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In einem Palast am Meer wird ein Retter geboren

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Die Kometen

Der Stern erschien im Osten und war so hell, dass er mit der Sonne zu wetteifern schien und den Nachthimmel in Brand setzte. Sein leuchtender Schweif erstreckte sich über ein Viertel des Himmels, so weit wie die Milchstraße. Man schrieb das Jahr 135 v. Chr.

In ganz Anatolien und vom Kaukasus bis Persien wurde der Komet freudig begrüßt. Weit verbreiteten Prophezeiungen zufolge sollte ein helles neues Licht am Himmel die Ankunft eines Retterkönigs ankündigen, eines Messias oder großen Führers, der über die Feinde triumphieren würde. Vier Generationen später sollte ein weiterer Wunderstern die Magi in die kleine Stadt Bethlehem führen, wo sie einem anderen frisch geborenen Heiland huldigten. Vor dem Stern von Bethlehem jedoch kam der Stern von Sinope. Der Komet des Jahres 135 v. Chr. fiel zusammen mit der Geburt von Mithridates VI. Eupator Dionysos in Sinope, der Hauptstadt von Pontos am Schwarzen Meer.

Der Name des Kindes, Mithridates (altpersisch Mithradatha, »von Mithra gesandt«), gemahnte an den alten iranischen (persischen) Gott der Sonne, der Wahrheit und des Lichts. Nach alter persischer Überlieferung hatte ein großes Feuer oder Licht aus dem Himmel die Geburt Mithras begleitet. Laut dem römischen Geschichtsschreiber Justin kündeten zwei himmlische Vorzeichen von der künftigen Größe des neugeborenen Prinzen von Pontos. »In dem Jahr, als Mithridates gezeugt wurde, und in dem, als er seine Herrschaft antrat, erschienen Kometen, die mit solchem Glanz leuchteten, dass der ganze Himmel in Flammen zu stehen schien.«1

Justins Bericht von den zwei Kometen stützte sich auf einen heute verschollenen Bericht von Pompeius Trogus. Dieser wiederum bezog sich auf Augenzeugenberichte seines Onkels, eines Reiteroffiziers aus dem gallischen Stamm der Vocontier, der in den Mithridatischen Kriegen gekämpft hatte. Die antiken Quellen für das Leben des Mithridates sind nur fragmentarisch erhalten. Außer einigen Reden, Bemerkungen, Inschriften und Briefen des Königs ist der erhaltene Teil der Geschichte des Mithridates aus der Sicht der Römer geschrieben, die nach seinem Tod im Jahr 63 v. Chr. am Ende die Sieger blieben.

Ein Großteil der Legenden und der volkstümlichen Überlieferung über Geburt und Jugend des Königs war von der politischen Propaganda beider Seiten beeinflusst. Doch zeitgenössische und spätere griechische und römische Autoren zeichneten auf, was über sein Leben bekannt war, und berichteten über die historischen Ereignisse vor, während und nach seiner langen Herrschaft. Wenn wir die Überlieferung aus dem Altertum mit unserem Wissen über die anatolischen, makedonisch-griechischen und königlich-persischen Sitten und Gebräuche im hellenistischen Zeitalter kombinieren, erhalten wir ein realistisches Bild von Geburt, Kindheit, Erziehung und früher Herrschaft des Mithridates. Und wir können zu verstehen versuchen, warum seine Anhänger derart von ihm fasziniert waren.

Waren die Kometen einfach nur ein grandioser Propagandatrick, den Mithridates’ Anhänger nach seinem Tod erfanden? Waren sie nur eine von vielen fantastischen Geschichten, die »im Altertum zusammengebraut wurden, um dem Ruf des Mithridates mehr Glanz zu verleihen?« Dies war die bis vor Kurzem allgemein akzeptierte Meinung der modernen Geschichtsschreibung. Sie wurde erstmals von Théodore Reinach, der großen Autorität in Bezug auf die Forschungen rund um den König von Pontos, geäußert. Reinach war entgangen, dass europäische Astronomen die Existenz der beiden Kometen schon 1783 nachgewiesen hatten. Die meisten Althistoriker betrachten die Geschichte von den zwei Kometen bis heute als »Mythos«, der auf alten persischen Legenden beruht.2 Um die Wahrheit zu ergründen, müssen wir über die klassische Altertumswissenschaft hinausschauen.

Tatsächlich waren die Kometen nicht bloß eine Erfindung, die das Bild des Mithridates im Nachhinein verklären sollte. Genau wie von Justin beschrieben, erschienen damals wirklich zwei spektakuläre Kometen am Nachthimmel. Der Beweis kommt von der anderen Seite der Welt. In China beobachteten königliche Astronomen der Han-Dynastie genau dieses Paar außergewöhnlicher Kometen. Archäologen haben ihre bemerkenswert detaillierten Berichte und Zeichnungen auf alten Seidenmanuskripten in hanzeitlichen Gräbern gefunden.

Aus den Aufzeichnungen geht hervor, dass ein äußerst seltener Stern des Typs »Kriegsbanner« für zwei Monate im Spätsommer und Herbst des Jahres 135 v. Chr. und noch einmal im Jahr 119 v. Chr. am Himmel erschien. Die beiden Kometen mit dem feurigen, bannerartigen Schweif verursachten in China große Aufregung. Laut den Wahrsagern der Han-Dynastie verhießen »Kriegsbannerkometen« Massaker, schreckliche Kriege und den Aufstieg eines großen Eroberers. Die Beschreibungen und Diagramme der chinesischen Astronomen stimmen mit den Merkmalen der von Justin beschriebenen Kometen überein: strahlend hell mit sehr langen gekrümmten Schweifen, die sich weit über den Himmel erstrecken. Beide Kometen brauchten, bis sie ganz auf- oder untergegangen waren, jeweils vier Stunden und beide waren 70 Tage lang sichtbar.3

John T. Ramsey, ein Historiker, der antike Beobachtungen astronomischer Ereignisse erforscht, hat kürzlich diese chinesischen Aufzeichnungen noch einmal gesichtet, um das Geburtsjahr und den Beginn der Regierungszeit des Mithridates zu bestimmen. Die griechischen und lateinischen Quellen sind nicht konsistent, was die Chronologie dieser Periode betrifft. Das einzig sichere Datum ist das Todesjahr des Mithridates im Jahr 63 v. Chr. Ramseys Vergleich der römischen und der chinesischen astronomischen Daten lässt vermuten, dass Mithridates im Frühjahr 134 v. Chr. geboren (und im Sommer oder Herbst 135 gezeugt) wurde und dass er um 119 im Alter von 14 oder 15 Jahren gekrönt wurde. Mindestens zwei römische Quellen geben ebenfalls 135/134 als Geburtsdatum an.4

Die Kometen sind auch die Lösung für ein numismatisches Rätsel. In den ersten Jahren von Mithridates’ Regierungszeit wurde eine Serie kleiner, geringwertiger Münzen geprägt. Diese »Pfennige« mit einem Stern und dem geflügelten Pferd Pegasus auf der einen Seite und einem Kometen auf der anderen zirkulierten in den Randgebieten von Mithridates’ Königreich. Sie waren für einfache Leute im östlichen Schwarzmeerraum in Kolchis (heute Georgien) und auf der Krim (heute zur Ukraine gehörig) bestimmt, die sie zum Kauf von Nahrungsmitteln und anderen Gütern des täglichen Bedarfs verwendeten.

Dass auf diesen Geldstücken ein Komet abgebildet ist, verwirrte die Spezialisten für antike Numismatik. In der Zeit, als Mithridates geboren wurde, waren Kometen für Römer und Griechen unheilvolle Vorzeichen. Das Wort Desaster ist von lateinisch dirum astrum, »Unglücksstern« oder »Komet«, abgeleitet. Kometen galten traditionell als Vorboten des Krieges oder für den Sturz von Herrschern.5 Andere Münzen des pontischen Königreichs zeigten in der Regel das Porträt des Königs mit einem Halbmond-und-Stern-Symbol. Lange dachte man, auf Münzen des Altertums seien niemals schlechte Vorzeichen geprägt und keine andere Münze derselben Zeit zeigte einen Kometen. Warum, fragten sich die Gelehrten, ging Mithridates das Risiko ein, Münzen mit einer so finsteren Prägung herstellen zu lassen?

Wie sich herausstellte, waren die Kometenmünzen des Mithridates aber doch nicht so einzigartig, und Kometen waren in seinen Ländern keineswegs ein schlechtes Vorzeichen. Die Historiker des griechisch-römischen Altertums im Westen wussten nicht, dass damals auch in Armenien Münzen mit einem Kometen geprägt wurden. Im Jahr 2004 stieß ich auf eine kleine Notiz in der Zeitschrift Astronomy & Geophysics. Sie beschrieb Silbermünzen mit einem Kometen, die der armenische König Tigranes II. zwischen 83 und 69 v. Chr. prägen ließ. Die armenischen Autoren, ein Physiker und ein Numismatiker, interessierten sich mehr für die Identifikation des Kometen als für seine historische Bedeutung. Ihre Notiz blieb den westlichen Historikern der griechisch-römischen Welt unbekannt, bis John Ramsey, der den neuen Beleg 2006/07 in seinen Katalog antiker Kometen mit einschloss, darauf aufmerksam machte.


Große Silber-Tetradrachme mit Bildnis von Tigranes II. von Armenien, datiert zwischen 83 und 69 v. Chr. Tigranes’ Tiara ziert ein Komet mit gebogenem Schweif. Möglicherweise gibt es eine Verbindung zu den Kometen, die bereits 135 und 119 v. Chr. Mithridates’ Geburt angezeigt haben sollen. Im Londoner Kunsthandel (Spink). Umzeichnung von Michele Angel.

Die Münzen aus Armenien zeigten in der Regel einen König mit der traditionellen Tiara, die mit zwei Adlern und einem achtzackigen Stern geschmückt war. Die ungewöhnlichen Münzen, die in der Zeit von 83 bis 69 v. Chr. ausgegeben wurden, zeigen Tigranes II. jedoch mit einer Tiara, auf der ein Komet zu sehen ist, der einen langen, gekrümmten Schweif hinter sich herzieht. Die armenischen Gelehrten vermuteten, dass der Komet auf den Münzen eine der ersten künstlerischen Darstellungen des Halleyschen Kometen ist, der im Jahr 87 v. Chr., also in der Regierungszeit Tigranes’ II., erschien.6

Wer aber war dieser König, und warum ließ ausgerechnet er einen Kometen auf seine Münzen prägen? Tigranes der Große war persisch-alanischer Abstammung und der wichtigste Verbündete des Mithridates. Seine Frau war Mithridates’ Lieblingstochter. Das große Reich des Königs erstreckte sich vom Kaukasus bis nach Mesopotamien. Die beiden mächtigen Monarchen waren gute Freunde, und wir werden noch von ihren kühnen Unternehmungen im Kampf gegen die Römer hören.

Wer das Material aus einer eher persischen als griechisch-römischen Perspektive betrachtet, kann das »Rätsel« der merkwürdigen Kometenmünzen von Mithridates und Tigranes lösen. Während Kometen bei Römern und Griechen Angst und Schrecken auslösten, bedeutete ein großes Licht am Himmel im Osten die Ankunft eines mächtigen Herrschers und war somit ein positives Vorzeichen.

Als der Halleysche Komet im Jahr 87 v. Chr., ein Jahr nach dem Massaker an den Römern, am Himmel erschien, erzitterte ganz Italien vor Furcht wegen des bösen Omens. Im Osten jedoch waren schon die Kometen von 135 und 119 v. Chr. im Zusammenhang mit Geburt und Thronbesteigung des Mithridates positiv interpretiert worden. Als nun 87 ein dritter Komet auftauchte, wurde er als weitere Garantie für Mithridates’ großartiges Schicksal interpretiert. Der Halleysche Komet schien in Bezug auf die bisherigen Siege von Mithridates und Tigranes die Zustimmung der Götter zu signalisieren.

Der Komet auf der Tiara des Tigranes hat einen deutlich gekrümmten Schweif.7 Dieses seltene Merkmal ist für die »Kriegsbannerkometen« von 135 und 119 n. Chr. überliefert. Der Halleysche Komet hat dagegen stets einen geraden Schweif. Dies lässt vermuten, dass die Tiara des Tigranes und seine Münzen sich auf die beiden mit Mithridates in Verbindung gebrachten Kometen von 135 und 119 v. Chr. bezogen und nicht auf den Halleyschen Kometen. Die Darstellungen des Kometen bei Tigranes bestätigen nicht nur, dass Kometen im Osten eine positive Bedeutung hatten, sondern könnten auch ein öffentliches Bekenntnis des Tigranes zu seinem Bund mit Mithridates gewesen sein.

Die Kometen von 135 und 119 v. Chr. erschienen im Sternbild Pegasus. Diese Position am Himmel erklärt, warum Mithridates das geflügelte Pferd als sein Emblem wählte. Pegasus war ein Symbol, das wie Mithridates selbst eine Brücke zwischen Ost und West bedeutete. In der griechischen Mythologie trägt Pegasus den Blitz des Gottes Zeus, aber seine Ursprünge hat das unsterbliche, fliegende Pferd in der mesopotamischen Mythologie. Außerdem muss ein Komet im Sternbild Pegasus für Mithridates und seine persisch beeinflussten Anhänger eine noch tiefere Bedeutung gehabt haben. Der Sonnengott Mithra bestätigte einen neuen König immer dadurch, dass er ihm durch sein heiliges Tier, das Pferd, ein Zeichen schickte.8

Auch der gekrümmte Schweif der beiden Kometen hatte eine besondere Bedeutung. In Anatolien erinnerte er vielleicht an Halbmond und Stern, die Symbole des Königreichs Pontos. Noch ehrfurchtgebietender war jedoch die Ähnlichkeit mit einer Waffe. In der Welt des Mithridates wurden Kometen mit Krieg in Verbindung gebracht, weil sie wie ein großes Schwert am Himmel auftauchten. Die gekrümmten Schweife der seltenen Kometen der Jahre 135 und 119 erinnerten die Chinesen an Kriegsbanner. Im Mittleren Osten jedoch erinnerte der Halbmond an die harpe, das Sichelschwert, den persischen Krummsäbel, den auch Mithra selbst führte.9

Für die einheimische Bevölkerung von Anatolien, Armenien, Medien, Syrien, Skythien und anderen Ländern des einstigen Perserreiches waren Kometen ein Zeichen der Hoffnung und nicht Grund zur Verzweiflung. Die Kometenmünzen von Mithridates und Tigranes kündeten von einem großen König, der gekommen war, um die alten Prophezeiungen über einen neuen Stern im Osten und die Befreiung von der Tyrannenherrschaft zu erfüllen. Aus der Perspektive des Ostens deuten die Kometen auf eine erstaunliche, bisher übersehene Tatsache hin: Etwa 130 Jahre, bevor die Weisen aus dem Morgenland wegen des Sterns von Bethlehem die Rolle des Retters einem anderen Neugeborenen zuschrieben, waren diese Heilserwartungen auf Mithridates gerichtet.

Die Prophezeiungen

Mystische Prophezeiungen über die Zerstörung des letzten Reiches der Welt waren schon lange vor der Geburt des Mithridates im Umlauf. Im Altertum wurde Orakeln, Träumen, Vorzeichen und Wundern insbesondere in Krisenzeiten häufig eine politische Bedeutung beigemessen. Zusammen mit der Macht und der Brutalität Roms wuchs auch das Gefühl, dass Unheil bevorstand. Viele Orakel wurden sowohl von den Römern als auch von anderen Völkern als Voraussagen über das endgültige Schicksal der Republik interpretiert. Einige poetische Visionen nahmen Bezug auf das heilige Symbol der Stadt, die Wölfin, die die Gründer Romulus und Remus gesäugt hatte. Einige warnten davor, dass die Nachkommen eines wilden Raubtiers eines Tages ihr eigenes Mutterland in Stücke reißen würden.10

Nach der Niederlage von Hannibal, dem großen Feind Roms, im Zweiten Punischen Krieg, 202 v. Chr. nahmen die Römer Gebiete in Spanien, Nordafrika, Griechenland und dem Nahen Osten in Besitz. Diese frühe römische Expansion folgte nicht etwa einem imperialen Plan. Vielmehr billigte der Senat die Taten ehrgeiziger Feldherren, die durch Eroberungen im Ausland persönlichen Ruhm und Reichtum erwerben wollten. In den eroberten oder bedrohten Ländern waren die Römer als blutdürstige, ruhm- und geldgierige Zeitgenossen gefürchtet. Wie der Geschichtsschreiber Polybios berichtete, waren die römischen Soldaten stolz auf eine besonders grausame Art der Kriegführung. Sie hatten den Befehl, alles Lebendige zu töten, bevor sie mit der Plünderung begannen. Hinter den Legionen blieben schwelende Schlachtfelder, verwüstete Städte und Äcker zurück, die mit toten Männern, Frauen und Kindern und sogar mit zerhackten Hunden, Schafen und Kühen übersät waren.11

Im Osten wuchs die Hoffnung auf Erlösung. Die berühmteste apokalyptische Voraussage war eine alte iranische Prophezeiung: das Orakel des Hystaspes, eines persisch-babylonischen Magus. Es sagte die Zerstörung Roms durch Feuer und Schwert und die Ankunft eines Retterkönigs aus dem Osten voraus, dessen Geburt durch ein helles Licht am Himmel angekündigt würde. Eine weitere Prophezeiung, die zoroastrische apokalyptische Schrift Bahman Yasht aus dem 3. Jahrhundert v. Chr., sagte einen rächenden und rettenden Herrscher voraus, der, im Zeichen eines Kometen geboren, die ausländischen Tyrannen aus Asien vertreiben würde. Ein altes Orakel der Ägypter weissagte, dass die Götter einen großen König aus dem Orient schicken würden. Die hebräische Prophezeiung vom Untergang des letzten Großreiches (Daniel 2,7) wurde im Jahr 165 v. Chr., nur 30 Jahre vor Mithridates’ Geburt, geschrieben. Während der Herrschaft des Königs war ein Handbuch über ägyptische Sternzeichen sehr beliebt. Kometen wurden darin als Vorboten massiver Kriegsverluste für Rom in Asien gedeutet.12

Die Orakel scheinen durch makabre Ereignisse bestätigt worden zu sein. Eine grausige Geschichte, die von einem Sammler volkstümlicher Legenden überliefert wurde, kam nach 192 n. Chr. in Umlauf. In diesem Jahr schlugen die Römer den griechisch-babylonischen (Seleukiden-)König Antiochos III. bei den Thermopylen. Als die römischen Sieger die Leichen ihrer Feinde auf dem Schlachtfeld plünderten, erhob sich ein Offizier der syrischen Reiterei namens Bouplagos von den Toten. Der aus zwölf grausigen Wunden blutende Geist warnte die Leichenfledderer in einem heiseren Flüstern, dass Zeus einen »Stamm mit tapferem Herzen« ausschicken werde, um Rom zu bestrafen. Die römischen Soldaten wurden von Panik ergriffen und ihre Heerführer befragten »erschüttert über die Worte« das Orakel von Delphi. Der Spruch des Orakels war freilich ebenfalls unheilverkündend und drohte eine schreckliche Strafe für die römischen Verbrechen in Griechenland und Asia an.

Am folgenden Tag verfiel der römische Heerführer Publius in einen schreckenerregenden Trancezustand. Er brüllte, dass schreckliche Kriege, entsetzliche Grausamkeiten und unaussprechliches Elend über Rom kommen würden. Entsetzt rannten die Soldaten in Massen zu seinem Zelt, und viele starben in dem Gedränge. Die Römer hörten ihren altgedienten Heerführer brüllen, er sehe einen großen König aus dem Land der aufgehenden Sonne eine mächtige Armee aus vielen Völkern rekrutieren, mit dem Ziel, Rom auszulöschen! Publius kletterte auf einen Baum und schrie, er werde von einem Wolf verschlungen werden, dem heiligen Symbol der Stadt Rom. Entsetzt wurden die Männer Zeuge, wie tatsächlich ein Wolf auftauchte und ihren hochgeachteten Heerführer verschlang. Nur der Kopf blieb übrig – und stieß weiterhin schreckliche Prophezeiungen aus.13 Die albtraumhafte Geschichte verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Viele schenkten ihr Glauben. Und in den Jahren danach sollten sich viele an sie erinnern.

Mit der Beutegier der Römer nahmen zugleich auch die bösen Vorzeichen zu: Blutregen, Epidemien, Missgeburten, sprechende Kühe. Die Sibyllinischen Bücher, uralte, auf Palmblätter geschriebene Texte, aufbewahrt in einer Steintruhe unter dem Jupitertempel in Rom, hatten die Priester seit der Gründung Roms bei Staatskrisen zu Rate gezogen. Die kryptischen Texte sprachen von »einem großen Brand aus dem Himmel, der auf die Erde fällt«, und sagten der Stadt schreckliche Verwüstung und gewaltsame Konflikte voraus.

Das Dritte Buch der sogenannten Sibyllinischen Orakel (nicht identisch mit den Sibyllinischen Büchern in Rom) hatte ebenfalls schlechte Nachrichten für die Römer zu verkünden. Teile des Buchs waren sehr alt, andere jedoch stammten offenbar von antirömischen Juden, die während der römischen Expansionsphasen 160–140 v. Chr. und 80–40 v. Chr. in Anatolien lebten. In dem weit verbreiteten Dritten Buch hieß es, das Verderben und der Untergang Roms würden kommen, wenn ein Komet »als Zeichen des Schwertes... und des Todes erscheine«. »Dann«, hieß es in dem Orakel weiter, »werden sich alle Völker des Ostens erheben und sich vereinigen. Sie werden Rom zwingen, das Dreifache der Reichtümer zurückzuzahlen, die es geraubt hat. Und sie werden für jeden Asiaten, der sich in römischer Knechtschaft befindet, zwanzig Römer versklaven«.14

Im Jahr 88 v. Chr., also im Jahr des Massakers an den Römern, besuchte der griechische Philosoph Athenion Mithridates; er kehrte mit einer Botschaft der Hoffnung nach Athen zurück. Die Eroberung Griechenlands durch Rom (200 bis 146 v. Chr.) hatte viel Leid gebracht. So hatten die Römer 167 v. Chr. alle Einwohner von Epirus versklavt. Eine weitere Tragödie, die die Griechen nie vergaßen, war die Zerstörung von Korinth im Jahr 146. Unmittelbar vor dem Massaker von 88 v. Chr. hielt Athenion vor den demoralisierten Bürgern Athens eine aufrührerische Rede: »Überall auf der Welt verkünden die Orakel, dass Mithridates, der in Asia heute schon als Gott verehrt wird, siegen wird!«15

Die sensationellen Ereignisse und Vorzeichen, die an vielen verschiedenen Orten auftraten und die alle den Untergang des bösen Imperiums voraussagten und die Ankunft eines Retterkönigs ankündigten, der unter einem östlichen Stern geboren war, verflochten sich mit der Geschichte des Mithridates und prägten sie schon zu seinen Lebzeiten. Er nutzte die Orakel und Kometen zur Selbstdarstellung und Eigenwerbung. Die Prophezeiungen waren eine fruchtbare Grundlage, um die Unterstützung der Bevölkerung für seine Kampagne gegen die römischen Tyrannen zu mobilisieren. Mithridates, »der orientalische Retterkönig der Orakel und Prophezeiungen«, hoffte, dass alle Menschen »in ihm den König aus dem Osten sehen würden, der dazu bestimmt war, den von den Orakeln vorausgesagten Sturz Roms herbeizuführen«.16

Der im Alten Orient weitverbreitete Glaube, ein Feuer oder Licht am Himmel kündige die Geburt eines Erlösers an, kann noch eine weitere Geschichte, die über Mithridates erzählt wurde, zum Teil erklären: In der Geschichte heißt es, Mithridates wurde als Baby in seiner Wiege vom Blitz getroffen. Dabei blieb er unverletzt und trug nur eine deutliche Narbe in Form eines Diadems oder einer Krone auf der Stirn davon. Manche sagten, der Blitzschlag sei die Inspiration für seinen Beinamen Dionysos gewesen. Dionysos war der griechische Gott der Befreiung, des Wandels und des Neubeginns. Schon im Mutterleib wurde er durch den Blitz des Zeus für seine künftige Größe gezeichnet. Mithridates jedenfalls benutzte seinen zu Propagandazwecken: Er ließ sein Bild und das des Dionysos auf Münzen prägen – ein unübersehbares Symbol seiner Gegnerschaft zu Rom, denn die Verehrung des Gottes war 186 v. Chr. vom römischen Senat verboten worden, weil er mit Sklavenrevolten und Aufständen in den Provinzen in Verbindung gebracht wurde.17

In der griechisch-römischen Sagenwelt verhieß ein nichttödlicher Blitzschlag ein außergewöhnliches Leben und großen Ruhm.18 Ähnliches galt auch im Osten. Laut den Schriften der Magi (zoroastrischer Priester-Astronomen in Persien) war der Retterkönig an einem bestimmten körperlichen Merkmal zu erkennen. Die Magi im Palast von Mithridates’ Vater interpretierten die Narbe auf der Stirn des Prinzen als Zeichen göttlicher Zustimmung; dass sie die Form eines Diadems hatte, bedeutete, dass die Götter den König schon als Säugling »gekrönt« hatten. Viele Gestalten in Geschichte, Sage und Legende wurden durch eine Art Blitzschlag für eine herausragende Karriere vorgezeichnet, von König Dareios I. von Persien über Alexander den Großen bis zu Harry Potter, dem literarischen Helden von heute. Die Geschichte, dass Mithridates durch einen Blitzschlag gekennzeichnet wurde, lässt sich natürlich nicht verifizieren, aber sie ist durchaus möglich: Zwei von drei Menschen überleben es, wenn sie vom Blitz getroffen werden. Wichtig ist jedoch, dass sich all diese Omina, Prophezeiungen, Orakel, Sagen und außerordentlichen Naturereignisse in der Zeit des Mithridates derart häuften. Er war hervorragend positioniert, um sich diese Konvergenz östlicher und westlicher Anschauungen zunutze zu machen.

Königliches Blut

Für eine weitere Behauptung des Mithridates, die lange für ein Märchen gehalten wurde, gibt es inzwischen genealogische und historische Beweise. Der König führte den Stammbaum seines Vaters auf die Perserkönige und den seiner Mutter auf Alexander den Großen zurück. Er erklärte außerdem, seine Vorfahren hätten ihr Land von Dareios I., dem großen Achämenidenherrscher (gest. 486 v. Chr.), der das riesige Perserreich konsolidierte, zum Lehen erhalten. Einige Althistoriker vertraten die Ansicht, die vornehme Abstammung des Königs sei zu Propagandazwecken erfunden worden.

Viele makedonische und persische Stammbäume sind miteinander verflochten, und die Sache wird durch den antiken Brauch, viele Generationen lang denselben Königsnamen zu verwenden, noch zusätzlich kompliziert. Zum Glück führten die meisten Beinamen, und manche Herrscher sogar mehr als einen – Mithridates zum Beispiel hieß Eupator und Dionysos. Kürzlich wurden die Hinweise auf die Abstammung des Mithridates in den antiken Quellen neu bewertet. Untersuchungen ergaben, dass sich die väterliche Linie des Mithridates aller Wahrscheinlichkeit nach tatsächlich auf Dareios I. zurückführen lässt. Dieser hatte zwei Töchter und eine Enkelin des persischen Reichsgründers Kyros Vazraka (»der Große«), geheiratet. Die Behauptung des Mithridates, von Kyros und Dareios abzustammen, war somit nicht nur Propaganda. Dareios hatte den Vorfahren des Mithridates ein Lehen verliehen, das sich zu einer mächtigen Satrapie, wie die Provinz eines Statthalters genannt wurde, entwickelte, deren Zentrum die alte griechische Stadt Sinope in Pontos am Schwarzen Meer war.

Und die Abstammung von Alexander? Mithridates war mit Barsine verwandt, einer persischen Prinzessin, die Alexander nach der Schlacht von Issos im Jahr 333 v. Chr. gefangengenommen hatte. Barsine hatte mit Alexander einen Sohn und residierte in Pergamon, wo sie Verbindung zu den Vorfahren des Mithridates hielt. Mithridates’ Mutter Laodike, eine Prinzessin aus Antiochia (heute Syrien), war eine Nachfahrin von Alexanders makedonischem Heerführer Seleukos I. Nikator, der das neue makedonisch-persische Reich gegründet hatte, das sich von Makedonien und Zentralasien bis Babylon und zum Iran erstreckte.19

Es war Alexanders Traum, Völker und Kulturen der Griechen und Perser zu verschmelzen und dadurch die Grundlage für eine faszinierende Mischkultur zu schaffen. Nachdem er Persien erobert hatte, wurden zwischen dem persischen und dem makedonischen Adel zahlreiche Ehen geschlossen. Dass Laodike mit Alexander verwandt war, ist deshalb plausibel, aber letztlich weder zu beweisen noch zu widerlegen. Moderne DNA-Studien zeigen, dass das genetische Material mächtiger Herrscher wie etwa das Dschingis Khans großzügig auf zahlreiche illegitime Nachkommen verteilt wurde. Diese weitverbreitete Praxis und der große Harem, den sich die makedonischen und persischen Königsgeschlechter leisteten, sprechen dafür, dass die Behauptung des Mithridates, er habe nicht nur das Land und die Ideale der größten Herrscher Griechenlands und Persiens, sondern auch deren Blut geerbt, der Wahrheit entsprach.

Wie schon im Fall der Kometen und der Orakel ist das eigentlich Wichtige, dass der illustre Stammbaum des Königs im Altertum nicht angezweifelt wurde. Mithridates selbst, seine Anhänger und auch seine Feinde sahen in ihm die lebendige Verkörperung von Alexanders Vision einer griechisch-persischen Verschmelzung.

Bis zum Ende seines Lebens hielt Mithridates einen Mantel in Ehren, der angeblich einst Alexander gehört hatte. Wie kam er in den Besitz eines solchen Relikts? Wurde das Gewand in der vornehmen makedonischen Familie seiner Mutter von Generation zu Generation weitervererbt? Oder machte Barsine in Pergamon den Mantel ihres Geliebten den Vorfahren des Mithridates zum Geschenk? Der antike Geschichtsschreiber Appian gibt einen beiläufigen Hinweis. Er erzählt, die Römer hätten nach Mithridates’ Tod im Jahr 63 v. Chr. Alexanders Mantel in der Burg des toten Königs bei den Schätzen entdeckt, die Mithridates von Kleopatra III., der Frau Ptolemaios’ VIII. von Ägypten, erhalten habe. Die Königin hatte ihre Schätze während einer Thronfolgekrise in Ägypten auf die Insel Kos in Sicherheit gebracht. Einige Jahre später, im Jahr des großen Massakers an den Römern, übergab Kos diese Schätze dem Mithridates. Wie aber war ein Mantel Alexanders zu den Schätzen Kleopatras gekommen?

Genealogische Detektivarbeit brachte des Rätsels Lösung: Kleopatra, ihr Ehemann und ihr Vater waren direkte Nachfahren von Alexanders bestem Freund und Heerführer Ptolemaios I. Als Alexander 323 v. Chr. in Babylon starb, bemächtigte sich Ptolemaios des Leichnams (und vermutlich auch des Mantels) und nahm ihn mit nach Ägypten, um seinen Anspruch auf die Nachfolge Alexanders zu unterstreichen. Kleopatras Mann konnte das kostbare Kleidungsstück also durchaus von seinen makedonischen Vorfahren geerbt haben.20

Aber auch in diesem Fall ist die wahre Herkunft des Mantels irrelevant. Alle Zeitgenossen, auch die Römer, glaubten, dass Mithridates tatsächlich den Mantel Alexanders geerbt hatte und damit eine echte materielle Verbindung zu dem großen Eroberer vorhanden war. Alexanders Mantel zu tragen hatte für Mithridates nicht nur symbolische Bedeutung. In den Ritualen des alten persischen Hofes wurden die persönlichen Eigenschaften und die Autorität einer verehrten Person oder eines mächtigen Herrschers durch dessen Gewand oder khilat übertragen: Kyros der Große schenkte sein feines Purpurgewand seinem besten Freund; Dareios III. träumte, dass Alexander sein Königsgewand trug.21 Zahlreiche weitere Beispiele für das Ritual, das im alten Griechenland dorophorike genannt wird22, sind auch im Alten Testament und anderen Schriften des Nahen Ostens zu finden. Dies ist die Basis der bekannten Legenden vom Mantel des Paulus und dem Gewand Jesu. Der Gedanke, dass durch ein Kleidungsstück Autorität übertragen wird, lebt noch heute in Redewendungen wie »ein Amt bekleiden« fort.23

Zur Zeit des Mithridates war Alexander längst eine Kultfigur, und Mithridates hatte, wie wir sehen werden, viele bemerkenswerte Gemeinsamkeiten mit dem Idol.24 Einige Ähnlichkeiten waren real, andere nur Legende, doch die Anhänger des Mithridates interpretierten alle Parallelen als Beweis für Mithridates’ glorreiches Schicksal.

Das Drehbuch für mythische Helden

Über die Jugend des Mithridates ist nur sehr wenig bekannt. Seltsamerweise jedoch scheint eine unbekannte Kindheit typisch für überlebensgroße Gestalten, deren Taten Legende geworden sind. Was wir über die frühen Jahre des Mithridates wissen, stammt aus einigen wenigen Passagen bei Justin und beiläufigen Bemerkungen anderer antiker Geschichtsschreiber. Einige Episoden in diesen Berichten hören sich sehr märchenhaft an. Deshalb verweisen moderne Historiker mehrere Ereignisse im Leben des Mithridates ins Reich der Propagandageschichten, die im Nachhinein von seinen Anhängern erfunden worden sind.25

Der Verdacht ist in mancher Hinsicht gerechtfertigt. Mithridates war sich seiner öffentlichen Wirkung sehr bewusst, und einige seiner treuesten Anhänger verstanden es meisterhaft, die Öffentlichkeit zu manipulieren. Trotzdem gelten viele ungewöhnliche Details im Leben des Königs heute als wahr, weil sie durch historische und archäologische Belege bestätigt werden. Andere Vorfälle sind wahrscheinlich oder plausibel. Wieder andere wirken sehr ungewöhnlich, aber keiner erscheint ganz unmöglich. Doch die Bedeutung der faszinierenden Lebensgeschichte des Mithridates geht über die politische Propaganda hinaus. Wirklich verblüffend ist, dass seine Biografie eine Folge von Ereignissen aufweist, die typischerweise in den Lebensgeschichten mythischer Helden der verschiedensten Zeiten und Kulturen zu finden sind.

Das universale Muster »heldentypischer« Attribute in Legende und Geschichte wurde erstmals von dem Psychologen Otto Rank und dem Experten für vergleichende Mythenforschung Fitzroy Raglan entdeckt. Ihr Modell wurde verfeinert und von der Antike bis zur Gegenwart rund um den Erdball auf Dutzende heroischer Gestalten in Mythos, Geschichte und Popkultur angewandt. Auf den Seiten 422 bis 425 sind die 23 Merkmale aufgelistet, die einen mythischen Helden auszeichnen. Die wichtigsten Ereignisse im Leben der einzelnen Helden werden von verschiedenen Wissenschaftlern unterschiedlich interpretiert. Trotzdem haben Volkskundler ausgerechnet, wie viele Punkte verschiedene Helden auf der Liste erreichen. Demnach hätten zum Beispiel Moses, Ödipus und Kyros der Große 20–23 Punkte, Jesus, Mohammed, Herakles und König Artus 18–20, Alexander der Große, Buddha, Jeanne d’Arc und Robin Hood 13–16, Harry Potter 14, Spartacus 12 und John F. Kennedy 5 Punkte.26

Seit dem Altertum wurde Mithridates von vielen als Vorkämpfer des Antiimperialismus bewundert, auch wenn sein Kampf letztlich mit einer Niederlage endete. In der modernen westlichen Geschichtsschreibung jedoch wird er in der Regel als Roms bösartiger »orientalischer« Todfeind interpretiert und nicht als heldenhafte Gestalt. Vielleicht kam deshalb noch niemand auf die Idee, seine Punkzahl nach dem Index des archetypischen Helden auszurechnen. Wie passt seine Geschichte zu den etablierten Kriterien für eine unsterbliche Legende?

Die Punkte summieren sich schnell: Seine Geburt und sein Aufstieg zur Macht wurden durch Prophezeiungen vorausgesagt. Sein Vater König Mithridates V. und seine Mutter Laodike, eine Prinzessin, waren vielleicht durch verflochtene persisch-makedonische Stammbäume miteinander verwandt. Mithridates wurde gezeugt, als der seltene Komet von 135 v. Chr. am Himmel stand, und überlebte als Säugling einen Blitzschlag. Er wurde mit den Göttern Mithra und Dionysos in Verbindung gebracht und behauptete, wie Alexander der Große von dem Halbgott Herakles abzustammen. Als Jugendlicher vereitelte er Mordversuche seiner Erzieher, indem er mit Gegengiften experimentierte und schließlich einen geheimen Trank entwickelte, der gegen alle Gifte schützte. Als Teenager verschwand er. Sieben Jahre lang wusste niemand in Pontos, ob er überhaupt noch lebte.

Wie auf den folgenden Seiten deutlich wird, hatte Mithridates schon als junger Mann eindrucksvolle zehn Punkte auf der Skala des mythischen Helden erreicht. Ohne zu viel über sein langes, aufregendes Leben zu verraten, können wir jetzt schon sagen, dass er alle 23 Punkte auf der Skala erreichen wird (siehe S. 422 bis 425).

Historische Persönlichkeiten, deren ganzes Leben schriftlich überliefert ist, erreichen in der Regel 5 bis 10 Punkte. Mithridates’ hohe Punktzahl spricht dafür, dass viele Aspekte seines Lebens mündlich überliefert wurden. Mehrere Ereignisse (Kometen, Prophezeiungen, Vorfahren, toxikologische Experimente, Reitkunst) sind dokumentiert, während andere Geschichten sich vielleicht um ein Körnchen Wahrheit herum kristallisierten oder übertrieben oder gänzlich erfunden waren, obwohl in den Quellen nichts berichtet wird, was völlig unglaubhaft wäre. Mithridates verstand es hervorragend, sich als Retter der griechischen und der persischen Zivilisation und als Geißel der Römer zu präsentieren. Er sorgte zweifellos dafür, dass Orakel und Vorzeichen, Mordversuche, denen er knapp entging, berühmte Leistungen, Heldentaten und andere damalige Ereignisse zu seinen Gunsten interpretiert wurden. Aber viel von dem, was die Historiker für absichtlich lancierte Propagandalügen halten, war vermutlich eher das Ergebnis eines allmählichen, natürlichen Prozesses. Dank des »Schneeballeffekts« der mündlichen Überlieferung vermischte sich die reale Lebensgeschichte des Mithridates zunächst mit wahrscheinlichen und später auch mit plausiblen Ereignissen. Zwischen Romantik und Realität, Propaganda und Plausibilität liegt die wirkliche Geschichte verborgen. Wenn wir unwahrscheinliche Ereignisse im Leben des Königs betrachten, sollten wir im Gedächtnis behalten, dass die Kategorie der Wahrscheinlichkeit in der Wissenschaft auf die Zukunft angewandt wird und nicht auf die Vergangenheit.27 Selbst wenn etwas aus der Vergangenheit berichtet wird, das sehr unwahrscheinlich ist, bedeutet dies nicht, dass es nicht dennoch passiert sein kann. Mit der Zeit sammelten sich in der Geschichte des Mithridates natürlich mehr und mehr Details an, die dem heroischen Archetyp entsprachen. Die hohe Punktzahl, die er auf der Heldenskala erreicht, rührt daher, dass reale Ereignisse in der mündlichen Überlieferung durch mythische Motive angereichert wurden, dass der König geschickte Eigenpropaganda machte und dass sein Leben tatsächlich bemerkenswert war.

Man hat das Gefühl, der König habe selbst begriffen, wie das Drehbuch für einen Helden auszusehen hat, und versucht danach zu leben. Über die Umstände seiner Geburt und viele andere Ereignisse hatte er natürlich keine Kontrolle, aber trotzdem stilisierte er sich allem Anschein nach schon in sehr jungen Jahren bewusst zum Helden seiner eigenen epischen Saga. Als Kind wurde ihm von den Orakeln über seine Geburt erzählt, und er orientierte sich an den Lebensgeschichten großer Vorfahren und anderen Rollenmodellen aus Mythos und Geschichte. Unter seinen üppigen Locken war die diademförmige Narbe des Blitzschlags versteckt. Es wäre kein Wunder, wenn er sich tatsächlich als mythischer Held sah und beschloss, sich auch so zu verhalten. Die meisten wichtigen Elemente einer Heldensage standen ihm zwei Jahrtausende, bevor die moderne Mythenforschung den persischen König Kyros den Großen als Inbegriff des historischen Helden entdeckte, problemlos zur Verfügung. Auch ein weiteres reales Vorbild, Alexander der Große, entsprach dem Muster des Helden, das auch in den Göttermythen von Mithra, Dionysos und Herakles eine Rolle spielt.28

Englischsprachige Volkskundler haben dafür, dass sich jemand im wirklichen Leben an Legenden orientiert, den Fachbegriff ostension geprägt.29 Der Begriff bezieht sich darauf, dass allgemein bekannte Mythen manchmal die Verhaltensmuster normaler Menschen beeinflussen und dass diese Menschen dann bestimmte Elemente aus mythischen Erzählungen nachspielen oder vollziehen, wodurch sie Fiktion in Realität umsetzen. Ereignisse inspirieren zu Geschichten, und Geschichten beeinflussen Ereignisse. Ostension ist ein weiterer Grund, warum einige Episoden in der Lebensgeschichte des Mithridates griechische Mythen und griechisches Theater zu spiegeln scheinen. Wenn sich der König von einer Art Drehbuch des mythischen Helden leiten ließ, erklärt dies zumindest zum Teil sein phänomenales Selbstvertrauen und seine Fähigkeit, sich auch nach schweren Niederlagen wieder aufzurappeln. Seine Überzeugung, er sei ein Held im klassischen Sinn und von Geburt an für ein ruhmreiches Schicksal bestimmt, war eine Quelle seiner Hartnäckigkeit und seines Einfallsreichtums in Krisenzeiten. Er wollte der Welt unbedingt für immer im Gedächtnis bleiben.

Der junge Prinz wurde seinem Vater erst vorgestellt, als er fünf Jahre alt war – ein persischer Brauch, der den König vor Schmerz schützen sollte, falls ein Sohn schon als Kleinkind starb. Zuvor lebte der kleine Prinz mit seiner Mutter, Königin Laodike, und den Konkubinen und anderen Kindern des Königs im Harem. Er lauschte den aufregenden Sagen und Legenden, die die Frauen und die Eunuchen erzählten, kastrierte Männer, die an persisch beeinflussten Höfen als Haremswächter, aber auch als vertraute Diener, Heerführer und mächtige Berater dienten. Bemerkenswerterweise sind die Namen vieler Eunuchen des Altertums überliefert, und von diesen stammt etwa die Hälfte aus der Regierungszeit des Mithridates, eine Tatsache, die vermutlich auf den permanenten Hofintrigen jener Zeit beruht.30 Tatsächlich sollten Palastverschwörer nach dem frühzeitigen Tod des Vaters die Ermordung des jungen Königs planen. Doch das lag in ferner Zukunft. Solange der alte König noch lebte, wachte er persönlich über die Erziehung seines Erben, und Mithridates wurde ab seinem fünften Geburtstag von Hauslehrern in klassischem Griechisch und in den Pflichten eines persischen Königs unterrichtet.

Pontisches Gift

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