Читать книгу Willkommen in Amberland - Adrienne Träger - Страница 6
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Am späten Nachmittag saß Handerson mit einer dick geschwollenen Backe am Schreibtisch. Er hatte den halben Tag beim Zahnarzt verbracht. Nachdem dieser ihn unmenschlich lange hatte warten lassen, hatte er festgestellt, dass einer der Backenzähne ein dickes Loch hatte und Handerson daraufhin stundenlang im Mund herumgewerkelt. So langsam ließ die Wirkung der Betäubungsspritze nach, aber die Backe war immer noch dick und seine Laune hob sich nicht wirklich. Das Telefon klingelte.
„Handerson.“
„Weidmann hier. Ich kann euch zwar keinen Namen geben, aber sagen, wen ihr fragen könnt.“
„So?“
„Zhaopeng hat Fingerabdrücke genommen und sie durch sämtliche Datenbanken gejagt. Es gab einen Treffer bei EURODAC.“
„Da sieh an.“
EURODAC war eine der Datenbanken, mit denen Handerson und sein Team relativ wenig zu tun hatten. Die europäische Datenbank war im Jahr 2000 ins Leben gerufen worden, um die Anwendung des Dubliner Übereinkommens zu erleichtern und schnell und effizient zu klären, welcher Mitgliedstaat der Europäischen Union für das Asylverfahren zuständig ist. Die Datenbank beinhaltete Fingerabdrücke von Personen über vierzehn Jahren, die entweder einen Asylantrag gestellt hatten oder bei deren Aufgreifen festgestellt wurde, dass sie sich illegaler Weise im Land aufhielten. Bis Mitte dieses Jahres waren es nur die Asylbehörden eines Landes, die Zugriff auf das System hatten. Eine neue EU-Verordnung weitete nun die Zugriffsrechte auch auf die Sicherheitsbehörden aus. Die Entscheidung hatte europaweit für Entrüstung gesorgt, da sie Asylsuchende und Flüchtlinge automatisch kriminalisierte. Datenschützer fürchteten zudem, dass eine Aushöhlung der Persönlichkeitsrechte folgen würde. Vielleicht wurden ja demnächst auch die Fingerabdrücke, die im Pass gespeichert waren, in einer zentralen Datenbank abgelegt und allen möglichen Behörden zugänglich gemacht.
„Der Mann hat hier in Carlshaven am 12. November einen Asylantrag gestellt. Mehr bekomme ich aus diesem blöden System nicht heraus“, erklärte Weidmann.
„Kein Name?“
„Nein, den spuckt die Datenbank nicht aus. Zumindest uns nicht. Ist anonymisiert. Hier ist nur eine Nummer, mit der du zum Bundesamt für Asylfragen gehen kannst. Die müssten dir sagen können, wer der Mann war. Hast du was zu schreiben?“
„Ja, schieß los.“
Handerson notierte sich die Nummer und das Datum, an dem der Antrag gestellt worden war, auf einem Zettel.
„Das ist auf jeden Fall schon einmal eine ganze Menge. Danke dir. Weißt du schon, woran er gestorben ist?“
„Ich bin weder Hellseher noch Hexer. Sei froh, dass Zhaopeng heute überhaupt Zeit hatte, die Fingerabdrücke zu nehmen“, antwortete Weidmann gereizt und knallte den Hörer auf die Gabel.
Handerson sah den Telefonhörer an und schüttelte den Kopf. Dann legte er wieder auf. Es war, wie in allen anderen Ländern auch. Die Polizei und auch die Gerichtsmedizin waren chronisch unterfinanziert. Wer Ergebnisse haben wollte, musste Wochen, Monate oder gar Jahre darauf warten. Weidmann hatte Recht. Dass die Identität des Toten möglicherweise so schnell geklärt werden konnte, grenzte an ein Wunder. Eine abgeschlossene Autopsie konnte Handerson nun nicht auch noch erwarten.
„War das Weidmann?“, fragte Peter.
„Ja. Zhaopeng hat heute die Fingerabdrücke genommen und sämtliche Datenbanken damit gefüttert. Unser Toter hatte seine Papillen in EURODAC gespeichert. Er hat vor knapp vier Wochen hier in Carlshaven einen Asylantrag gestellt.“
„Aber wie der hieß und wo der wohnte, stand da nicht rein zufällig?“, fragte Peter.
„Ich glaube, solche Daten speichert das System gar nicht oder sie sind nicht jedem zugänglich. Auf jeden Fall wusste Weidmann nicht mehr. Hat eigentlich einer von euch eine Ahnung, wie das mit den Asylbewerbern hier so funktioniert? Ich habe da zwar mal ein Seminar gemacht, aber das ist schon ewig her und da hat sich bestimmt auch schon viel geändert. Wir von der Mordkommission haben damit ja auch normaler Weise relativ wenig zu tun.“
„Nö“, antwortete Peter.
„Ich zwar auch nicht, aber von David weiß ich, dass die Asylgruppe von Amnesty International hier in Carlshaven alle zwei Wochen montags eine Sprechstunde für Flüchtlinge abhält. Ich könnte ja heute Abend einmal mit ihm hingehen“, sagte Anna.
Davids Mitgliedschaft in einer speziellen Länderkoordinationsgruppe von Amnesty International hatte dazu geführt, dass die Mordkommission ihn damals zu dem Fall, der zunächst ein simpler Selbstmord zu sein schien, als Experten hinzugezogen hatte. Da Anna jetzt mit ihm zusammen war, bekam sie immer am Rande mit, was im Amnesty-Bezirk Carlshaven so vor sich ging.
„Das ist eine sehr gute Idee. Lass dir mal erklären, wie das hier mit den Flüchtlingen funktioniert“, sagte Handerson und guckte auf die Uhr. „Mann, ist das schon spät. Beim Bundesamt für Asylfragen ist jetzt bestimmt keiner mehr. Da fahren wir dann morgen Vormittag direkt als erstes hin. Vielleicht finden wir ja dann heraus, wer unser Toter ist. Kommt, lasst uns Feierabend machen. Heute erreichen wir eh nichts mehr.“