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Die Erziehung eines jungen Helden
ОглавлениеSie setzten den Jungen auf den breiten Rücken eines nervösen Hengstes. Das Pferd drehte sich um sich selbst und bockte, dann galoppierte es mit dem kleinen Reiter davon, der in der einen Hand die Zügel und in der anderen einen kindgerechten Wurfspeer hielt. Der Prinz war erst zehn Jahre alt, aber groß und kräftig, und er ritt, seit er fünf war. Dieser Hengst jedoch kam frisch aus den Hochebenen von Kappadokien und war noch nicht zugeritten. Als das Pferd mit ihm davonraste, lief der Junge Gefahr, abgeworfen zu werden, aber irgendwie hielt er sich auf dem Tier, bekam es unter Kontrolle und schleuderte seinen Speer mit einer Wucht und einem Geschick, wie es für einen so jungen Mann überraschend war.
Im Palast hatten manche den Verdacht, jemand habe es darauf angelegt, dass der Junge einen tödlichen Reitunfall erlitt. Manche mögen Pegasus gedankt haben, dem Schutzwesen des Prinzen. Andere erinnerten sich vermutlich daran, dass der Gott Mithra einem neuen Herrscher seine Gunst immer dadurch zeigte, dass er ihm ein Pferdezeichen schickte. Einige griechische Pferdeknechte flüsterten vielleicht, böse Geister, sogenannte taraxippoi (»Pferdeschrecker«, die Geister toter Wagenlenker), hätten den Hengst erschreckt. Gewiss aber erinnerten sich alle an den jungen Alexander den Großen, der seine älteren Familienmitglieder beeindruckt hatte, indem er ein wildes Pferd zähmte.1
Abgesehen von Justins Vignette über den Beinahe-Unfall mit dem bockenden Pferd liegt Mithridates’ Kindheit größtenteils im Dunklen. Die Geschichtsschreiber des Altertums berichten über die außerordentliche Größe, Kraft und Zähigkeit des erwachsenen Königs, über seinen gargantuesken Appetit, seinen derben Humor und seine sexuellen Vorlieben. Alle sind sich darüber einig, dass er ein genialer Militärstratege, ein tapferer Kämpfer und ein begabter Toxikologe war und viele Sprachen beherrschte. Der hochgebildete Förderer von Musik und bildender Kunst liebte das Spektakel und die große Geste. Sehr gut belegt sind sein unversöhnlicher Hass auf Rom, sein Stolz auf seine persischgriechischen Ahnen und sein Bemühen, Alexander den Großen nachzuahmen. Seine hohen Ideale und seine charismatische, wenn auch oft paranoide Persönlichkeit sind gut verbürgt, und dasselbe gilt auch für die verblüffenden Widersprüche in seinem Charakter. Als König konnte Mithridates gnädig oder gnadenlos, ritterlich und doch grausam sein. Wenn wir die Lücken in den unvollständigen Berichten aus dem Altertum mit bekannten Fakten aus der Zeit und der Region füllen und aus unserem Wissen über den erwachsenen Mann schöpfen, können wir versuchen, ein Bild des Knaben zu zeichnen.2
Dieser Ansatz wirft neue Fragen über Mithridates auf: Was formte seinen Charakter und die Rolle, die er in der Öffentlichkeit spielte? Wer außer Alexander und Kyros dem Großen waren seine Vorbilder? Welche mythischen, historischen und zeitgenössischen Ereignisse prägten ihn? Woher stammte seine tiefsitzende Feindseligkeit gegen Rom? Was waren seine letztendlichen Ziele? Wodurch waren seine wissenschaftlichen Studien motiviert? Was war der Ursprung für seine Suche nach dem perfekten Gegengift?
Wenden wir uns zunächst Sinope zu, wo der junge Mithridates erzogen wurde, und betrachten wir danach einige Punkte, die seine Entwicklung wahrscheinlich beeinflusst haben.
Pontos – Mithridates’ Heimat
Mithridates’ Vater, Mithridates V. Euergetes (»der Wohltäter«), erbte um 150 v. Chr. das reiche Königreich Pontos. Er erweiterte dessen Einflussbereich, annektierte neue Gebiete und schloss durch geschickte Heiratspolitik günstige Eheverbindungen. Er und Königin Laodike hatten sieben Kinder. Traditionsgemäß nannte das Paar seine beiden Söhne Mithridates und seine beiden ältesten Töchter Laodike. Die Jungen erhielten im späteren Leben Beinamen, die sie unterschieden: »unseren« Mithridates nannte man später zusätzlich noch Dionysos und Eupator (»von einem guten Vater«). Sein jüngerer Bruder hieß Mithridates Chrestos (»der Tüchtige«). Die drei jüngeren Schwestern hießen Nyssa, Roxane und Stateira.
Um die Herrschaft über Kappadokien, das Königreich südlich von Pontos, zu erringen, verheiratete Mithridates Euergetes seine älteste Tochter Laodike mit dem Knabenkönig Ariarathes VI. Dieser war von seiner Mutter auf den Thron gebracht worden, nachdem sie seine fünf Brüder vergiftet hatte. Die Verwendung von Gift war damals ein beliebtes Instrument, um die Thronfolge aktiv zu beeinflussen. Kurz nachdem die selbstbewusste Laodike in Kappadokien eingetroffen war, ereilte zu ihrem Vorteil ihre boshafte Schwiegermutter der Tod – vermutlich aber war auch dieser kein natürlicher.3
Der beste Freund unseres Mithridates war der junge Dorylaos, der im Palast wie ein Bruder mit ihm aufgezogen wurde. Dorylaos war der verwaiste Neffe des Heerführers Dorylaos, des militärischen Beraters und besten Freunds von Mithridates’ Vater. Dorylaos’ Familie war mit dem Geschichtsschreiber Strabon verwandt, der 63 v. Chr., also im Todesjahr des Mithridates, in Amaseia in Pontos geboren wurde. Strabon schrieb viel und nostalgisch über sein Heimatland und die Länder in der Umgebung. Er beschreibt die eindrucksvollen Festungsanlagen, die herrlichen Gärten, die alten Pfirsich- und Olivenhaine, die hübschen Marmorgebäude, die schönen Tempel, den belebten Markt und das neue Gymnasion Sinopes. Auch vermittelt er einen lebendigen Eindruck davon, wie ein Junge aus der Aristokratie damals in Pontos erzogen wurde.
Ebenso erzählt er, wie die Mithridatischen Kriege seine eigene Familie auseinanderrissen. Seine Mutter war die Urenkelin des Heerführers Dorylaos, und Moaphernes (ein persischer Name), der Onkel seiner Mutter, war ein Freund des Mithridates. Strabons Großonkel hatten dem König gedient, und sein Großvater väterlicherseits war einer seiner Kommandeure gewesen und hatte die Befehlsgewalt über Festungen von Pontos innegehabt. Gegen Ende der Mithridatischen Kriege hatte er die Befestigungen an die Römer übergeben, aber nie die dafür versprochene Belohnung erhalten, was offenbar auch Strabon noch ärgerte.4
Strabon ist noch durch weitere Einzelheiten mit Mithridates verbunden: Seine Mutter schickte ihn auf eine Schule in Nysa bei Tralleis; in diesen beiden Städten war 88 v. Chr. die römische Bevölkerung umgebracht worden. Später studierte er bei Tyrannion, einem gelehrten Freund des Mithridates. Strabon erwähnt auch einen Verwandten namens Theophilos. Strabons moderner Biograf vermutete angesichts von dessen promithridatischen Verbindungen, dass er mit Theophilos von Paphlagonien verwandt sein könnte, den die Einwohner von Tralleis für die Ermordung der Römer engagiert hatten. Es ist eine faszinierende Vermutung, aber die Person Strabons, der in Pontos geboren ist und uns viel über die Welt des Mithridates zu erzählen hat, ist typisch für das multiethnische Erbe und die komplizierte Politik Anatoliens im ersten Jahrhundert v. Chr.5
Die Urbevölkerung Anatoliens, griechische Kolonisten und die Makedonen Alexanders hatten großen Einfluss auf Mithridates’ Heimat. Die griechische Kultur war in den großen Städten an der Küste der Ägäis stark vertreten, aber in den Hafenstädten an der Küste des Schwarzen Meers weit weniger ausgeprägt. Der große russische Historiker M. Rostovtzeff charakterisierte den griechischen Einfluss rund um das Schwarze Meer mit den Worten: »eine dünne griechische Schale um einen harten einheimischen Kern«.6 Im anatolischen Kernland und in Pontos war die persisch beeinflusste einheimische Kultur vorherrschend.7
Trotzdem war Mithridates’ Vater ein Philhellene, und Griechisch war die offizielle Sprache seines Hofes. Botschafter und Eunuchen, griechische Wanderphilosophen und Schwarzmeerpiraten, weitgereiste Händler und tätowierte Thraker, Schlangenbeschwörer, abweisende Magier, gelehrte Ärzte und Schamanen, Soldaten und Geschichtenerzähler aus einer Vielfalt von Ländern kamen im Palast in Sinope zusammen. In dieser von vielen Ethnien, Dialekten und Erfahrungen geprägten Umgebung konnte Mithridates seine Sprachbegabung schon in jungen Jahren üben. In dem dynamischen, kosmopolitischen Milieu mischten sich aufregende Geschichten über die persischen Helden Dareios und Kyros ganz natürlich mit den Taten Alexanders des Großen und Hannibals von Karthago.8
Die religiösen Überzeugungen und Praktiken in diesem Schmelztiegel waren eklektisch und überlappten sich. Der junge Mithridates verehrte die griechischen Götter mit griechischen Riten, betete aber auch alte anatolische und iranische Gottheiten an. Mithridates’ Vater verehrte Apollon und Zeus, war aber als König auch der Hohe Priester oder Magus der zoroastrischen Anhänger der iranischen Sonnengötter Ahuramazda und Mithra. Als Junge mag Mithridates also beobachtet haben, wie sein Vater die aufgehende Sonne begrüßte und die Magi nach Vorzeichen und Träumen befragte. Wenn der Vater auf Berggipfeln Feueropfer darbrachte, lernte der junge Mithridates die rituellen Pflichten, die er einst übernehmen sollte.
Die alte persische Religion ist bis heute geheimnisumwoben, aber die Historiker sind sich einig, dass die Wahrheit ihr höchstes Ideal war. Der freie Wille war das wichtigste moralische Konzept. Sonne und Licht wurden verehrt. Das Feuer war heilig. Achtung und Ehrfurcht vor dem Feuer waren angesichts der erdölreichen Wüsten von Mesopotamien und der Ölquellen auf der Krim und in Baku am Kaspischen Meer natürliche Impulse. In dieser Region entzündeten sich Fontänen flüchtigen Naphthas und Seen flüssigen Asphalts von selbst und brannten dann scheinbar ewig mit extrem heißen, blau-orangefarbenen Flammen, die sich mit Wasser nicht löschen ließen. Die heiligen, feurigen Substanzen, die in Mithridates’ Heimat häufig vorkamen, den Römern aber nicht vertraut waren, sollten sich für Mithridates’ Kriegführung als nützlich erweisen.
Herodot, Xenophon, Strabon und andere griechische Geschichtsschreiber haben die dualistische Weltanschauung der Perser beschrieben, nach der Licht und Wahrheit (altiranisch Arta) in einen ewigen Kampf mit den negativen Kräften der Dunkelheit und der Lüge (Druj) verstrickt sind. Unehrlichkeit war verachtenswert, und Verschuldung galt deshalb als moralisch beklagenswerter Zustand, weil verschuldete Menschen leicht betrogen und versklavt werden konnten. Schuldner und Sklaven konnten ihren freien Willen nicht ausüben und sich nicht aktiv für den Kampf gegen die Dunkelheit entscheiden. Unter anderen diese Überzeugungen sind eine Erklärung dafür, warum die Römer in der persisch beeinflussten Provinz Asia so extrem verhasst waren. Im Rahmen der raffgierigen und korrupten römischen Steuerpolitik verlangten Geldverleiher exorbitante Zinsen. Sie beschlagnahmten den gesamten Besitz säumiger Schuldner und verkauften sie selbst als Sklaven an römische Herren. Der römischen Steuern wegen mussten sich ganze Städte verschulden – man war gezwungen, Kunstwerke und andere Schätze, Land und sogar Menschen aus dem eigenen Volk zu verkaufen. Selbst die reichsten Könige mussten sich verschulden und wurden dadurch erpressbar. Widerstand gegen die Römer bedeutete in diesem Kontext, auf der Seite der Wahrheit und des Lichts zu kämpfen.9
Schulzeit
Wie Kyros oder Alexander wurde auch Mithridates von einer großen Zahl an Aufsichtspersonen, Hauslehrern und Trainern erzogen. Seine Spielkameraden waren Dorylaos, Gaius (der Sohn des Hermaios, der ebenfalls wie ein Bruder behandelt wurde) und andere Knaben aus der griechischen, persischen, kappadokischen und autochthonen anatolischen Aristokratie. Die Jungen wurden in griechischer und persischer Kultur ausgebildet und hatten ein sportliches Training zu absolvieren. Viele ihrer Lehrer waren in der paideia erfahrene Griechen, die ein breites Wissen in traditioneller hellenischer Literatur, klassischer Kunst, Musik, Mythologie und Geschichte besaßen und in Aristoteles, Platon, Thukydides, Xenophon und Herodot belesen waren. Die Knaben lernten die Ilias von Homer und andere griechische Gedichte und Theaterstücke auswendig. Von Alexander dem Großen weiß man, dass er gerne aus den Schauspielen von Euripides zitiert hat. Das Lieblingsdrama des Mithridates war vielleicht Die Perser, das Aischylos geschrieben hatte, als die Griechen 480 v. Chr. die Perser bei Salamis geschlagen hatten. Der Dramatiker schilderte in leuchtenden Farben die persischen Soldaten und ihre Waffen und zeichnete ein sympathisches Bild von dem Perserkönig, einem tapferen, edlen Despoten, der freilich den Freiheitswillen der Griechen tragisch unterschätzt hatte – ein Fehler, den Mithridates als König vermeiden sollte.10
Mithridates wurde von persischen und griechischen »Wurzelschneidern« auch in der Kräutermedizin ausgebildet. Die Magi kannten sich sehr gut mit Pflanzengiften und Gegengiften aus. Mithridates’ eigener Großvater, König Pharnakes, hatte eine Pflanze entdeckt, die pharnakeion genannt wurde und als Universalheilmittel galt. Aristoteles, der Hauslehrer Alexanders, hatte in seinem Schüler eine Liebe zu Naturgeschichte und Medizin geweckt. Auch Mithridates war fasziniert von Naturwissenschaft und Medizin, aber mit einer ganz eigenen Tendenz: Seine Leidenschaft galt den Giften. Er hatte die Dualität der pharmaka begriffen, der Wirkstoffe, die aus potenten pflanzlichen und aus mineralischen und tierischen Substanzen gewonnen werden konnten. Paradoxerweise konnte nämlich derselbe Stoff tödlich oder heilend wirken. Alles hing von der Dosis ab. Für jedes Gift hielt die Natur ein Gegenmittel bereit, und manche Gifte konnten sogar durch andere neutralisiert werden.11
Ein Geschichtsschreiber des Altertums, Memnon, erklärte, Mithridates sei von Kindheit an ein Seriengiftmörder gewesen.12 Dies ist unwahrscheinlich, auch wenn als gesichert gelten kann, dass der König während seiner langen Herrschaft auf jeden Fall Gift als Waffe verwendete. Das von Memnon kolportierte Gerücht beruhte wahrscheinlich darauf, dass schon der junge Mithridates auf der Grundlage mit Giften experimentierte, dass sie heilend oder tödlich wirken konnten. Vermutlich begann er schon als Knabe, leicht erhältliche Gifte zu erforschen. Pontos war mit einem Überfluss an tödlichen Naturstoffen gesegnet. Schon Kinder lernten, weit verbreitete Giftpflanzen wie Eisenhut, Nieswurz, Tollkirsche, Eibe, Bilsenkraut oder Schierling zu erkennen. Ein angehender Toxikologe konnte giftige Spinnen, Wespen und Schlangen fangen und die Gifte an Kleintieren ausprobieren.
Doch der Prinz hatte auch harmlosere Hobbys wie das Sammeln schöner Achate, Kristalle und Minerale. Im Erwachsenenalter schrieb er Abhandlungen über Edelsteine und Bernstein, und seine berühmte Sammlung exquisit geschliffener Achatkelche und Ringe mit Kameen fiel nach seinem Tod verschwenderischen Römern in die Hand und gelangte später in die Sammlungen europäischer Könige.
In faszinierendem Detailreichtum schildern die griechischen Geschichtsschreiber Herodot und Xenophon, deren Werke sicherlich auch Mithridates las, die Erziehung persischer Prinzen. Beide Autoren hatten weite Reisen im alten Perserreich unternommen und bewunderten genau wie Aischylos bestimmte persische Gebräuche und Werte wie Gerechtigkeit, Dankbarkeit, Verantwortungsbewusstsein und Selbstbeherrschung. All diese Werte wurden schon den Kindern beigebracht. Wir können sicher sein, dass Mithridates von seinen Verwandten viele Geschichten über die Gründung des Königreichs und über seine ruhmreichen Vorfahren gehört hat. Aber er konnte auch die farbigen Berichte von Herodot und Xenophon lesen, um zu lernen, wie man ein guter griechischpersischer Monarch wurde.
Xenophons eigene Lebensgeschichte war fesselnd. Er hatte 10 000 griechische Söldner kommandiert, die um 400 v. Chr. in Mesopotamien für die verlorene Sache von Kyros dem Jüngeren, einem persischen Thronprätendenten, kämpften. Sein Buch Anabasis (Der Zug der Zehntausend) erzählt von dem langen, entbehrungsreichen Rückmarsch über Pontos in die Heimat. Sein Lager schlug er mit seinem riesigen Heer direkt unter den Mauern von Sinope auf, und die Heimatstadt des Mithridates versorgte seine Soldaten mit Essen und allem anderen Nötigen.13
Xenophons Kyrupädie (Die Erziehung des Kyros), ein historischer Roman, ist voll von mitreißenden Geschichten über die Jugend, die militärische Laufbahn und die Ritterlichkeit Kyros des Älteren, der um 550 v. Chr. das persische Reich begründete. Xenophon erzählt, wie Kyros ein guter, erleuchteter König wurde, der sich der Wahrheit und dem Licht verpflichtet sah und von Parthien bis zum Schwarzen Meer eine Vielzahl unabhängiger Stämme mit deren Zustimmung regierte. Kyros’ Wahrheitsliebe war gepaart mit Gerechtigkeitssinn, Barmherzigkeit und Großzügigkeit. Laut Xenophon beruhte das Geheimnis der Macht des großen Herrschers einerseits darin, Angst und Schrecken verbreiten zu können, andererseits aber auch darin, die Treue und Zuneigung seiner Anhänger zu gewinnen – für Mithridates sollte diese Bemerkung von Interesse sein. Die Perser waren der Ansicht, dass der optimale König für sein Volk einem willensstarken, wohlwollenden Vater gleichkommen musste.14
Xenophon berichtet auch, dass Kyros, ein hervorragender Wagenlenker, für den archaischen Streitwagen ein neues Design entwickelte: Er verlängerte und verstärkte seine Achse, stattete ihn mit einem hohen bronzegepanzerten Turm aus und schützte den Wagenlenker und die vier Pferde durch Kettenpanzer. Schließlich versah er die Räder des Wagens noch mit einer teuflischen Neuerung: scharfen, gebogenen, etwa einen Meter langen Klingen. Durch Kyros’ Neuerungen wurde der Streitwagen von einem altmodischen, zerbrechlichen Gefährt zu einer monströsen Maschine, die ganze Reihen auf einmal niedermähen konnte. Einige der packendsten Passagen bei Xenophon schildern die schreckliche Wirkung von Kyros’ 300 Sichelstreitwagen.15
Mithridates selbst wurde ein Meister im Wagenrennen, einem gefährlichen Sport, den Kyros eingeführt hatte. Der kleine Prinz begann wahrscheinlich schon im Alter von acht oder neun Jahren Streitwagen zu fahren. Ein Gespann von zwei oder vier Pferden bis zu zwölf Runden lang auf einer überfüllten Bahn mit Haarnadelkurven zu lenken, erforderte viel Kraft und Geschick. Als Erwachsener gewann Mithridates Wagenrennen an vielen Orten in der Ägäis und in Anatolien. Dank seiner Größe und seiner Körperkraft und dank seines Mutes trieb er diesen Sport zu ungeahnten Extremen. Kyros hatte ein Gespann von acht nebeneinander laufenden Pferden gefahren, doch Mithridates übertraf ihn, indem er ganze Zehnergespanne lenkte. Je mehr Pferde, desto mehr Nervenkitzel – und Unfälle. Dies wiederum inspirierte den jungen römischen Kaiser Nero später zu einem Gedicht, in dem er die Hybris des Mithridates kritisierte (zur Zeit Neros war die Zahl von Mithridates’ Gespann sogar auf sechzehn Tiere aufgestockt worden). Später nahm Nero an den Olympischen Spielen in Griechenland teil und versuchte, es Mithridates als Wagenlenker gleichzutun. Bei einem Unfall wäre er dort fast ums Leben gekommen.16
Seit Kyros’ Zeit wurden dem Nachwuchs der persischen Aristokratie die drei Grundpfeiler der Adelserziehung beigebracht: Reiten, Schießen und die Wahrheitspflege.17 Ein Junge begann zu reiten, sobald er laufen konnte. Wie gezeigt, versuchten wahrscheinlich Verschwörer bei Hofe einen Reitunfall zu arrangieren, um den rechtmäßigen Thronerben von Pontos aus dem Weg zu räumen. Es gab auch Versuche, ihn zu vergiften. Viele, auch Mithridates selbst, glaubten, seine Mutter, Königin Laodike, sei an diesen Mordversuchen beteiligt gewesen. Es gibt keinen Grund, an diesem Verdacht zu zweifeln, denn solche Mordpläne waren in der verräterischen Welt des Mithridates gang und gäbe.
Vielleicht gerade wegen der temperamentvollen, ja gefährlichen Pferde, die Mithridates erhielt, wurde er zu einem hervorragenden Reiter von legendärer Ausdauer. Schießen zu lernen bedeutete, dass man hervorragend mit Pfeil und Bogen umgehen und auf dem galoppierenden Pferd Wurfspeere schleudern konnte – unverzichtbare Fertigkeiten für Jagd und Krieg. Mithridates und seine Freunde mögen ein Leben geführt haben, als wären sie Rekruten, die geschliffen wurden: Sie schoben abwechselnd Wache auf der Zitadelle von Sinope, übten den Nahkampf Mann gegen Mann mit der persischen harpe sowie mit Säbel und Speer und ernährten sich spartanisch von Brot, Brunnenkresse und Wasser. Sie unternahmen mit ihren Betreuern kleine Ausflüge in die Umgebung, wo sie Kleintiere jagten. Im Wildpark von Mithridates’ Vater übten sie die Jagd auf Rothirsche, alte Löwen und vielleicht auch auf Eber und Bären. Mithridates liebte die Jagd und wartete mit seinen Gefährten sehnsüchtig auf den Tag, an dem er in die Berge reiten und wie Kyros, Xerxes, Dareios und Alexander richtig wilde Tiere jagen würde. Ein gründliches Training in Sport und militärischer Kampfkunst entsprach griechischer Tradition, und den Quellen zufolge war Mithridates ein hervorragender Ringer, Faustkämpfer und Läufer und tat sich auch im Kampf mit Dolch und Schwert sowie im traditionellen Nahkampf der Hopliten mit Speer und Schild hervor.18
Als angehender Oberbefehlshaber der Armee von Pontos musste Mithridates lernen, zu regieren und den Reichtum und die Unabhängigkeit seines Königreichs zu schützen. Sein Vater erwartete von seinem Sohn, dass er die Geschichte und Geografie, die Wirtschaft und die Handelsbeziehungen sowie die Rohstoffe, Städte, Straßen und Festungen von Pontos und seinen Nachbarländern kannte.19 Mithridates würde die außenpolitischen Probleme seines Vaters erben, darunter die Konflikte mit den mächtigen skythischen Nomaden in den Steppen nördlich des Schwarzen Meeres. Das Gleichgewicht zwischen den demokratischen griechischen Städten und den alten Monarchien des Ostens wurde durch geschickte Diplomatie aufrechterhalten. Die komplexen Verhandlungen und wechselnden Bündnisse sind in den fragmentarischen Berichten der damaligen Zeit nur schwer nachzuvollziehen und in der modernen Geschichtswissenschaft Gegenstand heftiger Debatten. Das zentrale Problem für einen anatolischen Monarchen war jedoch der Umgang mit der wachsenden Macht Roms und den imperialen Vorhaben dieser Macht in den Ländern östlich des Mittelmeers.
Im letzten Punischen Krieg hatte der Vater des Mithridates den Römern geholfen und ihnen Truppen geschickt, die dann an dem endgültigen Sieg über Karthago im Jahr 146 v. Chr. beteiligt waren. Als Mithridates ein Kind war, hatte sich sein Vater erneut mit Rom verbündet und ihm geholfen, einen Volksaufstand in Pergamon zu unterdrücken. Der römische Senat hatte ihn offiziell zum »Freund des römischen Volkes« erklärt, was Pontos zu einem Klientelstaat machte, den Rom zu kontrollieren glaubte.20
Die von den alten Kulturen Griechenland und Persien geprägten Länder reagierten auf die ehrgeizigen Pläne und die rohe Gewalt des römischen Emporkömmlings mit einer Mischung aus Verachtung und Furcht. Rom hatte sich in der Geschichte schon häufig plötzlich gegen seine Verbündeten gewandt. Als Kind hatte Mithridates die Namen der wichtigen Familien in Rom kennengelernt: Julier, Cornelier, Licinier, Aquillier und andere. Er kannte die Geschichte und die Mythen der Stadt. In späteren Reden machte er sich über die römische Legende lustig, der zufolge eine Wölfin die Stadtgründer Romulus und Remus gesäugt hatte, und zeigte sich gut informiert, was die römischen Eroberungen und Kriege betraf. Er war sich der großen Macht Roms von klein auf bewusst. Verhandlungen mit den Römern waren einem Hochseilakt über dem Abgrund vergleichbar: Man konnte leicht abstürzen und nicht ausweichen. Es gab nur zwei Möglichkeiten, die beide riskant waren: Entweder man wurde ein Freund Roms oder man ging voll auf Konfrontation. Für einen Retterprinzen, der zu mythischem Ruhm bestimmt war, war nur eine von beiden ehrenhaft.
Aber auch im eigenen Land drohten Gefahren. Sowohl intern als auch zwischen den hellenistischen Monarchien wurden ständig Kämpfe um Macht, Territorien und Unabhängigkeit ausgetragen. Die Grenzen waren instabil, und dasselbe galt auch für die Herrscherhäuser, die von den alten persischen und makedonischen Reichen übrig geblieben waren. Die Königshöfe brodelten von Verschwörung, Intrige, Parteibildung, Verrat und Mord. Schon als Kind in Sinope begriff Mithridates, dass seine hinterhältigsten Feinde vielleicht seine Freunde und seine Familie waren; selbst seine Mutter war verdächtig.
Pontos war ein reiches Land. Seine Flotte beherrschte das Schwarze Meer. Seit Menschengedenken durchpflügten seine schnellen Piratenschiffe die Gewässer. Große Piratenflotten machten viel Geld, indem sie den wuchernden römischen Sklavenmarkt auf der Insel Delos belieferten und jeden Tag Tausende neuer Gefangener abluden. Während Mithridates’ Kindheit wurde bestimmt viel über Piraterie gesprochen, und er lernte auf den Banketten seines Vaters vermutlich auch Piratenkapitäne kennen. Die Seeräuber raubten mit zunehmender Dreistigkeit Schiffe und ganze Küstenstreifen aus, und sie entführten sogar römische Adlige, um Lösegeld zu erpressen. Mehr als 1000 Piratenschiffe kreuzten im ersten Jahrhundert v. Chr. im Schwarzen Meer und in der Ägäis. Sie betrachteten sich als souveränen Staat auf hoher See. Pontos profitierte schon seit langem von lukrativen Vereinbarungen mit diesen Piraten. Es bot ihnen sichere Häfen, wo sie ihre Beute verkaufen konnten. Auch rekrutierte Dorylaos der Ältere, der Militärberater von Mithridates’ Vater, in der Ägäis und im Schwarzen Meer Söldner und Piraten für Pontos. Später sollten große Piratenflotten in den Kriegen gegen Rom zu den stärksten Verbündeten seines Sohnes zählen. Die gewaltigen finanziellen Mittel, über die Mithridates sein ganzes Leben lang verfügte, sind ein ewiges Rätsel für die Historiker gewesen. Einkünfte aus der Piraterie dürften sie zum Teil erklären.21
Eine weitere Quelle des pontischen Reichtums waren die großen Thunfisch- und Makrelenschwärme im Schwarzen Meer. Tonnenweise wurde jedes Jahr gesalzener Fisch in den Mittelmeerraum exportiert. Auch gediehen an der milden pontischen Küste Pfirsiche, Aprikosen, Feigen, Nüsse, Oliven und Getreide, bewässert von Flüssen aus den großen Gebirgszügen des Reiches. Ein System von Straßen verband die Handelshäfen Sinope und Amisos mit Amaseia und anderen Städten im Landesinneren. Dichte Wälder lieferten Tannenholz für den Schiffbau und Walnuss- und Ahornholz für die Möbelherstellung sowie Wildfleisch und pharmaka. Biber waren zum Beispiel eine beliebte pontische Handelsware. Biberhoden wurden als Mittel gegen Fieber und zur Stärkung des Immunsystems und der Potenz eingesetzt. Bibergeil aus den Moschusdrüsen des Bibers enthält Salicylsäure, den Grundstoff des Aspirins, der in der Weidenrinde, dem Hauptnahrungsmittel des Bibers, enthalten ist. Pontos besaß außerdem große Vorkommen an Gold, Silber, Kupfer, Eisen, Steinsalz, Quecksilber, Schwefel und vielen anderen seltenen Mineralien, die als Pigmente oder Heilmittel – oder als Gifte – benutzt werden konnten.22
Das Schwarzmeerreich hatte alte Verbindungen nach Pantikapaion (heute Kertsch in der Ukraine), einer Stadt und Festung auf der Chersonesos (Krim), die den Kimmerischen Bosporos (die Straße von Kertsch) beherrschte, der das stürmische und tiefe Schwarze Meer mit dem flachen Asowschen Meer verbindet. Auf der anderen Seite der Meerenge erhob sich auf der Halbinsel Taman die Zitadelle von Phanagoreia. Die beiden reichen Hafenstädte kontrollierten den wichtigen Salzfisch- und Getreidehandel zwischen der skythischen Steppe und den Märkten des Mittelmeers. Heute graben Archäologen (und Grabräuber) in dieser Region viele Kurgane, Grabhügel, aus der Zeit des Mithridates aus. Der herrliche Goldschmuck, die lebensechten Totenmasken aus Gold, die Waffen, feinen Töpferwaren und exquisit geschliffenen Edelsteine lassen auf den Reichtum dieser Gebiete schließen, die später Teil von Mithridates’ erweitertem Königreich wurden.23
Brodelnde Teiche schwarzen Öls, blubbernde Teervulkane und Fontänen ewig brennenden Naphthas auf beiden Seiten des Kimmerischen Bosporos weckten von alters her Angst und Ehrfurcht. Immer wieder wurde die Region von Erdbeben erschüttert. Der Knabe Mithridates hörte vielleicht den Geschichtsschreiber Theopomp von Sinope erzählen, wie sich die Erde auf der Halbinsel Taman plötzlich auftat und die Skelette von Ungeheuern und Riesen (tatsächlich die Fossilien von Mastodonten, heute ausgestorbenen Rüsseltieren) ausstieß. Statt die heiligen Überreste in einem Tempel auszustellen, wie es die kulturbeflissenen Griechen getan hätten, warfen die Nomaden die furchterregenden Knochen, so Theopomp, einfach ins Asowsche Meer. Der junge Prinz aus Sinope brannte womöglich darauf, die aufregenden Sehenswürdigkeiten, die seltsamen Menschen und die faszinierende Landschaft nördlich des Schwarzen Meers mit ihren ungeahnten Möglichkeiten selbst kennenzulernen.24
Jedes Kind, das in Sinope aufwuchs, kannte die Anekdoten über den berühmtesten Einwohner der Stadt, Diogenes, den Kyniker (geb. 403 v. Chr.). Der exzentrische Philosoph, der angeblich in einem großen Weinfass wohnte und alle Körperfunktionen in der Öffentlichkeit verrichtete, wurde aus Sinope verbannt, aber seine unorthodoxen Ideen waren nicht ohne Folgen. Mithridates kannte die berühmte Geschichte von Diogenes’ Begegnung mit Alexander, der die Lebensweise des Philosophen bewunderte. Diogenes lehrte, dass Wissen aus entschlossenem praktischem Handeln entstehe. Er empfahl, mit wenigen Habseligkeiten ein Wanderleben zu führen, sich von den Früchten der Erde zu ernähren und seinen Körper einem rigorosen Ausdauertraining zu unterziehen.
War der junge Mithridates von ihm beeinflusst? Er wuchs in persisch-makedonischem Luxus auf, mit kunstvoll geschnitzten Sofas, Thronen unter goldenen Baldachinen, üppigen Banketten, teuren Wandteppichen und Kunstwerken, Dienern, die ihm vorlasen und sich Zerstreuungen für ihn ausdachten, mit silbernen Schuhnägeln, nach Myrrhe duftenden Bädern und vielleicht sogar aus Ägypten importiertem goldgelbem Sand für seinen Spielplatz. Als König erwarb er unermesslichen Reichtum und genoss ihn. Doch er wusste, dass die größten Militärführer, Kyros, Alexander und Hannibal, zähe Krieger waren, die das verweichlichte Leben bei Hofe verabscheuten. Genau wie sie pflegte auch er als junger Mann seine Rüstung, seine Waffen und seine Pferde selbst und genoss das Leben im Freien und die Strapazen, die zu seiner Erziehung gehörten. Wie wir sehen werden, verzichtete er sogar jahrelang auf jeglichen Luxus und lebte mehrere Jahre ganz ähnlich wie Diogenes, schlief unter dem freien Sternenhimmel, streifte durch die Berge und entwickelte sein eigenes Programm zur körperlichen Ertüchtigung.25
Bevor er jedoch zu seinem großen Abenteuer aufbrach, wurde er in Geschichte und Geografie ausgebildet. Sinope hatte Handelsbeziehungen mit griechischen und nichtgriechischen Siedlungen rund um das Schwarze Meer. Jenseits der Donaumündung beherrschten halbnomadische Kriegerstämme Moesien und Thrakien. Das benachbarte Bithynien war das traditionelle Tor zwischen Asien und Europa, und im Landesinneren lagen Galatien (das im 3. Jahrhundert v. Chr. von Galliern besiedelt worden war) und das wilde Paphlagonien. Weit im Süden erhob sich das schneebedeckte Taurusgebirge von Kappadokien (persisch Katpatuka, »Land der guten Pferde«). Im Osten lag das reiche Bergkönigtum Armenien, das nach einem von Jasons Argonauten benannt war. Hannibal hatte dessen stark befestigte Hauptstadt Artaxata (heute Artashat, »Freude der Wahrheit«) geplant, nachdem er mit der Niederlage bei Zama 202 v. Chr. den Zweiten Punischen Krieg verloren hatte. Auch er hatte einmal in Mithridates’ Heimat gelebt.26
Hannibal in Anatolien
Der junge Mithridates lernte Hannibals Abenteuer wahrscheinlich bis ins letzte Detail auswendig und war bestimmt gebannt von den Berichten über die Siege und Niederlagen des Karthagers in dessen endlosen Kriegen gegen Rom. Mithridates wusste, dass Hannibal als kleiner Junge der Legende nach einen heiligen Eid geschworen hatte, den Kampf gegen die verhassten Römer niemals aufzugeben. Und er hatte seinen Schwur gehalten, bis er 182 v. Chr. im Alter von 70 Jahren, etwa 50 Jahre vor der Geburt des Mithridates, gestorben war.
Im Jahr 195 v. Chr. wurde Hannibal aus Karthago verbannt. Er verbrachte den Rest seines Lebens in Anatolien und beriet andere Feinde Roms. König Antiochos III. von Syrien brachte er dazu, Rom den Krieg zu erklären und in Griechenland einzumarschieren, doch Antiochos wurde 191 bei den Thermopylen vernichtend geschlagen. Diese Schlacht hatte eine besondere Bedeutung für Mithridates, weil damals der Geist des syrischen Offiziers und der wahnsinnig gewordene römische Heerführer prophezeiten, dass sich im Osten ein Retterkönig erheben werde, um Rom zu bestrafen.
Nach der zweiten, entscheidenden Niederlage des Antiochos bei Magnesia (südlich von Pergamon) im Jahr 189 wurde Hannibal von König Prusias in Bithynien aufgenommen. Mit dem neuen Verbündeten setzte Hannibal seinen Krieg gegen die Römer und ihre Klientelkönige fort. In einer Seeschlacht gegen König Eumenes II. von Pergamon war Hannibals Flotte zahlenmäßig unterlegen, gewann aber dank einer Methode, an der der junge Mithridates mit seinem Interesse für Giftschlangen und listenreiche Kriegführung sicher seine Freude hatte. Hannibal ließ Seeleute an der Küste Giftschlangen sammeln und in Tonkrüge stecken. Dann ließ er die Schlangen mit Katapulten auf Eumenes’ Schiffe schießen. Er gewann die Schlacht.
Die letzten Stunden des alten Feldherrn waren von Dramatik und letzter Konsequenz geprägt. Am Ende verriet König Prusias Hannibal an die Römer. Der alte Karthager, der bei seiner legendären winterlichen Alpenüberquerung ein Auge verloren hatte, zog sich auf seine Burg in Bithynien zurück, die auf zwei Seiten mit geheimen Ausgängen versehen war. Trotzdem war eine Flucht nicht mehr möglich, und es drohte ihm ein schrecklicher Tod von römischer Hand. Also öffnete er ein geheimes Fach in dem Ring, den er stets trug und schluckte das darin enthaltene Gift. Mit dieser letzten trotzigen Tat ging der erste große Feind Roms in das Reich der Legenden ein.27
Die Giftgärten des verrückten Königs Attalos
Auch jüngere Kämpfe gegen Rom waren sicher eine Inspiration für Mithridates. Der Aufstand mehrerer anatolischer Städte gegen die römische Herrschaft während seiner Kindheit war eine schlimme Erinnerung an die Macht der Römer. Diese Rebellion wurde von dem jungen idealistischen Aristonikos angeführt, einem angeblichen Sohn König Eumenes’ II. von Pergamon und der Tochter eines Harfenspielers aus Ephesos. Aristonikos war nach dieser Version der jüngere Stiefbruder von Attalos III., der nach Attalos II.28 den Thron bestiegen hatte. Attalos war exzentrisch, paranoid und menschenscheu. Er galt als verrückt, weil er die Wissenschaft der Regierungstätigkeit vorzog, und er hatte keine Erben. Als Kind hörte Mithridates Gerüchte, dass Attalos Feinde und Verwandte vergiftet habe. Attalos zog sich aus dem Leben bei Hofe zurück, ließ sich lange zerzauste Haare und einen Bart wachsen, legte seine Krone ab und trug einfache Kleidung. Er verbrachte seine Zeit mit der Pflege seiner Gärten und botanischen, pharmakologischen und metallurgischen Studien. Im Jahr 133 v. Chr. starb er plötzlich an einem Sonnenstich.
Aber war der König wirklich so verrückt, wie er von Justin und anderen Geschichtsschreibern dargestellt wird? Eine neue Sicht der Dinge wurde 1988 von Kent Rigsby vertreten. Rigsbys Theorie zufolge wurde das verzerrte Bild des Königs als Mörder und Verrückter von parteiischen Zeitgenossen gezeichnet, die ihm wegen seiner Nachfolgeregelung die geistige Gesundheit absprechen wollten. Rigsby wies darauf hin, dass wissenschaftliche und philosophische Tätigkeiten für die hochkultivierten hellenistischen Monarchen typisch waren, und vertrat die Ansicht, dass »Attalos in Wirklichkeit ein Wissenschaftler und Gelehrter war«. Der König war vielleicht exzentrisch, widmete sich jedoch durchaus ernsthaften wissenschaftlichen Projekten. Pergamon mit seiner großen Bibliothek, seiner aktiven wissenschaftlichen Gemeinschaft und dem Tempel des Gottes der Heilkunst Asklepios war damals ein Zentrum medizinischer Gelehrsamkeit.
Doch der wichtigste Aspekt der Forschungsprojekte des Attalos wurde von Rigsby und anderen Historikern übersehen. Justins wichtigster Beleg für die Verrücktheit des Königs waren die Besessenheit, mit der er »in seinem Garten grub und säte«, und seine bizarre Gewohnheit, »Mixturen gesunder und heilsamer Pflanzen mit den Säften von Giftpflanzen zu mischen« und diese als »besondere Geschenke seinen Freunden« zu überreichen. Plutarch berichtet, dass Attalos giftige Pflanzen wie »Bilsenkraut, Nieswurz, Schierling, Eisenhut und Tollkirsche in seinen königlichen Gärten anbaute und ein Experte für ihre Säfte und Früchte wurde«. Laut Galen, dem gefeierten Arzt aus Pergamon (geb. 129 n. Chr.), experimentierte Attalos auch mit Heilmitteln für das Gift von Spinnen, Skorpionen, giftigen Wasserschnecken und Schlangen. Galen lobte den König, weil er seine Mixturen nur an verurteilten Verbrechern erprobte.29
Kann es ein Zufall sein, dass sich Mithridates schon als Jugendlicher der gleichen Art von Tätigkeiten und Experimenten widmete wie der verrückte Attalos? Wir wissen, dass er sein berühmtes »universales Gegengift«, das nach ihm so genannte Mithridatium, erfand, indem er kleine Dosen tödlicher Gifte mit Gegenmitteln vermischte. Der König, der als der erste experimentelle Toxikologe bleibenden Nachruhm erwarb, könnte in jungen Jahren durchaus von der Entdeckung eines Allheilmittels durch seinen Großvater Pharnakes und durch die ungewöhnlichen Studien, die erstmals von dem »verrückten« König Attalos durchgeführt wurden, inspiriert worden sein.
Attalos’ plötzlicher Tod im Jahr 133 v. Chr., etwa ein Jahr vor der Geburt des Mithridates, löste eine Kette von Ereignissen aus, die letztlich zu Mithridates’ Kriegen gegen Rom führte. Attalos’ Testament war ein Schock für die gesamte Region: Er vermachte sein Königreich dem römischen Volk. Dieses unerwartete Erbe wurde der Grundstein für die riesige und lukrative »Provinz Asia«.
War das Testament des Attalos eine römische Fälschung, wie Mithridates später behaupten sollte? Welcher Herrscher würde bei klarem Verstand sein Reich den Römern vermachen? Attalos’ Stiefbruder Aristonikos organisierte sofort einen Volksaufstand, erhob selbst Anspruch auf den Thron und versuchte, die Römer an der Annexion des Königreichs zu hindern.
Aristonikos und die »Bürger der Sonne«
Aristonikos schlug sein Hauptquartier in Leukai auf, einer von einem persischen Rebellenführer im 4. Jahrhundert v. Chr. gegründeten Stadt. Attalos’ Flotte stellte sich auf die Seite der Aufständischen. Prorömische Beamte in Pergamon versuchten, die Bevölkerung zu gewinnen, indem sie Einwanderern, Söldnern und Freigelassenen das Bürgerrecht verliehen, aber zahlreiche Städte, darunter Kolophon, Myndos, Tralleis, Nysa, Phokaia, Thyateira, Stratonikeia in Mysien und Apollonia sowie die Insel Samos, schlossen sich Aristonikos an. Auch der stoische Philosoph Blossius, ein emigrierter Römer und überzeugter Anhänger demokratischer Grundsätze, unterstützte den Aufstand.30
Die Stadt Ephesos war damals mit Rom verbündet und entsandte eine Flotte gegen Aristonikos. Dieser verlor die Seeschlacht bei Kyme und floh weit ins Landesinnere. Alles schien verloren. Tatsächlich jedoch wurde seine Geschichte, insbesondere für den jungen Mithridates, nun erst richtig interessant. Der Rebellenführer entkam seinen Verfolgern und zog sich auf seinen Stützpunkt im persisch beeinflussten Hochland Zentralanatoliens zurück. Hier gründete er den utopischen Stadtstaat Heliopolis, »Stadt der Sonne«. Die Bürger von Heliopolis waren frei und gleich, und Aristonikos versprach die Befreiung aller Sklaven, einen allgemeinen Schuldenerlass und die Beseitigung aller Missstände, die mit den Römern in Verbindung gebracht wurden. Er stellte ein großes Heer von Heliopoliten, »Bürgern der Sonne«, auf, das aus alteingesessenen Anatoliern, Nachkommen von Alexanders Makedonen, Armen und Reichen, Schuldnern und Sklaven bestand. In seinem neuen Stützpunkt ließ er Münzen prägen, durch die er seinen Anspruch auf den Thron von Pergamon bekräftigte. All diese Entwicklungen waren ausgesprochen alarmierend für die Römer, die ohnehin schon im eigenen Land von Sklavenrevolten und von Aufständen der italischen Völker geplagt waren.
Die meisten modernen romfreundlich gesinnten Historiker spielen den revolutionären Charakter von Aristonikos’ Aufstand herunter und meinen, sein Motiv für die Mobilisierung von »Mittellosen« und Sklaven nach der Niederlage in der Seeschlacht bei Kyme sei reiner Verzweiflung entsprungen. Sie weisen darauf hin, dass er ein monarchisches Regierungssystem verteidigte. In Anatolien jedoch war die unabhängige »demokratische Monarchie« ein althergebrachtes, populäres und romfeindliches Konzept. Die Ideologie und der Krieg des Aristonikos, der erste anatolische Volksaufstand gegen die Herrschaft der Römer, können Mithridates sehr wohl als Vorbild für seine eigenen Kriege gegen Rom, für die Art, wie er um Anhänger warb, und für seine Politik des Schuldenerlasses und der Sklavenbefreiung gedient haben. Die Geschichte des jungen Rebellen aus Anatolien (dem Land der aufgehenden Sonne), der mit denkbar geringen Siegeschancen gegen die verräterischen Römer kämpft, dürfte Mithridates, der bei der Niederschlagung des Aufstands noch ein Kind war, sehr gefallen haben. Mithridates’ eigene Kämpfe gegen Rom können durchaus in der Tradition von Aristonikos’ Aufstand und Hannibals Kindheitsschwur gesehen werden. Und wie noch deutlich werden wird, spielte er in seinen Reden tatsächlich häufig auf den Aufstand des Aristonikos an.31
Die Namen Heliopolis und Heliopoliten, die Aristonikos für seine Stadt und seine Anhänger wählte, werden von der modernen Geschichtsschreibung kaum kommentiert, und auch die römischen Zeitgenossen verstanden offenbar ihre Bedeutung nicht. Im griechisch-persischen Raum jedoch hatten diese Bezeichnungen mystische und politische Symbolkraft. Bezeichnenderweise hatte ein zoroastrischer Stamm aus Armenien einen ähnlichen Namen; seine Mitglieder nannten sich Arevordik (»Kinder der Sonne«) und waren stolz darauf, dass sie sich nie einem Tyrannen unterworfen hatten. Für Mithridates und die Anhänger des Aristonikos standen die Bezeichnungen »Bürger« und »Polis« in der griechischen demokratischen Tradition. »… der Sonne« wiederum verwies auf den alten persischen Gott Mithra, dem Mithridates seinen Namen verdankte. »Bürger der Sonne« bedeutete, dass Aristonikos und sein Heer für die Wahrheit und das Licht und gegen die Mächte der Finsternis kämpften.
Mithridates’ Vater und die Herrscher von Bithynien, Kappadokien, Ephesos und Paphlagonien fürchteten die römische Reaktion auf den Aufstand und erklärten sich bereit, Truppen gegen Aristonikos zu entsenden. Doch die Bürger der Sonne behaupteten sich. Es sah ganz danach aus, als würde Aristonikos König von Pergamon und Großphrygien werden. Der Römische Senat entsandte im Jahr 131 Legionen unter dem Kommando von P. Licinius Crassus. Nur war Crassus so darauf erpicht, den Palast des Aristonikos zu plündern, dass er seine Aufgaben als Feldherr vernachlässigte. Sein desorganisiertes Heer wurde in einer Schlacht bei Leukai vernichtend geschlagen. Er selbst soll von einer feindlichen Menschenmenge umringt worden sein, mit seiner Reitpeitsche einem Thraker ins Auge gestochen haben und daraufhin von dem zornigen Gegner erdolcht worden sein. Seinen Kopf brachte man zu Aristonikos.
Nach weiteren Siegen der Heliopoliten entsandte Rom M. Perperna, um den sich immer weiter ausbreitenden Aufstand niederzuschlagen. Perperna hatte gerade einen Sklavenaufstand in Sizilien niedergeschlagen und konnte Aristonikos lebend gefangen nehmen. Obwohl Perperna (angeblich durch eine Krankheit) plötzlich starb, wurde Aristonikos in Ketten gelegt und zusammen mit dem sagenhaften Schatz des Attalos nach Rom geschickt. Der Rebellenführer wurde in das Tullianum geworfen. Diesen vier Meter tiefen, steinernen Kerker bezeichnete der Geschichtsschreiber Sallust »wegen der Vernachlässigung, der Dunkelheit und des Gestanks« als »widerlich und furchterregend«. Im Jahr 129 wurde Aristonikos in seiner Zelle erdrosselt.
Die Statue des Apollon in Kyme, wo die Flotte der Aufständischen geschlagen worden war, soll damals geweint haben. Angespornt durch das Martyrium ihres Führers und die vielen Niederlagen der Römer und vielleicht auch, weil sie den plötzlichen Tod Perpernas als gutes Vorzeichen betrachteten, setzten die Heliopoliten ihren Widerstand fort. Der Senat entsandte den ehrgeizigen Konsul Manius Aquillius, um den Aufstand niederzuschlagen und in Pergamon eine römische Statthalterschaft zu errichten. Es muss Mithridates beeindruckt haben, dass die mit Aristonikos verbündeten Städte immer noch Widerstand leisteten und den Heliopoliten in ihren Mauern Schutz boten.
Aquillius hätte eine Serie langwieriger Belagerungen vor sich gehabt, bis er das Land beherrscht hätte und die neue Regierung hätte einsetzen können. Doch er brachte den Krieg schneller zu Ende, indem er zu der brutalen Methode griff: Er verseuchte die Wasserversorgung der belagerten Städte mit Gift. Diese biologische Waffe tötete sowohl Kombattanten als auch Nichtkombattanten, und die Römer hatten die widerspenstigen Städte schnell eingenommen. Freilich gab es sogar in Rom einige, die die barbarische Methode kritisierten und meinten, Aquillius habe bei seinem willkommenen Sieg die alten militärischen Werte der Römer mit Füßen getreten.32
Der siegreiche Feldherr wurde Statthalter von Pergamon und erhob hohe Steuern, um sich persönlich zu bereichern. Der Aufstand des Aristonikos war niedergeschlagen, und die Verbündeten Roms wurden belohnt. Der Vater des Mithridates erhielt Großphrygien als Dank. Unter der Oberfläche jedoch gärte in den römisch besetzten Gebieten der Volkszorn. Die Städte, die den Aufstand unterstützt hatten, wurden schwer bestraft. Aber selbst die offiziellen »Freunde« Roms hatten eher Angst, als dass sie sich sicher gefühlt hätten. Denn es wurde allen immer klarer, dass Rom die unangenehme Angewohnheit besaß, frühere Klientelstaaten anzugreifen.
Mithridates erfuhr in seiner Kindheit bestimmt sehr viel mehr über den Aufstand des Aristonikos, als uns heute an Informationen zur Verfügung steht. Zum Beispiel wusste er vielleicht, ob Aristonikos, der Enkel eines Harfenspielers, nach einem Freund Alexanders benannt war, der ebenfalls Harfe spielte und einen ruhmreichen Tod auf dem Schlachtfeld fand. Heute hingegen kann man dies nur vermuten.
Aquillius hatte die Brunnen wahrscheinlich mit Nieswurz vergiftet, einer weitverbreiteten Pflanze mit einer schlimmen militärischen Geschichte. Mithridates, der Giftpflanzen erforschte, kannte sicher den Bericht von einer ähnlichen Belagerung, die sich etwa 500 Jahre zuvor in Griechenland zugetragen hatte. Die Belagerer hatten damals die Stadtbewohner unter Beihilfe eines verräterischen Arztes vergiftet, indem sie deren Wasserversorgung mit zerkleinertem Nieswurz verseuchten.33
Medeas Zaubertränke
Eingekeilt zwischen Armenien und den steilen Klippen, den Ausläufern des Kaukasus am östlichen Mittelmeer, lag das berühmte Kolchis (heute Georgien), ein raues, aber an Gold und exotischen Mineralen und Pflanzen reiches Land. In der griechischen Mythologie kettete Zeus den aufsässigen Titanen Prometheus, der den Sterblichen das Feuer brachte, für immer und ewig auf dem höchsten Gipfel des Kaukasus an und schickte einen Adler, der sich täglich von seiner Leber nährte. Mithridates und seine Freunde hörten aufregende Sagen, die in ihrer Heimat spielten. In dem epischen Gedicht über Jason und die Argonauten, segelt die Argo auf der Suche nach dem Goldenen Vlies an der Südküste des Schwarzen Meers entlang nach Osten zur »goldenen Schatzkammer der Sonne«. Auf dem Weg erleben die Argonauten verschiedene Abenteuer und gründen sogar Städte.34 In Sinope mag Mithridates unter den Augen der Marmorstatue des Argonauten Autolykos, der die Stadt gegründet haben soll, gespielt haben.
Die Argonauten bewundern die reichen Eisenminen von Pontos und die bizarren Salztürme am Halys. Danach geht es weiter nach Themiskyra, der großen Stadt der Amazonen an dem Fluss Thermodon, und dann in das Hinterland von Kolchis am Fuß des wilden Kaukasus. Dort verliebt sich Jason in Medea, die wunderschöne barbarische Zauberin.
Als Meisterin der Gifte und der Magie kann Medea, eine Enkelin des Sonnengottes, das geheimnisvolle Feuer der schwarzen Ölteiche von Baku am Kaspischen Meer zähmen und daraus unauslöschliche Flammen schaffen. Ihre Tränke schenken übermenschliche Kraft oder todesähnlichen Schlaf und machen gegen Feuer und Schwert unverwundbar. Sie kennt die Geheimnisse des tödlichen Drachenbluts und sämtliche Gegengifte für Schlangengift. Es ist leicht, sich den künftigen Toxikologen Mithridates vorzustellen, wie er fasziniert las, dass Medea aus ihrem Sonnenwagen stieg und pharmaka sammelte. Mit Strabons Worten:
»In finsterer Nacht, schwarz gekleidet und unheimliche Beschwörungen murmelnd, stieg Medea immer höher in die Berge des Kaukasus hinauf. Dort blühte, aus Götterblut entsprungen, das aus der Wunde des Prometheus geflossen war, eine safrangelbe Blume auf einem langen Doppelstiel. Aus ihrer fleischigen Wurzel sickerte ein blutroter Saft. Diese karmesinrote Flüssigkeit fing Medea in einer Muschel aus dem Kaspischen Meer auf.«35
Der mächtige Herakles
Im eklektischen Pantheon der mythischen Vorbilder des Mithridates stand die persische Zauberin Medea gleich neben Herakles, dem griechischen Superhelden, der Prometheus von seiner Folter befreit hatte. Im Lauf seiner Abenteuer kam Herakles über den gewaltigen Kaukasus nach Skythien, wo er Hippolyte, die Königin der Amazonen, tötete. Die Bewohner der Stadt Pergamon glaubten, sie seien die Nachkommen von Herakles’ Sohn Telephos. Wie Alexander führte auch Mithridates seine Abstammung auf Herakles zurück. Drei bemerkenswerte Marmorstatuen zeigen, wie stark sich der König mit Herakles identifizierte. Die erste, eine Skulptur in Pergamon, die wahrscheinlich 88–85 v. Chr. entstand, als Mithridates in der Stadt sein königliches Hauptquartier aufschlug, zeigt Herakles als Vater, gekleidet in das typische Löwenfell und mit seinem Sohn Telephos auf dem Arm. Neuere Untersuchungen damaliger Münzen und Skulpturen deuten darauf hin, dass das Vorbild für den Knaben kein anderer sein konnte als Mithridates.
Profil und Haartracht des Telephos sind den Porträts des erwachsenen Mithridates auf dessen frühen Silbermünzen sehr verwandt, dagegen war eine Ähnlichkeit bei dem rundlichen Gesicht des Kindes nicht beabsichtigt. Trotzdem war die Ähnlichkeit des Kindes mit den Münzporträts (und die dadurch vermittelte Botschaft) für die Zeitgenossen sofort erkennbar. Die Verwandtschaft war so stark, dass der römische Feldherr Pompeius nach seinem Sieg über Mithridates im Jahr 63 v. Chr. die Statue mit dem kleinen Mithridates beschlagnahmte, um sie in Rom vorzuführen.36
Eine weitere Gruppe, die 1925 nahe dem Großen Altar von Pergamon entdeckt wurde, zeigt einen jugendlichen Herakles, wie er Prometheus befreit. Der junge Mann im Löwenfell ist ein lebensnahes Porträt von Mithridates an der Schwelle zum Erwachsenenalter. Es gleicht einer anderen sehr bekannten Statue im Louvre, die eindeutig als erwachsener Mithridates identifiziert ist und ebenfalls ein Löwenfell trägt. Das Bild von Mithridates als Befreier des angeketteten Titanen hatte großen symbolischen Wert für die Griechen und die Völker des Ostens, weil es den König als Retter und Befreier zeigte.
Herakles mit seinem Sohn Telephos (Museo Chiaramonti, Vatikan). Das Kleinkind sollte vermutlich Mithridates ähneln, der Herakles als Ahn für sich beanspruchte.
Alexander der Große und Dareios
Wie aus den Münzporträts ersichtlich, kopierte Mithridates die lockigen schulterlangen Haare Alexanders (siehe Seite 226). Dieser war dank seines Charismas, seines militärischen Genies, seiner Visionen und seines tragischen Todes vor seinem 30. Geburtstag nicht nur für Gräkoperser wie Mithridates, sondern auch für viele Römer zu einer Kultfigur geworden. Mithridates entdeckte schon als Kind viele Parallelen zwischen seiner eigenen Lebensgeschichte und der Alexanders und fand vieles, dem er nacheifern konnte. Um Mithridates als den neuen Alexander und als Antithese zum unzivilisierten Rom darzustellen, nutzten der König und seine Umgebung gern den Vergleich mit Alexander. Vorfälle wie die oben geschilderte Zähmung des jungen Hengstes durch Mithridates sorgten dafür, dass der Prinz von Pontos im Volk immer mehr mit dem geliebten Alexander identifiziert wurde.37
Wie Alexander war auch Mithridates eine faszinierende Persönlichkeit. Übernahm er als junger Mann absichtlich die wohlbekannten Manierismen seines großen Vorbilds? Alexander hatte die Angewohnheit, den Kopf nach links zu neigen; einige der in Stein gehauenen Porträts des jungen Mithridates gleichen Alexander nicht nur den Zügen nach, sondern haben ebenfalls den Kopf nach links geneigt. Auch hatte er angeblich wie Alexander »Augen von eigentümlichem Schmelz«. Es ist gut vorstellbar, dass Mithridates seine Version des »schmelzenden Blicks« an seinen Freunden Dorylaos und Gaius, seinen kleinen Schwestern und anderen Kindern in Sinope übte. Alexanders Gefährten hatten sogar behauptet, sein Körper und seine Kleidung hätten einen angenehm süßen Duft gehabt. Auch das war etwas, das Mithridates mit Myrrhe und anderen Parfümen bewerkstelligen konnte, die an persisch beeinflussten Höfen von Männern und Frauen benutzt wurden.38
Mithridates kannte die Lebensgeschichte Alexanders (geb. 356 v. Chr.), der sich im Alter von 22 Jahren daran gemacht hatte, das mächtigste Reich der Welt zu erobern, wahrscheinlich auswendig. Das Persische Reich unter Dareios III. erstreckte sich über drei Kontinente und wurde von geschätzten 25 Millionen Menschen aus verschiedenen Völkern bewohnt. Als Alexander starb, war das Perserreich in sein neues Makedonisches Reich integriert, das sich nun von Griechenland und Anatolien bis Ägypten und bis zum Himalaja erstreckte.
Mithridates konnte aus der faszinierenden Geschichte von Alexander und Dareios III. viel lernen. Alexander schlug das Heer des Dareios bei Issos (333 v. Chr.), obwohl sein makedonisches Heer nur halb so groß war wie das persische. Der Perserkönig entkam durch eine kühne Flucht auf dem Streitwagen und rekrutierte in den Randgebieten seines Reichs weitere 200 000 Kämpfer, die durch gepanzerte Reiter, die gefürchteten Sichelwagen und Kriegselefanten unterstützt wurden. Die beiden Könige trafen 331 v. Chr. bei Gaugamela erneut aufeinander. Doch Alexander konnte den Feind dank seiner genialen Manöver erneut aufreiben. Dieses Mal entkam Dareios zu Pferde. Nach seiner Niederlage hatte er seine Bewunderung für Alexander zum Ausdruck gebracht und sich sogar damit einverstanden erklärt, dass dieser sein Nachfolger als Herrscher des Persischen Reiches würde. Er floh weit in den Osten des Reiches und wurde dort von seinen wichtigsten Heerführern verraten und umgebracht. Mithridates kannte die berühmte Geschichte, dass Alexander am Leichnam des Dareios geweint und ihn mit großen Ehren in Persepolis begraben habe. Er lehnte den traditionellen griechischen Hass auf die Barbaren, also all die, die keine Griechen waren, ab und nahm auch neue persische Untertanen in seinen innersten Kreis auf. Dareios und Alexander entsprachen wegen ihrer gegenseitigen Hochachtung und ihrer höflichen Gesten ganz dem ritterlichen Ideal der edlen Gegner, wie es sich später in den Heldensagen des Mittelalters niederschlug. Mithridates war sehr stolz auf seine Verwandtschaft mit beiden Feldherren und hegte den visionären Traum, das Reich der Römer im Westen durch einen Zusammenschluss von Persien und Griechenland zu schlagen.
Nach der Eroberung des Perserreichs hatte Alexander persische Bräuche und persische Kleidung übernommen, während Mithridates, wie die Geschichtsschreiber des Altertums berichten, altmodische persische Gewänder trug. Durch diese scheinbar exzentrische Gewohnheit ehrte er sein persisches Erbe und lenkte die Aufmerksamkeit darauf, während er zugleich wiederum Alexander imitierte. Wir wissen, dass Mithridates alte Möbel und andere Schätze von Dareios I. geerbt hatte. An Regentagen konnte der Knabe die Lagerräume im Palast von Sinope aufsuchen und Truhen aus Zedernholz öffnen, die mit persischen Kostbarkeiten gefüllt waren: mit Tiaren, goldenen Ohrringen, Armbändern, Halsbändern, Ringen und geschnittenen Edelsteinen; mit Krügen voller exotischer Parfüme und mit langen weißen, purpurgesäumten und mit goldenen Falken und Löwen bestickten Gewändern.
Mithridates wusste, dass Alexander es vermieden hatte, sich wie die alten medischen Verbündeten der Perser zu kleiden, deren extravagante Tracht von den einfach gekleideten Griechen verspottet wurde. Auch übernahm er nicht die volle Königstracht der persischen Herrscher: ein kostbares langes Gewand über einer Hose, Schuhe mit nach oben geborgenen Spitzen und als Kopfbedeckung eine Tiara. Stattdessen kombinierte Alexander griechische und persische Mode zu einem neuen bescheidenen, aber eleganten Stil. Er trug Sandalen und einen einfachen, kurzen, rein weißen Chiton, gegürtet mit einer persischen Schärpe, an der sein Dolch befestigt war. Er verzichtete auf Hosen und eine Krone (die Makedonen fanden die persische Tiara und die persische Hose absonderlich). Seine Rüstung bestand zum Teil aus sehr alten Stücken.
Der junge Mithridates entwickelte, nachdem er wahrscheinlich schon als Junge experimentiert hatte, ebenfalls seine eigene schneidige Mischform. Wie Alexander trug er ein einfaches Diadem (ein weiß und purpurn gefärbtes Stirnband) und einen leuchtend weißen Chiton, der lediglich durch einen purpurnen Saum geschmückt war. Dieses Kleidungsstück war mit einer juwelenbesetzten persischen Schärpe gegürtet, die die Scheide seines Dolches an seinem Oberschenkel festhielt. Dieses Outfit wurde durch die altmodische persische Hose und auch Lederstiefel mit aufgebogenen Spitzen komplettiert.39
Der König ist tot, lang lebe der König
Während seiner Kindheit in Sinope beschäftigte sich Mithridates mit sagenhaften Taten, guten und schlechten historischen Vorbildern und der wissenschaftlichen Erforschung von Giften. Er sammelte Steine und Reptilien, ging mit seinen Freunden reiten und jagen, las und hing Tagträumen nach. Sein Leben verlief ohne harte Schicksalsschläge und muss ihm glücklich und unbeschwert erschienen sein.
Sein Vater veranstaltete für seine Höflinge und Ehrengäste zahlreiche Feste mit fröhlichen Gelagen mit ganzen Platten voller Wildbret, Lamm, Schwarzmeerthunfisch, Brot und Oliven, Kirschen und Pfirsichen. Im Jahr 120 oder 119 feierte Mithridates seinen 14. oder 15. Geburtstag. Nach persischer Sitte gab es zu solchen Anlässen ein besonders großartiges Bankett. Dabei wurde ein ganzer Ochse, ein Kamel oder ein Esel in einem riesigen Ziegelofen gebraten und jeder Gang wurde mitsamt einer Unmenge Wein serviert. Als Nachtisch gab es womöglich unzählige Arten von mit Honig hergestellten Süßigkeiten, während parthische Geisterbeschwörer, indische Schlangenbeschwörer, syrische Akrobaten und Tänzer die Gäste unterhielten und Harfenspieler und Trommler die große Halle mit Musik erfüllten.40
Bei einem dieser verschwenderischen Bankette greift sich Mithridates’ Vater plötzlich an die Kehle. Er taumelt von seinem Stuhl weg und bricht tot zusammen; sein schwerer Silberkelch rollt geräuschlos über den dicken Teppich. In diesem Augenblick stürzt die Welt des Mithridates ins Chaos.41
Mithridates V. Euergetes wurde um 120 v. Chr. von unbekannter Hand vergiftet. Die Tat wurde verübt, als Dorylaos, Freund und Heerführer des Königs, gerade auf Kreta weilte und für die pontische Armee Soldaten rekrutierte. Als Dorylaos die Nachricht von dem Mord erhielt, blieb er auf Kreta, weil er es für zu gefährlich hielt, nach Sinope zurückzukehren.
Das vage Misstrauen, das Mithridates schon längere Zeit gegen seine Mutter hegte, machte akuter Panik Platz. War er der Nächste? Wem konnte er noch trauen? Er wandte sich an seinen engsten Kameraden und besten Freund, den jungen Dorylaos. Vielleicht wurde er auch von ein paar Lehrern und Höflingen unterstützt. Vergleiche mit der Ermordung von Alexanders Vater Philipp II. waren unvermeidlich, und die Parallelen müssen Mithridates unheimlich gewesen sein. Philipp wurde auf einem Hochzeitsbankett ermordet, und Alexander machte dafür die mächtigsten Feinde seines Reiches, die Perser, verantwortlich. Viele jedoch verdächtigten Olympias, Alexanders Mutter. Die von der antiken Geschichtsschreibung als eifersüchtige, mordlustige Hexe dargestellte Olympias verschreckte die Männer mit den riesigen, zahmen Schlangen, die sie für dionysische Orgien züchtete. Mithridates hatte die grausigen Geschichten über die Geschehnisse nach Philipps Tod gehört. Olympias hatte angeblich den kleinen Halbbruder Alexanders verbrannt und den anderen Halbbruder mithilfe von Drogen schwachsinnig gemacht.42
In Sinope glaubten manche, dass die Römer hinter dem Anschlag auf Mithridates’ Vater steckten, doch die zeitgenössischen Quellen deuten eher auf eine Palastrevolution hin. War Laodike, die Mutter des Mithridates, wirklich die böse Hexe, die Olympias nur angeblich war? Auf den modernen Leser wirkt eine solche mörderische Mutter wie eine Figur aus den Märchen der Brüder Grimm, aber Mithridates kannte viele ehrgeizige Königinnen in benachbarten Königreichen, die durch Intrigen, Mord und Gift an die Macht gekommen waren. Die Mutter des Ariarathes von Kappadokien zum Beispiel hatte dessen fünf jüngere Brüder einen nach dem anderen vergiftet. Auch war dem Prinzen nicht entgangen, dass seine eigene Mutter in seinen jüngeren Bruder Mithridates Chrestos vernarrt war. Der Mord an seinem Vater spricht für Justins These, dass die Absicht bestand, Mithridates selbst zu beseitigen. Auch moderne Historiker gehen davon aus, dass das Leben des Thronfolgers in Gefahr war: Die unbekannten Mörder seines Vaters mussten sich irgendwo in seinem eigenen Palast unter seinen eigenen Leibwächtern und Lehrern befinden. Und es spricht einiges dafür, dass auch Königin Laodike an der Verschwörung beteiligt war.43
Nach der Bestattung seines Vaters im königlichen Mausoleum von Amaseia (der alten Hauptstadt von Pontos) wurde der junge Mithridates 120 oder 119 v. Chr. zum König von Pontos gekrönt. Laut dem Testament seines Vaters sollte das Reich offenbar von ihm, Laodike und Mithridates Chrestos gemeinsam regiert werden. Da beide Prinzen noch minderjährig waren, hatte Laodike als Regentin alle Macht, und sie zog den jüngeren, gefügigeren Sohn vor. Ihrer Liebe zum Luxus wegen war sie eine willfährige Klientin Roms. In den folgenden Jahren nahm sie Bestechungsgelder der Römer an und stürzte das Reich durch ihre Verschwendungssucht in Schulden.
Im Jahr 119 v. Chr. erschien plötzlich ein wunderbares Vorzeichen am Himmel. Der spektakuläre Komet mit dem langen Krummsäbelschweif, der sich vor der Geburt des Mithridates schon einmal gezeigt hatte, kehrte just zu dem Zeitpunkt zurück, als er zum König gekrönt wurde. Die Magier und die Menschen in den persisch beeinflussten Ländern jubelten: Das himmlische Zeichen bestätigte, dass Mithridates tatsächlich der von Mithra gesandte Retterkönig war, der große Führer, der den Osten vor Rom retten würde, wie es der Komet von 135 v. Chr. und allgemein bekannte Prophezeiungen verheißen hatten. Die seltenen Münzen, auf denen ein Komet zu sehen ist, wurden vielleicht unmittelbar nach der Krönung des Mithridates geprägt.
Doch der junge König wusste, dass er sich retten musste, weil er sonst seine Bestimmung nicht würde erfüllen können. Er begann stets seinen Dolch bei sich zu tragen. Und in der Nacht lag unter seinem Kopfkissen eine Klinge, genau wie bei Alexander.44
Der Giftprinz
Welches Gift hatte seinen Vater getötet? Diese wichtige Frage ließ an andere ungeklärte Todesfälle denken wie zum Beispiel den von Alexander dem Großen. Die Gefährten Alexanders hatten geglaubt, er sei durch ein namenloses Gift ermordet worden, eine sagenhafte Substanz von seltsamer Beschaffenheit, einen eiskalten »Tau«, gesammelt auf den bemoosten Felsen, wo der Styx in Griechenland von einer hohen Klippe hinabstürzte. Dieser »Tau« war so zersetzend, dass er Metall auflöste und nur im Huf eines Maultiers aufbewahrt werden konnte. Moderne Toxikologen konnten das Gift bis heute nicht identifizieren. Die alten Beschreibungen deuten auf eine säurehaltige Substanz hin. Ein möglicher Übeltäter wurde erst kürzlich entdeckt: natürlich vorkommende, extrem toxische saure Bakterien in den Kalziumkarbonatkrusten, die sich auf Kalkstein bilden können.45
Mithridates dagegen musste sich mit leichter zu beschaffenden, heimatnäheren Substanzen befassen. War sein Vater Opfer einer Giftpflanze geworden? Es gab unzählige davon: Bilsenkraut, Eibe, Schwarzer Nachtschatten, Schierling, Alraune, Eisenhut, Nieswurz, Mohn, Oleander oder auch giftige Pilze ...
Mithridates hatte schon als Kind mit Giften experimentiert, weil er eine vage Angst hatte, vergiftet zu werden. Nun aber war die Bedrohung sehr konkret geworden. Laut Justin versuchten Mithridates’ Feinde, »ihn durch Gift zu töten, als ihre anderen Anschläge auf sein Leben scheiterten«. Deshalb begann er mit pharmaka zu experimentieren, die er heimlich an sich selbst und an anderen testete. Orientieren konnte er sich dabei an der mythischen Zauberin Medea, aber auch an dem von seinem Großvater entwickelten Allheilmittel, an den missverstandenen toxikologischen Forschungen des Attalos in Pergamon oder an den, beinahe tödlichen, Experimenten, die Alexander in Babylon und Indien mit Naphtha und hochwirksamen Tränken durchführte. Alexander hatte Medikamente und Gegengifte für sich und seine Gefährten beschrieben. In Indien zum Beispiel starben viele seiner Männer eines qualvollen Todes, weil sie mit Schwertern verletzt worden waren, die der Feind in Schlangengift getaucht hatte. Alexander träumte, dass eine Pflanze sie retten könnte, und fragte hinduistische Ärzte nach Heilmitteln für Schlangenbisse. Ein anderes Mal war er so kühn, einen Becher mit einem Medikament zu trinken, durch das er bewusstlos wurde und fast gestorben wäre. Nun machte sich auch Mithridates daran, gezielt nach einem Rezept für das Mittel zu suchen, mit dem man alle Gifte neutralisieren konnte.46
Im Schwarzmeerraum gab es giftige Naturstoffe im Überfluss. Die Nomaden in Skythien tauchten ihre Pfeile in ein raffiniertes Gebräu aus Schlangengift und anderen Pathogenen, und ihre Schamanen waren Experten für Gegengifte. In den Seen des fernen Armenien lauerten giftige Fische, und Pontos hatte seine eigenen Gifte. Wilder Honig, der von giftigen Pflanzen wie Rhododendron und Oleander stammte, die an der Küste sehr häufig vorkamen, konnte einen Menschen töten. Selbst das Fleisch der pontischen Enten war giftig. Sie fraßen gern Nieswurz und andere Giftpflanzen und waren genau wie die Bienen seltsamerweise gegen die Gifte immun. Waren es diese geheimnisvollen Tatsachen, die Mithridates dazu inspirierten, nach Mitteln zu suchen, um sich gegen Gift zu immunisieren?47
Auch seltene, hochgiftige Minerale wurden in Pontos abgebaut. Sinope war das Zentrum für Verarbeitung und Export von Sinopischer Roterde (einem roten Arsensulfat), Realgar (Rubinschwefel), Auripigment und anderen glitzernden dunkelroten und gelben Kristallen, über die man sich magische und unheilvolle Geschichten erzählte. Die Minerale hatten viele verschiedene Bezeichnungen und kamen zusammen mit Quecksilber, Blei, Schwefel, Eisenerz, Kobalt, Nickel und Gold vor. Die Dämpfe in den Minen waren so giftig, dass angeblich nur zum Tode verurteilte Sklaven darin arbeiteten. Eine der berüchtigtsten Minen befand sich im Sandarakurgion Dağ (dem Realgar-Berg) und wurde von dem Geografen Strabon beschrieben. An dem Fluss Halys in der Nähe von Pimolisa arbeiteten Gruppen von 200 Sklaven daran, den ganzen Berg auszuhöhlen. Laut Strabon wurde die Mine im Berg letztlich als unrentabel aufgegeben, weil es zu teuer war, die Sklaven zu ersetzen, die massenweise an den giftigen Dämpfen starben.48
Die verschiedenen Bezeichnungen des Altertums für Gruppen verwandter Verbindungen erschweren es, diese heute zu identifizieren und zuzuordnen: zinjifrah, Zinnober, Sinopische Roterde, Rubinschwefel, miltos sinopike, Sinopel, Auripigment, Ocker, Sandarka, Sandyx, Lithargyrum, zamikh, arsenicum, arhenicum, zirnikhi, sindura, Mennige, Armenischer Calche, Realgar, Drachenblut. All dies waren im Altertum und darüber hinaus Bezeichnungen für viele Arten giftiger Erze, die Quecksilber, Schwefel und/oder Arsen enthielten. Sinopische Roterde wurde verwendet, um Schiffe wasserdicht zu machen; viele von den kostbaren Stoffen wurden als leuchtende Pigmente, Lacke oder Textilfarbstoffe geschätzt und spielten auch in Heilkunst und Alchemie eine wichtige Rolle.49
Mithridates jedoch konzentrierte sich eher auf ihre ungesunden Eigenschaften. Arsen, abgeleitet von dem persischen Wort zamikh (»gelbes Auripigment«, arabisch: al-zarnikhi), war ein tödliches, geruch- und geschmackloses Gift, das in Speisen und Getränken nicht zu entdecken war, der ideale Stoff für einen Giftmord. Das Gift, das man Mithridates’ Vater ins Essen oder in den Wein getan hatte, war vermutlich reines Arsen, das durch die Erhitzung von Realgar (arabisch: rhaj al ghar, »Pulver der Mine«), rotem Arsensulfat, gewonnen wurde.
Mithridates entdeckte das merkwürdige Phänomen, dass derjenige gegen tödliche Dosen von Arsen immun wird, der täglich eine winzige Menge des Giftes zu sich nimmt. Vielleicht erwarb er diese Arsentoleranz schon in jungen Jahren, denn wie Justin berichtet, scheiterten die Versuche der Verschwörer im Palast, ihn zu vergiften, als er noch ein Junge war. Er traf auch noch andere Vorsichtsmaßnahmen, wie etwa die von dem römischen Satiriker Juvenal vorgeschlagene: »Nehmt euch in Acht und misstraut jeglichem Mahl; Gifte der Mutter tummeln sich in tückischen fetten Gerichten. Jemand koste zuvor, was jene, die euch gebar, auch euch reicht, den Pokal koste erst der besorgliche Pfleger.«50
Mithridates ergänzte seine heimlichen Forschungen in Toxikologie durch ein verbessertes körperliches Training. Die Jagd war ein perfekter Vorwand, um dem Schloss fernzubleiben. Inzwischen plante er seinen nächsten Schritt. Weil er als Grundlage für sein mythologisches und historisches Wissen die Bücher Xenophons gelesen hatte, muss er genau gewusst haben, was ein junger Held tun musste, wenn sein Leben in Gefahr ist. Eines Tages ritt der furchtlose Prinz mit Bogen, Dolch und Wurfspeer bewaffnet in Begleitung seiner treusten Gefährten durch das Stadttor von Sinope. Er kehrte vorerst nicht zurück.