagerungsmaschinen, Steinmauern und Palisaden vor Brandpfeilen oder brennendem Erdöl (Naphtha, wie man damals sagte) zu schützen? Einige Militärexperten rieten dazu, Mauern und Belagerungsmaschinen zum Schutz gegen Feuer mit saurem Wein (Essig) zu übergießen. Essig wirkt tatsächlich feuerhemmend. Aber Mithridates dachte an die Feldzüge Hannibals gegen die Römer und wies vermutlich darauf hin, dass mit Essig übergossene Steine oft Risse bekamen und auseinanderbrachen, wenn sie sich bei einem Brandangriff überhitzten. Alle waren sich einig, dass sich Alaun besser als feuerhemmendes Mittel für die Verteidigung eignete, falls man das seltene Mineral in ausreichender Menge aus Ägypten oder Syrien importieren konnte.
Außerdem werden Mithridates und seine Freunde über Geschichte und Philosophie diskutiert, epische Gedichte rezitiert und Bücher gelesen haben. Die neue Technik, mit der Vellum-Pergament (hergestellt aus Schaffellen) in Buchform gebunden werden konnte, war rund 50 Jahre zuvor in Pergamon erfunden worden und ersetzte die ägyptischen Papyrusrollen. Diese Technik gestattete es den jungen Adligen, haltbare, kompakte Ausgaben ihrer Lieblingswerke bei sich zu tragen. Pergamentbücher ermöglichten es Mithridates auch, seine wissenschaftlichen Forschungen während der Reisen und Feldzüge schriftlich zu dokumentieren.26
Mithridates wusste, dass Alexander der Große sein Exemplar von Homers Ilias mit Anmerkungen seines Lehrers Aristoteles geliebt hatte. Sogar auf Feldzügen bewahrte Alexander die Rolle neben seinem Dolch unter dem Bett auf. Nach dem Sieg über Dareios III. steckte Alexander sein Exemplar in einen wunderschön gearbeiteten Behälter, einen der kostbarsten Schätze des persischen Herrschers. Es ist durchaus möglich, dass der Prinz von Pontos es Alexander nachmachte und sein eigenes Homerexemplar in einem ähnlich edelsteinverzierten Futteral aufbewahrte, das er möglicherweise unter den Erbstücken Dareios’ I. gefunden hatte.27
In Homers Epos über den ersten »Weltkrieg« zwischen Europa und Asien fand Mithridates packende Schilderungen der Trojaner, die Anatolien gegen die griechischen Aggressoren verteidigten. Aus der Sicht des Mithridates war es nur recht und billig, gegen die Eindringlinge aus dem Westen Widerstand zu leisten, die unter dem Vorwand, die geraubte Frau eines Königs zu befreien, nach Asien gekommen waren, um zu plündern und zu rauben. Man stelle sich den Hohn des Mithridates vor, als er von seinen Hauslehrern in Sinope erfuhr, dass die ungehobelten Römer doch tatsächlich glaubten, sie würden von den großartigen Trojanern abstammen.
Wie seine persischen Vorfahren – auch sie hatten Homers Werk in Übersetzung gelesen – beurteilte er das Epos aus der Sicht des trojanischen Königs Priamos. Mithridates wusste, dass Xerxes eigens nach Troja gereist war (480 v. Chr.). Xerxes war die Steintreppe des höchsten Turmes von Priamos’ Zitadelle hinaufgestiegen und seine Magier hatten den Geistern der trojanischen Helden 1000 Rinder geopfert. Auch Alexander hatte Troja einen Besuch abgestattet und dem griechischen Helden Achilles ein Trankopfer dargebracht. Mithridates hoffte, dass er eines Tages selbst Troja sehen würde, um die überdimensionierten Bronzewaffen des trojanischen Helden Hektor und die Harfe zu bewundern, die Paris gespielt hatte. Einem königlichen Besucher mag es gestattet worden sein, den riesigen Bronzehelm des Ajax probeweise aufzusetzen oder gar die gewaltigen Knochen der alten Krieger zu berühren.
Wie Xerxes stellte sich Mithridates vor, wie König Priamos in seinem Turm saß und seinen Blick über die polyglotten Scharen der Verbündeten Persiens aus der Region um das Schwarze Meer und darüber hinaus schweifen ließ. Priamos’ Truppen sammelten sich auf der Ebene am Fuß des Berges Ida, am Grabhügel der Amazonenkönigin Myrine. Die Heimat der Verbündeten Trojas lag für die alten Griechen am Rand der Welt, weswegen sie sie prompt Barbaren nannten. Aber ihre Namen, die Homer aufzählte, hatten für Mithridates mit Sicherheit einen vertrauten Klang. Unter ihnen waren Kämpfer aus Paphlagonien, dem Land der Wildpferde, und skythische Bogenschützen auf ihren stämmigen Steppenponys, mit Köchern voller Giftpfeile. Hervorragende Bogenschützen kamen aus Pontos und sie kämpften an der Seite von bithynischen und lydischen Reitern in schimmernder Rüstung. Mystische Seher aus dem östlichen Hinterland mischten sich unter Krieger aus Karien, wo Auguren aus dem Vogelflug die Zukunft weissagten. Es kamen Bataillone aus Kappadokien mit seinen vielen Höhlen und aus dem an Silber reichen Mysien, selbst das ferne Armenien schickte Krieger zur Verteidigung Trojas. Schließlich ritt eine Schar Amazonen unter Führung der wunderschönen Kriegerkönigin Penthesilea heran. Sie sollte den mächtigen Achilles persönlich zum Kampf herausfordern. Als die Amazonen zu der Unzahl weit verstreuter Stämme, die sich auf der Ebene um Troja versammelt hatten, stießen, inmitten klirrender Schwerter und tänzelnder Pferde, »da erhob sich ein gewaltiges Getöse aus einer Myriade von Zungen«. Aber die Trojaner vereinten alle diese verstreuten Stämme für eine gemeinsame Sache: der Verteidigung Anatoliens.28
Mithridates’ eigenes Land kannte eine Fülle romantischer Sagen über die Amazonen. Ihre Grabhügel prägten das Hinterland. Man glaubte, dass die Amazonen viele anatolische Städte gegründet hätten, darunter Sinope, Amaseia, Amastris und Themiskyra in Pontos, sowie Ephesos, Mytilene auf Lesbos, Smyrna, Priene, Kyme, Pitane, Magnesia, Thyateira, Amazonion und Myrina. Die größten griechischen Sagenhelden hatten gegen Kriegerfrauen aus dem Osten gekämpft oder sich in sie verliebt. Selbst Kyros und Alexander waren willensstarken Amazonenköniginnen begegnet. Mithridates kannte alle diese Geschichten mit Sicherheit auswendig. Den alten Griechen waren derart unabhängige Frauen fremd, aber in der Welt des Mithridates waren Königinnen mächtige Herrscherinnen, wie seine Mutter und seine Schwester. Furchterregende Kriegerinnen waren keine Fantasiegeschöpfe, sondern real. Unter den kriegerischen Sarmaten, Alanen, Skythen, Sirginnen, Massageten und anderen Nomadenvölkern rund um das Schwarze Meer duellierten sich Männer und Frauen, bevor sie heirateten. Und die Frauen zogen gemeinsam mit den Männern in die Schlacht. Während Mithridates und seine Freunde weit nach Osten ritten, neckten sie sich vermutlich gegenseitig, was sie tun würden, wenn ihnen eine Gruppe junger, unabhängiger Reiterinnen begegnete. Womöglich hätten die Frauen nichts dagegen, sich zu einem Stamm Gleichberechtigter zusammenzuschließen, wie in der romantischen Geschichte von jungen skythischen Jägern und Amazonen, die sich vereinten und den Stamm der Sarmaten gründeten, wie von Herodot und Justin überliefert.29
Das legendäre Heer des Priamos wurde von der Streitmacht des Xerxes noch übertroffen. Der in Karien unter persischer Herrschaft geborene Herodot schildert anschaulich den farbenprächtigen Anblick des Millionenheeres, das Xerxes aus allen Winkeln des persischen Reiches ausgehoben hatte. In dem exotischen Prunk der auf der Ebene versammelten Menschenmenge präsentierte jedes Kontingent die markanten Wappen und Waffen seiner Heimat. Den Krummsäbel, die Lanze oder das Schwert in der Hand, mit Giftpfeilen im Köcher, der aus den gegerbten Häuten ihrer Gegner gefertigt wurde, bestiegen sie Sichelwagen, Schlachtrösser und Kamele.30 König Dareios hatte eine ähnlich vielfältige und riesige Schar aus Persern und Verbündeten gegen Alexander ins Feld geführt. Und wie König Priamos aus der Ilias und die großen persischen Herrscher rekrutierte auch Alexander Krieger vieler Völker aus abgelegenen, geheimnisvollen Orten wie Afghanistan und Indien. Wenn der junge Mithridates von diesen bunt zusammengewürfelten Heeren in der Sage und der Geschichte las, konnte er einen Vorgeschmack auf seine eigenen polyglotten Heerscharen der Zukunft erhalten, die er aus denselben wundersamen Ländern rekrutieren sollte, die einst Homer, Herodot und Xenophon beschrieben hatten.
Auf der Heimreise
Gelegentlich dringen Neuigkeiten von den Römern in das Hinterland und Mithridates baut sich sein eigenes Nachrichtennetz auf. Er weiß, dass römische Sklavenhändler und Steuereintreiber den Westen Anatoliens aussaugen und er hört Berichte über die Kollaboration seiner Mutter mit den Römern. Als seine Gruppe den Abstand zwischen sich und Sinope vergrößert, brauchen die Jungen ihre echte Identität nicht länger zu verbergen. Gerüchte vom Auftauchen des Mithridates kamen vermutlich auch seiner Mutter und ihren Anhängern zu Ohren, selbst den Römern in Pergamon. Wahrscheinlich ließ Mithridates bewusst manche Nachrichten seinen Anhängern in Sinope zukommen, um dem Versuch seiner Mutter zuvorzukommen, Gerüchte von seinem Tod zu verbreiten. Geschichten von seinen Heldentaten waren in aller Munde und ließen sein Ansehen steigen, während er selbst weiterhin unauffindbar war und ständig den Ort wechselte.
Die Menschen im Osten haben die beiden aufsehenerregenden Kometen und die antiken Prophezeiungen der Magier nicht vergessen. Männer und Frauen hantieren mit den kleinen Münzen, auf die Mithridates’ Name und der Komet geprägt waren, jedes Mal, wenn sie den Markt besuchen. Sie sind begeistert, wenn sie persönlich dem König im Exil begegnen oder aufregende Meldungen über ihn und seine Schar junger Ritter hören. Wahrscheinlich kursierten Geschichten von den Abenteuern des stattlichen jungen Königs, mit romantischen Details über seine Großtaten und Äußerungen. Ganz Pontos wartete auf den Tag, an dem Mithridates VI. Eupator, der Retter, aus dem Versteck kam und seine Herrschaft antrat, wie der göttliche Held Mithra, der mit einem blendenden Lichtblitz aus der dunklen Höhle hervortrat.
Wenn Mithridates über das nachdenkt, was er in all den Jahren im Exil gelernt hat, empfindet der Kronprinz (inzwischen 18 oder 20 Jahre alt) sicherlich einen gewissen Stolz, vermischt mit einer großen Ruhelosigkeit. Alexander bestieg, wie er weiß, im Alter von 20 Jahren den Thron Makedoniens. Die Zukunft seines Königreichs lässt Mithridates keine Ruhe; er hat es satt, über den Mord an seinem Vater und den Verrat der Königin zu grübeln: Ist sein jüngerer Bruder immer noch eine passive Marionette, die von seiner berechnenden Mutter gesteuert wird? Ist seine Schwester ebenfalls in ihren Bann gezogen worden? Seine Empörung über die Raubzüge der Römer in Anatolien ist groß, er sehnt sich geradezu unwiderstehlich danach, endlich zu handeln. Seine Freunde stimmen zu: Es ist an der Zeit, die Macht zu ergreifen, Zeit, die Übeltäter zu bestrafen, Zeit, die von den Göttern geschickten Orakelsprüche zu erfüllen.