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Carlshaven, Waldrand, 02. Dezember 2015

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Es war kalt und die letzten Tage hatte es fast ununterbrochen geschneit, sodass die Räumfahrzeuge den Schneemassen schon nicht mehr Herr wurden. Normalerweise brauchte man mit dem Auto etwa eine dreiviertel Stunde bis hier. Heute hatte die Fahrt mehr als zwei Stunden gedauert, die halbe Stunde, die er gebraucht hatte, bis die Schneeketten endlich montiert waren, nicht eingerechnet. Kommissar Björn Handerson war erstaunt, dass er es überhaupt bis zum Tatort geschafft hatte.

Ein Schatten löste sich aus der weißen Wand vor ihm und eine in weiße Schutzkleidung gehüllte Gestalt bewegte sich auf ihn zu. In dem dichten Schneetreiben musste er schon zweimal hinschauen, um zu sehen, dass es seine Kollegin, Sergeantin Anna Carenin, war. Es erstaunte ihn immer wieder, dass die junge, ehrgeizige Polizistin es regelmäßig schaffte, noch vor ihm am Tatort zu sein. Und das sogar bei einem solchen Mistwetter.

„Und?“

„Ein Mann in den Dreißigern. Sieht ausländisch aus.“

„Wie hat man den denn bei dem Wetter hier überhaupt gefunden?“

„Oh, der klischeehafte Klassiker: Der Hund einer alten Dame hat sich beim Gassi gehen losgerissen und ist dahinten zu den Bäumen gelaufen und in dem kleinen Wäldchen verschwunden. Als er nicht zurückkam, hat sie sich einen Weg durch den Schnee gebahnt, um ihn zu suchen. Sie hat wohl einen mordsmäßigen Schreck bekommen, als sie sah, dass der Hund eine Hand aus dem Schnee ausgebuddelt hatte.“

„Sind Peter und Weidmann schon da?“

„Ja. Und die hier wirst du brauchen“, sie hielt ihm ein paar Schneeschuhe unter die Nase.

„Wo hast du die denn her?“

„Eine kleine Aufmerksamkeit von Rune aus der Kriminaltechnik. Der Mann denkt einfach an alles.“

Er zog sich die Schutzkleidung und die Schneeschuhe an und folgte seiner Kollegin zum Tatort. In diesem Aufzug fühlte er sich wie ein wandelnder Schneemann.

Sergeant Peter Müller sprach mit einer älteren Dame. Handerson hob die Hand zum Gruß, den Peter stumm erwiderte, während er sich weiter mit der Frau unterhielt. Ein Stückchen weiter stand ein kleines Zelt, das man um die Leiche herum errichtet hatte, damit sie nicht wieder zuschneite. Darin saß der kleine, dickliche Gerichtsmediziner, Morton Weidmann, mit gerunzelter Stirn über die Leiche gebeugt.

„Hallo Mort“, grüßte Handerson ihn. „Kannst du schon etwas sagen?“

„Nicht viel. Die Leiche scheint frisch zu sein, noch keine vierundzwanzig Stunden alt. Das kann aber auch täuschen. Die Umgebungstemperatur ist ja nicht gerade lauschig.“

Handerson warf einen genaueren Blick auf die Leiche. Anna hatte Recht. Der Mann musste in den Dreißigern sein. Die Nase sah krumm aus und im Gesicht war Blut. Auch die Augen wirkten, als ob ihn jemand geschlagen hatte.

„Hat man ihm die Nase gebrochen?“

„Zumindest hat er wohl ordentlich eine drauf bekommen. Ob die wirklich gebrochen ist, kann ich erst sagen, wenn ich ihn auf dem Tisch habe.“

„Ich sehe keine Einstiche oder Einschüsse.“

„Ich gerade auch nicht. Es kann aber auch sein, dass sich unter ihm eine Blutlache befindet, die wir nur wegen des vielen Schnees nicht sehen. Ich wollte ihn vor deinem Eintreffen nicht umdrehen lassen, damit du ihn in der Originalstellung siehst. Der Fotograf hat das hier schon alles Dokumentiert und die Spurensicherung hat auch schon erste Spuren genommen. Das da auf dem Hemd und der Hose scheint Erbrochenes zu ein. Wer weiß, vielleicht ist er auch erstickt. Sollen wir mal nachsehen, wie er von der anderen Seite aussieht?“

„Ja, lass uns mal schauen.“

Sie drehten den Toten um. Auch unter dem Leichnam war kein Blut zu sehen und der Rücken schien ebenfalls keine Einstich- oder -schussstellen aufzuweisen.

„Ok, du kannst ihn jetzt abtransportieren lassen“, sagte Handerson zu Weidmann.

„Na hoffentlich kommen wir bei dem Scheißwetter überhaupt mit der Leiche bis ins Institut“, grummelte Weidmann und erhob sich. „Tschüss dann.“

„Ja, Tschüss, Weidmann“, sagten Handerson und Anna wie aus einem Munde. Die junge Polizistin hatte ihnen die ganze Zeit aufmerksam zugesehen, aber keinen Ton gesagt. Peter gesellte sich zu ihnen.

„Die alte Dame heißt Petra Kaasmann. Viel habe ich nicht aus ihr herausbekommen, nur dass sie hier regelmäßig Gassi geht, weil sie in der Nähe wohnt. Der Hund war ihr heute ausgekommen, ist hierhin gelaufen und hat die Leiche ausgebuddelt. Sie ist recht geschockt und hat nach eigener Aussage fast einen Herzinfarkt erlitten, als sie die Hand aus dem Schnee ragen sah. Den Mann hat sie noch nie gesehen, weiß also auch nicht, wer er ist. Ihre Personalien habe ich aufgenommen und ihr gesagt, dass sie jetzt gehen kann. Sie will sich zu Hause erstmal einen steifen Grog machen. Ich habe ihr gesagt, das sei eine exzellente Idee.“

„Oh, ja, ich könnte auch etwas Warmes vertragen,“ sagte Handerson. „Das ist aber auch ungemütlich hier draußen. Und kalt.“

„Könntet ihr euch noch kurz auf den Tatort konzentrieren?“, fragte Anna leicht genervt. „Fällt euch nichts auf?“

„Doch“, antwortete Peter. „Der Tote hat keine Jacke an. Und eine Mütze auch nicht. Wenn ich bedenke, dass es schon seit Tagen schneit, ist das recht ungewöhnlich. Es deutet irgendwie alles darauf hin, dass der Fundort nicht der Tatort ist.“

„Genau das“, sagte Anna.

„Ok, Kinder“, mischte sich Handerson ein. „Lasst uns fahren. Wir sind bestimmt schlauer, wenn die Gerichtsmedizin, beziehungsweise die KTU, uns die persönlichen Sachen rüberschickt. Und mir frieren die Füße ein, wenn ich mir vorstelle, wie lange wir jetzt zum Revier brauchen werden.“

Als sie bei den Autos ankamen, sah Handerson wie sich die hochgewachsene, hagere Gestalt Hans Schreibers auf sie zu bewegte. Nicht der schon wieder, dachte Handerson. Der hatte ihm an diesem Tag wirklich gerade noch gefehlt. Wieso wusste der eigentlich schon wieder, dass hier eine Leiche herumlag?

„Tag Herr Kommissar. Irgendetwas Interessantes?“

„Nein, noch nicht. Ich werde Sie benachrichtigen, wenn es etwas gibt, dass ich Ihnen mitteilen darf“, gab Handerson unwirsch zurück.

„Schade, dann habe ich mir hier ganz umsonst die Füße abgefroren. Aber wenn Sie mal wieder Hilfe benötigen, wissen Sie ja, wen Sie fragen können. So ein Exklusivbericht würde sich in meinem Lebenslauf wieder mal ganz gut machen.“

Handerson hätte kotzen können. Er hasste diese Schmierfinken von der Presse wie die Pest. Dummerweise hatte er Hans Schreiber im vergangenen Jahr bei den Ermittlungen um Hilfe bitten müssen und ihm im Gegenzug dazu eine Exklusivberichterstattung ermöglicht. Seitdem meinte dieser Schreiberling, er wäre mit ihm ganz dicke und könne ihm regelmäßig auf die Nerven gehen. Anna merkte, wie Björn wieder begann, sich aufzuregen und legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter.

„Komm Björn, lass uns fahren. Meine Füße frieren mir auch langsam ab.“

Willkommen in Amberland

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