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Einleitung

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Vor langer Zeit in einem fernen Land, einem kleinen Königreich am Meer, erschien im Osten ein strahlender Komet am Himmel. Er verkündete die Geburt eines außergewöhnlichen Prinzen, der einst gegen das mächtigste Reich der Welt Krieg führen würde. Schon dem Kind in der Wiege wurde durch einen Blitzschlag seine spätere Größe angekündigt. Als der Prinz noch ein Junge war, wurde sein Vater, der König, von seinen Feinden im Palast vergiftet. Seine eigene Mutter, die Königin, wollte den Knaben umbringen. Doch er entkam und lebte sieben Jahre lang in der Wildnis. Er wurde stark und tapfer und lernte die Geheimnisse von Gift und Gegengift. Dann kehrte er in sein Königreich zurück und tötete die böse Königin. Er wurde König – ein innig geliebter König, der über viele Völker herrschte. Als der machtvolle Gegner auf der anderen Seite des Meeres in sein Königreich einmarschierte, schlossen sich Menschen aus vielen Ländern seinem großen Krieg gegen die Eindringlinge an. Die Kämpfe gegen das feindliche Reich dauerten, solange der König lebte. Er hatte viele wunderschöne Königinnen an seiner Seite, aber die wahre Liebe fand er nur bei einer Frau, die genauso tapfer in der Schlacht kämpfte wie er. Als der große König starb, erschütterte ein gewaltiges Beben die Erde. Seine legendären Taten blieben den Menschen noch Jahrtausende im Gedächtnis und wurden immer aufs Neue erzählt.

Es klingt wie ein Märchen.1 Fügen Sie die dokumentierten Tatsachen hinzu und es ist Geschichte. Um das Jahr 120 v. Chr. trat Mithridates VI. Eupator der Große sein Erbe an und wurde König des kleinen, aber wohlhabenden Königreichs Pontos, am Schwarzen Meer im Nordosten der heutigen Türkei gelegen. Mithridates ist ein persischer Name und bedeutet »von Mithra (dem alten persischen Sonnengott) gesandt«. Im Altertum wurde der Name auf zwei verschiedene Arten geschrieben: Auf griechischen Inschriften heißt der König Mithradates, die Römer schrieben ihn Mithridates.2 Als Spross des persischen Königsgeschlechts und Nachkomme Alexanders des Großen sah sich Mithridates als Bindeglied zwischen Ost und West und als Verteidiger des Ostens gegen die Herrschaft der Römer. Der König war eine komplizierte Herrschernatur von überragender Intelligenz und großem Ehrgeiz und er forderte die späte römische Republik zunächst durch ein brutales Massaker und dann durch eine Serie von Kriegen heraus, die fast 40 Jahre andauerte.3

Gift war zu Mithridates’ Zeit eine traditionsreiche politische Waffe. Sein eigener Vater wurde vergiftet und er selbst vereitelte mehrere Versuche, ihm das gleiche Schicksal zu bereiten. Schon als Kind träumte Mithridates davon, seinen Körper gegen Gift zu immunisieren. Nach Hunderten von Versuchen entdeckte er ein pharmakologisches Paradox, das bis heute erforscht wird: Gifte können sowohl heilsam als auch tödlich wirken. Viele glaubten, dass Mithridates’ selbst entwickeltes Gegengift der Grund für seine viel gepriesene Energie und Zähigkeit war. Dieses Elixier, das sein Markenzeichen war, wurde später von römischen Kaisern, chinesischen Mandarinen und europäischen Königen und Königinnen eingenommen, und es erschien eine Flut gelehrter Abhandlungen über die meisterhafte toxikologische Kunst des „Giftkönigs“. In diesem Buch werden erstmals die Denkanstöße und die wissenschaftlichen Prinzipien erklärt, die dem Gegengift des Mithridates zu Grunde lagen.

Der König war ein hochgebildeter Förderer der Wissenschaften. Seine Militärtechniker bauten die erste wassergetriebene Mühle und technisch fortgeschrittene Belagerungsmaschinen. Der geheimnisvolle Mechanismus von Antikythera, der erste Computer der Welt, gehörte vielleicht zu seinen kostbaren Besitztümern.

Mithridates rekrutierte riesige multiethnische Armeen in entlegenen Ländern und träumte davon, am Schwarzen Meer ein mächtiges Reich zu errichten, das sich mit dem römischen Imperium messen konnte. Er errang glänzende Siege und erlitt in einigen der spektakulärsten Schlachten des Altertums verheerende Niederlagen. Er lockte die Römer immer weiter auf fremdes Territorium und zwang sie, es zu erobern und zu besetzen, anstatt es nur auszuplündern, wie sie es ursprünglich beabsichtigt hatten. Die besten Feldherrn Roms gewannen gegen ihn eine Schlacht nach der anderen, und trotzdem bekamen sie den letzten »ungezähmten« Monarchen, der sich der römischen Dampfwalze widersetzte, nie in ihre Gewalt. Seine Anhänger verehrten ihn als den lang ersehnten Retter des Ostens, die Römer aber nannten ihn den Hannibal des Ostens.

Mithridates war schon zu Lebzeiten Legende. Nach den langen Mithridatischen Kriegen entwickelten sogar die Römer eine widerstrebende Bewunderung für ihren unerbittlichsten Feind. Sein Fortleben in Kunst, Musik und Literatur (siehe S. 430 – 432) ist ausgesprochen vielfältig. Mittelalterliche Künstler illustrierten schmerzliche Ereignisse aus seinem Leben und porträtierten ihn als edlen »schwarzen Ritter«, der die grausamen römischen Tyrannen bekämpft. Machiavelli lobte ihn als tapferen Helden4, und Ludwig XIV. war von seiner Herrschaft fasziniert. Die Tragödie, mit der Jean Racine den König und seinen todgeweihten Harem unsterblich machte, inspirierte den 14-jährigen Mozart zu seiner ersten Oper »Mitridate«. Dichter priesen den König der Gifte: »I tell the tale that I heard told. Mithridates, he died old.« (»Ich erzähl’s euch, wie ich’s weiß: Mithridates starb als Greis.«)5 Aber selbst die Einzelheiten über die letzten Stunden des Königs, seinen Tod und seine Bestattung sind geheimnisumwoben.

Seit zwei Jahrtausenden ist Mithridates wegen seiner außerordentlichen militärischen und wissenschaftlichen Leistungen eine bekannte Gestalt und neben Hannibal, Spartacus, Kleopatra und Julius Caesar eine wichtige Figur in der an interessanten Gestalten reichen Geschichte der Römischen Republik. In den vergangenen Jahrzehnten jedoch sind sein Name und seine Taten im Gedächtnis der Allgemeinheit langsam verblasst. Von allen Ländern, die »in einen tödlichen Konflikt mit Rom gerieten, ist keines mehr in Vergessenheit geraten als das Königreich Pontos«, klagte ein George W. Corner, »seine Grenzzeichen sind ausgerissen, seine Tempel eingestürzt und von seinem mächtigsten Herrscher ist nichts weiter übrig als verzerrte Legenden.«6

Doch es gibt Anzeichen, dass der Stern des Mithridates wieder im Steigen begriffen ist. Die Politik der Gegenwart leistet dazu ihren Beitrag. Neue Krisenherde flammen in vielen Regionen auf, wo einst Mithridates herrschte, kämpfte und Verbündete gewann. Im August 2008 lenkten die Kämpfe zwischen Russland und Georgien (dem antiken Kolchis) um die Gebiete Südossetien und Abchasien wieder einmal die Aufmerksamkeit der Welt auf den Kaukasus. Truppen und Flüchtlinge ergossen sich über denselben unwegsamen Gebirgspass, den zweitausend Jahre zuvor Mithridates’ fliehende Armee überquert hatte, um eine letzte Stellung auf der Krim zu beziehen.

Im Westen ist der König heute vielleicht kein Begriff, aber im Osten blieb sein Widerstand gegen den römischen Imperialismus stets im Gedächtnis. »Jeder kennt die Geschichte des Kampfes zwischen Rom und Mithridates«, erklärte der große russische Historiker Michael Rostovtzeff, und »jeder erinnert sich daran, dass Mithridates sein letztes Gefecht« in Südrussland führte.7 In einigen früheren Republiken der Sowjetunion wird Mithridates immer noch wie ein Held verehrt. So erschien 1965 in Georgien eine Biografie des Königs (unter dem Namen Mit’ridat), und in den Jahren 1993 und 2004 wurden in Russland zwei Romane über den Zaren Mitridat Jewpatorus publiziert. Zwischen den Kriegen des 20. und 21. Jahrhunderts wurden im Schwarzmeerreich des Mithridates immer wieder wissenschaftliche und archäologische Forschungsprojekte durchgeführt. Angesichts der jüngsten politischen Giftmorde in der Ukraine und in Russland zeugt es von schwarzem Humor, dass man in Pantikapaion (heute Kertsch), der alten Stadt des Königs, in der Bar »Mithridates’ Place« einen Drink bestellen kann.

In dem Gebiet, das früher von Mithridates beherrscht wurde oder mit ihm verbündet war, ist er als charismatischer Herrscher, der sich gegen das Vordringen des Westens wehrte, in Erinnerung geblieben. Für viele Einwohner Armeniens und Kurdistans zum Beispiel ist Mithridates, dort Mehrdad, Mirdad oder Mhrtat genannt, ein Nationalheld.8 Nach einer langen Periode des Vergessens erwacht auch in der Türkei wieder das Interesse an dem ersten Herrscher, der die verschiedenen Völker Anatoliens zu einen und gegen ausländische Invasoren zu verteidigen versuchte. Im Jahr 2007 veröffentlichte der Historiker Murat Arslan seine Dissertation Mithradates VI Eupator, Roma’nin Büyük Düsmanı (»Roms großer Feind«) über den »alten anatolischen Helden, der bis heute wenig bekannt und gering geachtet ist«. Arslan vergleicht Mithridates als Verteidiger Anatoliens gegen die Römer mit Alexander dem Großen, der Asien vor dem Perserreich gerettet habe. Und der führende türkische Historiker Sençer Sahin vergleicht den König mit dem türkischen Nationalhelden Kemal Atatürk, der sich erfolgreich gegen ausländische Invasoren behauptete.9

Antike Quellen über das Leben des Mithridates

Fast alles, was wir über Mithridates wissen, wurde aus der Sicht seiner Feinde geschrieben, von den Erben der imperialen römischen Kultur, die durch eine römische Brille nach Osten auf die vorrückenden Grenzen des Reiches blickten. Die erhaltenen antiken Quellen über das Leben und die Zeit des Mithridates wurden von den Romspezialisten der modernen Geschichtswissenschaft gründlich ausgewertet.10 Von den etwa 50 Texten aus dem Altertum, die Einzelheiten aus dem Leben des Mithridates berichten, sind unsere wichtigsten Quellen Justins Zusammenfassung des verschollenen Geschichtswerks von Pompeius Trogus, Appians Römische Geschichte, Cassius Dios Römische Geschichte, Strabons Geographika, Memnons fragmentarische Geschichte von Herakleia am Schwarzen Meer sowie verschiedene Reden Ciceros und Plutarchs Biografien der römischen Feldherrn Sulla, Lucullus und Pompeius, die in den Mithridatischen Kriegen kämpften. Wichtiges Material findet sich auch in der Naturalis historia Plinius des Älteren, in Fragmenten von Sallust und Livius und bei Diodor, Ammianus Marcellinus, Galen und weiteren lateinischen und griechischen Autoren.

Diesen Autoren des Altertums standen die Werke vieler anderer Geschichtsschreiber sowie zahlreiche Akten und Archive oder sogar noch lebende Augenzeugen und mündliche Überlieferungen zur Verfügung, die alle unwiederbringlich verloren sind. Weil die heute noch erhaltenen Reste aus der Perspektive des siegreichen Römischen Reiches geschrieben sind, ist es unvermeidlich, dass der Tenor unverhohlen oder versteckt parteilich ist. Um Mithridates’ Geschichte aus dessen eigener Sicht zu erzählen, müsste man von den Küsten des Schwarzen Meeres aus nicht nur nach Westen, Richtung Rom und Griechenland blicken, sondern von Mithridates’ Königreich aus in alle Richtungen auf die mit ihm verbündeten Staaten, die Rom Widerstand leisteten und jeweils eine eigene lebendige Kultur besaßen. Dieses Buch wagt den Versuch, nicht den römischen Standpunkt einzunehmen und eine Zeit ins Gedächtnis zu rufen, in der der Osten noch nicht vom gewaltigen Apparat des Römischen Reiches beherrscht war.

Schon mehrfach wurde festgestellt, dass manche Feinde der Römer am Ende mehr Nachruhm ernteten als die, die sie besiegten. Die Römer selbst waren von ihren gefährlichen Gegnern fasziniert, und wir haben ihrer Bewunderung für deren Mut und deren Ideale eine Fülle biografischen Materials zu verdanken. Einige römische Schriftsteller, darunter Cicero, Tacitus und Diodor, waren scharfe Kritiker des römischen Imperialismus und der römischen Habgier.11 Bei mindestens drei Quellen (Strabon, Plutarch und Trogus) ist festzustellen, dass die Autoren eine persönliche Beziehung zu den Mithridatischen Kriegen hatten. Sie verstanden, warum Mithridates der späten Römischen Republik so feindselig gegenüberstand, und behandelten einige Aspekte seines Lebens positiv. Leider können wir die verschollenen Berichte von Mithridates’ Zeitgenossen nicht zu Rate ziehen, die wie Rutilius Rufus, Lucius Cornelius Sisenna, Lenaios, Metrodoros und Hypsikrates noch persönlich an den Mithridatischen Kriegen beteiligt waren.

Faszinierende Hinweise in Texten des Altertums und des Mittelalters sind alles, was von einem reichen Vorrat aufregender Anekdoten übrig geblieben ist, die einst als mündliche Überlieferung über die Person des Mithridates in Umlauf waren. Jeder Fetzen schriftlicher Überlieferung ist kostbar, und dasselbe gilt auch für die künstlerischen, numismatischen, epigraphischen und archäologischen Zeugnisse, von denen viele erst kürzlich ans Licht gekommen sind. Eine erstaunliche Menge an Material über Mithridates und seine Zeit kann so zu einem flimmernden Bild zusammengesetzt werden, einem Bild von seiner Jugend und seiner Erziehung, von den Menschen, die ihn beeinflussten und die seine Helden waren, von seinen Reden und der Faszination, die er auf seine Anhänger ausübte, von seinen Militärstrategien, seinen wissenschaftlichen Experimenten und seinem Privatvergnügen, von seinen Liebesaffären, seinen Hoffnungen und Zweifeln, von seinen Motiven und letztlich von seiner komplexen Psyche. Es finden sich sogar Aufzeichnungen über die Launen, Scherze und Träume des Königs.

Die Arbeit der Historiker

Die Unvollständigkeit der antiken Überlieferung zwingt den Historiker manchmal, sich in das Reich der Vermutungen und Spekulationen zu begeben und sich in der Kunst des berühmten Detektivs Sherlock Holmes zu üben. Wenn Holmes auf »Vermutungen« angewiesen war, musste er laut eigener Aussage »Möglichkeiten abwägen und die wahrscheinlichste wählen. Es ist der wissenschaftliche Gebrauch unserer Phantasie, doch bleibt uns immer eine materielle Grundlage, auf welcher wir unsere Spekulation beginnen.«12

Wenn Althistoriker aus einem »Scherbenhaufen« eine kohärente historische Erzählung zusammenfügen und verlorene Elemente rekonstruieren, die in den alten Berichten für selbstverständlich genommen, aber nicht erwähnt werden, stützen sie sich auf antikes und modernes Wissen, um den Hintergrund aus Ökonomie, kulturellen Einflüssen, Klima, Geografie, Topografie, Naturgeschichte, politischen Bündnissen und so weiter anzureichern. Die historische Rekonstruktion ist unentbehrlich, wenn man das Leben einer historischen Figur in seiner ganzen Fülle ausleuchten will. Wer zwischen der historischen Genauigkeit und der adäquaten Darstellung einer Person der Vergangenheit ein Gleichgewicht herstellen will, kann Charaktere und Motive »mit rein geschichtswissenschaftlichen Methoden nicht vollständig und authentisch darstellen oder ausdrücken«. Um der historischen Gestalt des Mithridates, die wir nie wirklich kennen können, gerecht zu werden, dürfen wir uns »der wissenschaftlichen Anwendung der Vorstellungskraft« befleißigen, um die Lücken zwischen den erhaltenen Berichten und dem Kontext zu schließen. Dies ist bei Mithridates, einem wirklich einzigartigen und atypischen hellenistischen Herrscher, besonders angemessen.

In den letzten Jahren widmet sich die Geschichtswissenschaft außerdem zunehmend kontrafaktischen, »virtuellen«, Gedankenexperimenten, bei denen die Frage »was wäre gewesen, wenn« als Instrument dafür genutzt wird, die Bedeutung und die Weiterungen historischer Ereignisse besser zu verstehen, sich alternative Ergebnisse vorzustellen und Lücken zu schließen. Diese Technik ist allerdings keine moderne Erfindung. Schon im 5. Jahrhundert v. Chr. erzählten zum Beispiel der griechische Geschichtsschreiber Herodot und der Dramatiker Euripides alternative Versionen der Geschichte der schönen Helena – nach Euripides’ Drama sei diese nie nach Troja gekommen, sondern habe während des ganzen Krieges in Ägypten gelebt.13 Auch der römische Geschichtsschreiber Livius stellte die Frage, was geschehen wäre, wenn Alexander der Große lange genug gelebt hätte, um in Italien einzumarschieren (Livius vertrat die Ansicht, dass die Römer ihn besiegt hätten).14

The Landscape of History (2002) von John Lewis Gaddis hat mir Anregungen vermittelt, als ich die weißen Flecken im Leben des Mithridates kartierte, aber zugleich auf historische Genauigkeit achten wollte. Gaddis erklärt, wie der Historiker durch den Aufbau eines Szenarios seine Vorstellungskraft einsetzen kann, um sich in die Vergangenheit hineinzuversetzen und sie nachzuspielen.15 So ist er in der Lage, auf kontrollierte Art zu fragen, was unter bestimmten Bedingungen hätte passieren können.

Um die Geschichte des Mithridates zu erzählen (und sie in einigen Fällen zu dramatisieren), setze ich manchmal Elemente ein, die in der historischen Überlieferung fehlen. Dabei stütze ich mich auf bekannte Tatsachen, literarisches und archäologisches Material, vergleichbare Ereignisse und Wahrscheinlichkeitsüberlegungen. In diesen Fällen befolge ich die von vielen akzeptierten Regeln einer kontrollierten Alternativgeschichtsschreibung, wie sie in Niall Fergusons Virtuelle Geschichte. Historische Alternativen im 20. Jahrhundert (1999) niedergelegt sind: Die Details müssen für Ort und Zeit des Mithridates wahrscheinlich oder plausibel sein und müssen mit den Erfahrungen der Zeitgenossen übereinstimmen, die aus Literatur, Kunst und Geschichtsschreibung des Altertums und/oder der modernen Archäologie zu erschließen sind. Wendungen wie »hat vielleicht«, »könnte haben« und »war vielleicht« oder die Verwendung des Präsens signalisieren, dass es sich um eine derartige in Teilen fiktive Passage handelt. Aber ich mache stets deutlich, wenn ich Lücken gefüllt, historisch passende Details hinzugefügt, widersprüchliche Berichte in Übereinstimmung gebracht oder Szenarien vorgeschlagen habe, wie sich die Ereignisse hätten logischerweise entwickeln können. Beim Aufbau solcher Szenarien halte ich mich an das historisch Typische und an die »Bedingungen des Möglichen« in den antiken Quellen.16

Mithridates und sein Schwarzmeerreich

Trotz seiner außerordentlichen Erfolge und seiner Rolle beim Untergang der Römischen Republik wird Mithridates in Geschichts- und Populärwissenschaft bemerkenswert wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Théodore Reinachs unübertroffenes Werk Mithridate Eupator, roi du Pont (1890, die deutsche Übersetzung erschien im Jahr 1895 unter dem Titel Mithridates Eupator) ist trotz seiner Belle-Époque-Perspektive bis heute eine sehr wichtige Publikation über den König. Seit Reinach ist eine ganze Menge neues Material (an wissenschaftlichen Studien, historischen Analysen und archäologischen Funden) erschienen, das die toxikologischen Forschungen des Königs, seinen großen Nachruhm, seinen Schwarzmeerhintergrund und seine Pläne und Erfolge erklären hilft. Dieses Buch ist jedoch seit mehr als einem Jahrhundert die erste umfassende Biografie des Mithridates, die sich über den gesamten Zeitraum von seiner Geburt bis zu seinem Tod und darüber hinaus erstreckt.

Das erste englische Werk, das ausschließlich von Mithridates handelte, war die populärwissenschaftliche Biografie des Schriftstellers Alfred Duggan: He Died Old: Mithridates Eupator, King of Pontos (1958). Duggans Verweise auf »kriecherische Asiaten« und »Rothäute« lassen sein Buch entschieden vorgestrig erscheinen. Das stereotype Bild des Mithridates als grausamer, dekadenter »orientalischer Sultan«, als »asiatischer« Feind von Kultur und Zivilisation, stammt aus den 1850er Jahren und geht auf den großen deutschen Historiker Theodor Mommsen zurück.

Lâtife Summerers Untersuchung über das Mithridatesbild in der europäischen Wissenschaft lenkt die Aufmerksamkeit auf die rassistischen Vorurteile Mommsens, der Mithridates mit osmanischen Despoten verglich, und von Hermann Bengtson, der noch ein Jahrhundert später erklärte: Das Massaker von 88 v. Chr. »konnte nur im Hirn eines asiatischen Barbaren geplant werden«. Summerer weist darauf hin, dass Reinach zwar den Verstand des Mithridates lobte, aber behauptete, seine Porträts zeigten im Gegensatz zum perfekten Profil der klassischen Griechen »die breiten Nasenlöcher, die dicken Lippen und das fleischige Kinn eines zügellosen orientalischen Sultans«. Mommsens Stereotype haben zum Beispiel auch in Colleen McCulloughs Roman Eine Krone aus Gras (1991) überlebt.

Michael Curtis Fords Roman The Last King von 2004 wird aus der Sicht von Mithridates’ Sohn erzählt und porträtiert den König als brillanten griechischen Feldherrn. In Rubicon (2003, dt.: Die Würfel sind gefallen. Der Untergang der Römischen Republik, 2004) von Tom Holland hat Mithridates einen Auftritt als »ehrgeiziger Despot« aus dem Osten, »machthungrig und skrupellos«, während Philip Matyszak ihn in seiner Militärgeschichte als wild und rachsüchtig und »fast schon ein Ungeheuer«, aber als großartig in der Niederlage bezeichnet.17

Die europäische Geschichtswissenschaft nach Reinach konzentrierte sich auf bestimmte Aspekte von Mithridates’ Herrschaft. Brian McGing analysiert in The Foreign Policy of Mithridates VI Eupator (1986) Propaganda und Diplomatie des Königs. Die Feldzüge gegen Mithridates aus römischer Perspektive werden behandelt in Band 9 der Cambridge Ancient History (Crook et al. 1994). Luis Ballesteros Pastor sieht in Mitridates Eupator, rey del Ponto (1996) die Konflikte des Mithridates mit Rom als die Politik eines unabhängigen griechischen Monarchen, und Attilio Mastrocinque untersucht in Studi sulle guerre Mitridatiche (1999), wie Vorurteile aus dem Altertum das moderne Bild des Königs beeinflussten.

In letzter Zeit gilt das Interesse der Wissenschaft zunehmend auch den Ländern an der Schwarzmeerküste. Stephen Mitchells zweibändiges Werk Anatolia (1993–1995) war die erste umfassende Studie über das alte Kleinasien, und auf dem deutschen Markt erschien erst kürzlich die umfangreiche Publikation Kleinasien in der Antike aus der Feder des Züricher Althistorikers Christian Marek (2010). Das Black Sea Trade Project (1996) des Museums für Archäologie und Anthropologie der University of Pennsylvania nutzte modernste archäologische Techniken, um das antike Sinope, die Hauptstadt von Mithridates’ Königreich, zu erkunden. Im Jahr 2006 gründete der Archäologe Gocha Tsetsekhladze die interdisziplinäre Zeitschrift Ancient West & East. Das Historische Institut der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften fördert Projekte zur Erforschung Eurasiens, das sich nach der chinesischen Definition vom Gelben Meer bis zur Donau erstreckt. Deniz Burcu Erciyas (2006) untersuchte archäologische Funde zur Dynastie der Mithradatiden rund um das Schwarze Meer; Susan Alcocks Archäologie der Erinnerung enthüllt den Einfluss des römischen Imperialismus auf Armenien; und im Jahr 2009 publizierten Toni Ñaco del Hoyo und andere eine Studie über die Auswirkungen der Mithridatischen Kriege auf die Zivilbevölkerung. Das im Jahr 2002 gegründete dänische Center for Black Sea Studies war im Jahr 2007 Gastgeber einer internationalen Konferenz führender Mithridates-Experten, und 2009 wurde die herausragende Artikelsammlung Mithridates VI and the Pontic Kingdom publiziert.18

Vielen Lesern kommen angesichts der Geschichte des Mithridates vielleicht aktuelle Ereignisse im Nahen Osten, in Transkaukasien und in den früheren Sowjetrepubliken im Schwarzmeerraum in den Sinn. Ich selbst habe als Althistorikerin und Volkskundlerin unkonventionelle Methoden der Kriegführung und die Verwendung von Giften in der Antike untersucht, und genau das war es, was mein Interesse an Mithridates’ Leben und den Legenden über ihn weckte.19 Meine ersten Forschungen wurden von den Terroranschlägen auf New York und das Pentagon am 11. September 2001 überschattet. Der Angriff war von dem islamistischen Führer Osama bin Laden geplant worden, der sich danach der Gefangennahme entzog, indem er in den Bergen zwischen Afghanistan und Pakistan verschwand. Zu schreiben begann ich 2003, während des »Kriegs gegen den Terror« und der US-amerikanischen Invasion im Irak. Die Invasion wurde von Präsident Bush mit der falschen Begründung gerechtfertigt, dass der irakische Staatschef Saddam Hussein nicht nur Massenvernichtungswaffen besitze, sondern auch die für den 11. September verantwortlichen Terroristen schütze. Während ich diese Zeilen niederschreibe, ist es dem US-Militär immer noch nicht gelungen, Osama bin Laden gefangen zu nehmen oder zu töten. Gewisse Parallelen zu den jahrzehntelangen vergeblichen Versuchen der Römer, Mithridates zu fassen, sind bereits von anderen gezogen worden.

Die Schläge, die Mithridates vor 2000 Jahren einer westlichen Supermacht versetzte, sind heute wieder in das Blickfeld von westlichen Kommentatoren und von Unterstützern islamistischer Aufstände gerückt. Wie schon vor 2000 Jahren weckt der Name Mithridates dabei gegensätzliche Gefühle. Italienische Journalisten verglichen Mithridates 2003 mit Osama bin Laden. Vier Jahre später, im Jahr 2007, bemerkte der Altertumswissenschaftler und konservative Kommentator E. Christian Kopff: »Rom erlitt 88 v. Chr. seine eigene Version des 11. September«, als Mithridates »80000 römische und italische Geschäftsleute und Händler samt ihren Familien massakrieren ließ«. Obwohl mehrere römische Feldherrn Mithridates in der Schlacht besiegt hätten, sei er »im Alten Orient im Großen und Ganzen ein Held« geblieben und habe, solange er lebte, eine Bedrohung für die nationalen Interessen Roms dargestellt.20

»Die Geschichte von Rom und Mithridates ist es wert, dass auch heute noch über sie nachgedacht wird«, schreibt Robert W. Merry, ein Experte für internationale Ökonomie. »Imperiale Expansion bringt in den Randbereichen des imperialen Herrschaftsbereichs immer Gestalten wie Mithridates hervor.« Laut Merry waren die jahrzehntelangen entscheidungslosen Kriege, die zur Unterdrückung des Mithridates und seiner Anhänger im Osten führten, für das »innere Chaos und die Gewalt« verantwortlich, die bald darauf zum Ende der 400 Jahre alten Römischen Republik führten.21

Islamisten und ihre Sympathisanten bezeichnen ihren Widerstand gegen die westlichen Supermächte oft als Widerstand gegen »Rumieh« (arabisch für das Byzantinische Reich). K. Gajendra Singh, der frühere indische Botschafter in der Türkei, in Aserbaidschan und Jordanien, sieht im Irakkrieg »Echos des Mithridatismus«. Seiner Ansicht nach begann die westliche Hegemonie im Alten Orient, als das erste römische Heer in Anatolien einmarschierte. Seit dieser Zeit habe der Westen »Mithridates IV. von Pontos dämonisiert, weil er Rom die Stirn bot«. Singhs Ansicht nach beutet der Westen die Ölvorräte im Nahen Osten »unter Duldung von Klientelherrschern« aus, genau wie das Römische Reich »seine Untertanen in Asia hemmungslos besteuerte und ausbeutete«.22

Verblüffende Parallelen zwischen heutigen Weltkrisen und den Mithridatischen Kriegen entwickelten sich, während ich dieses Buch vollendete. Die neue Hochseepiraterie, bei der somalische Piraten internationale Öltanker kapern und Lösegeld für sie fordern, erinnert stark an die mächtigen Piratenflotten des ersten Jahrhunderts v. Chr., die mit Mithridates verbündet waren. Piraterie gedeiht, wenn staatliche Autorität in Frage gestellt wird und Supermächte anderweitig gebunden sind. Rom war sowohl mit Aufständen römischer Bürger und Revolten in den Provinzen als auch mit dem Kampf gegen Mithridates beschäftigt und wurde durch die Piratenplage im Schwarzen Meer und im Mittelmeer ernsthaft behindert.

Der globale wirtschaftliche Zusammenbruch von 2008/09 weist verblüffende Ähnlichkeiten mit der finanziellen Katastrophe auf, die Rom erlitt, als Mithridates 88 v. Chr. die römische Provinz Asia besetzte und die Römer dort auslöschte. Cicero erklärte einmal, »dass damals, als sehr viele in Asien große Summen verloren hatten, in Rom, weil keine Zahlungen mehr flossen, das Kreditwesen zusammenbrach. Denn es ist nicht möglich, dass in einem Staat viele Hab und Gut verlieren, ohne noch mehr mit sich in dasselbe Unglück zu ziehen.«23

Die Ereignisse aus der Sicht des Mithridates

Extreme und charismatische Persönlichkeiten haben die Öffentlichkeit schon immer in ihren Bann geschlagen. Um die Faszination der »Bösen des Altertums« (und der Moderne) zu erklären, stützt sich Edward Champlin, Biograf zweier römischer Kaiser mit notorisch schlechter Presse – Nero und Tiberius –, auf eine fundamentale Wahrheit: Menschen, die als Helden gesehen werden, sind nicht immer gute Menschen. Viele hochgelobte historische Figuren haben höchst beklagenswerte Taten begangen. Und selbst, dass einer letztlich scheiterte, muss seinen Status als Held nicht unbedingt beeinträchtigen; auch Größe in der Niederlage kann zu Nachruhm führen.

Ich kombiniere in diesem Buch Wissenschaft, Militärgeschichte und Biografie, um eine Geschichte von Genie, Charisma und Idealismus zu erzählen, die am Ende durch ein mächtiges Reich vernichtet wurden, das keinen Rivalen dulden konnte. Mithridates, der sowohl zu grausamen Taten als auch zu edlem Mitgefühl fähig war, war ein lebendes Paradox. Er war ein persischer Monarch, der das demokratische Griechenland idealisierte und die Römer als unzivilisierte Barbaren verachtete. In der typischen Sicht des klassischen Altertums wird der zivilisierte Westen (Griechenland, Rom) dem barbarischen Osten (Persien) gegenübergestellt.24 Mithridates’ Traum bestand darin, die großen Kulturen der Griechen und des Ostens zu vereinigen, um der scheinbar unaufhaltsamen Ausbreitung des Römischen Imperiums Einhalt zu gebieten. Mit diesem romantischen Ideal (und trotz letztlich unüberwindlicher Hindernisse) versuchte er ein halbes Jahrhundert lang, die Vision Alexanders von einem neuen, vielfältigen griechisch-asiatischen Reich zu verwirklichen.

Mein Ziel ist es, ein dreidimensionales, ganzheitliches Porträt von Mithridates und seiner Welt zu zeichnen und sein komplexes Erbe zu erklären. Der wortgewandte und hochgebildete Philhellene, Bewunderer Alexanders des Großen und stolzer Erbe der Perserkönige Kyros und Dareios, war ein tapferer Krieger, ein brillanter Stratege, ein verschlagener Giftmischer, ein waghalsiger Glücksspieler, ein wissenschaftlicher Forscher, ein unersättlicher Liebhaber, ein unberechenbarer Vater, ein Kenner von Kunst und Theater, ein Fluchtkünstler und zeitweiliger Terrorist und der unerbittliche Erzfeind des Römischen Reiches. Mithridates’ vielfältiges Fortleben in Kunst, Musik, Literatur und Wissenschaft ist ein wichtiger Teil seiner Geschichte. Dies ist die erste Biografie, die die populären Legenden berücksichtigt, die sich von seiner Geburt an bis heute um ihn ranken. Um sein Leben und seine Legende auszuleuchten, habe ich mich auf die denkbar größte Bandbreite an Quellen gestützt, vom antiken Bericht bis zum modernsten Forschungsergebnis, von den neusten numismatischen, archäologischen, epigraphischen und pharmakologischen Entdeckungen bis zur mittelalterlichen Chronik, zum Schauermärchen und zur europäischen Oper und Tragödie oder zum modernen Roman und Gedicht.

Wie die gegensätzlich wirkenden Gifte und Gegengifte, die Mithridates zu kontrollieren suchte, hatte auch er selbst zwei Gesichter: ein Aderlass für die beutegierige Römische Republik und ein Beschützer ihrer Beute. Am Ende gingen aus dem Konflikt die Römer als Sieger hervor. Doch Mithridates bewies der Welt, dass das junge Römische Reich nicht unbesiegbar war. Er zwang die Römer dazu, den Osten zu erobern und zu besetzen, und dieser Osten sollte sich für sie als permanenter Unruheherd erweisen. Wegen der Unterstützung für seine Sache mussten die Römer ihre imperiale Politik überdenken. Der lange Kampf gegen den furchterregenden Feind ging einher mit dem Untergang der alten römischen Ideale Ehre und Freiheit. Mithridates lotete für die Menschen des Altertums die Grenzen des gewaltsamen Widerstands aus und bereitete den Weg für die neuen Methoden des Umgangs mit der Tyrannei beim Übergang von der Römischen Republik zum Kaiserreich und von der vorchristlichen in die nachchristliche Zeit.

Die Geschichte von Mithridates ist für uns hochinteressant, und moderne Parallelen können unser Interesse womöglich noch verstärken. Wenn jedoch der neugierige Leser einfach nur in das antike Geschehen eintaucht, wird er mitgerissen von schierer Kühnheit, von epischem Trotz, vom scharfen Kontrast zwischen Mitgefühl und Idealismus hier, Verrat und Rache dort, von edlen Träumen und schrecklichen Albträumen und von der quälend großen Zahl ungelöster Rätsel. Das unglaubliche Leben und Fortleben des Mithridates ist schlicht und einfach eine richtig gute Geschichte.

Pontisches Gift

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