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1 Eine Reisebekanntschaft

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England!

England nach so vielen Jahren!

Wie würde es ihm gefallen?

Diese Frage stellte sich Luke Fitzwilliam, während er über den Landungssteg zum Kai hinunterstieg. Sie hielt sich während der ganzen Wartezeit im Zollschuppen im Hintergrund seiner Gedanken. Sie drängte sich plötzlich in den Vordergrund, als er endlich im Fähr-Zug saß.

England auf Urlaub war eine Sache. Jede Menge Geld zum Verjubeln (jedenfalls anfangs!), Besuche bei alten Freunden, Treffen mit anderen zeitweiligen Heimkehrern gleich ihm – das unbekümmerte Gefühl: »Es ist ohnehin nicht für lange. Da kann ich genauso gut meinen Spaß haben! Bald geht’s ja wieder zurück.«

Doch diesmal war von Zurück keine Rede mehr. Vorbei die stickig heißen Nächte, vorbei die grelle Sonne und tropisch betörende, üppige Vegetation, vorbei die einsamen Abende mit zerlesenen alten Exemplaren der Times als einziger Lektüre.

Hier war er, ehrenhaft entlassen, mit einem Ruhesold und einem bescheidenen eigenen Vermögen, ein Gentleman ohne Verpflichtungen, der nach England zurückgekehrt war. Was würde er mit sich anfangen?

England! England an einem Tag im Juni, mit einem grauen Himmel und einem beißend scharfen Wind. Nicht gerade ein herzlicher Empfang, was die Heimat ihm da bot! Und die Menschen erst! Himmel, die Menschen! Scharenweise Gesichter, so grau wie der Himmel – bange, besorgte Gesichter. Und auch die Häuser, die überall wie Pilze aus dem Boden schossen. Hässliche kleine Häuser! Widerliche kleine Häuser! Die ganze Landschaft voll von prätentiös herausgeputzten Schuhkartons!

Luke Fitzwilliam riss die Augen von der Landschaft los, die vor dem Fenster des Eisenbahnwaggons vorüberzog, und nahm sich die Zeitungen vor, die er erst eben gekauft hatte: die Times, das Daily Clarion und den Punch.

Er fing mit dem Clarion an. Die aktuelle Ausgabe befasste sich ausschließlich mit Epsom.

Ein Jammer, dachte Luke, dass wir nicht schon gestern eingelaufen sind. Ich habe kein Derby mehr miterlebt, seit ich neunzehn war.

Er hatte beim Sweepstake-Rennen auf ein Pferd gesetzt, und jetzt sah er nach, welche Chancen ihm der Korrespondent des Clarion einräumte. Wie er feststellen musste, wurde es mit einem einzigen Satz abgetan.

»Von den anderen haben Jujube II., Mark’s Mile, Santony und Jerry Boy kaum eine Chance, sich zu platzieren. Ein vielversprechender Außenseiter ist …«

Doch Luke war der vielversprechende Außenseiter egal. Er studierte schon die Wettquoten. Für Jujube II. wurden bescheidene 40 zu 1 angeboten.

Er warf einen Blick auf seine Uhr. Viertel vor vier. Was soll’s, dachte er, ist ohnehin schon gelaufen. Und er wünschte, er hätte auf Clarigold gesetzt, den zweiten Favoriten.

Dann schlug er die Times auf und widmete sich ernsteren Themen.

Nicht allzu lange allerdings, denn ein grimmig aussehender Colonel in der Ecke gegenüber erzürnte sich derart über das, was er seinerseits gerade gelesen hatte, dass er sich gedrängt fühlte, seinen Mitreisenden an seiner Empörung teilhaben zu lassen. Es verging eine geschlagene halbe Stunde, ehe der gute Mann müde wurde zu erläutern, was er von »diesen verfluchten kommunistischen Aufwieglern« hielt.

Doch endlich ging dem Colonel die Puste aus, und binnen kurzem war der Gute mit offenem Mund eingeschlafen. Bald darauf verlangsamte der Zug seine Fahrt und blieb schließlich stehen. Luke sah zum Fenster hinaus. Sie befanden sich in einem großen, wie ausgestorben wirkenden Bahnhof mit zahlreichen Perrons. Ein Stück weiter den Bahnsteig entlang prangte an einem Zeitungskiosk ein Plakat: DERBY-ERGEBNIS. Luke öffnete die Tür, sprang hinaus und rannte zum Kiosk. Einen Augenblick später starrte er schon mit einem breiten Grinsen auf ein paar verschmierte Zeilen des Extrablatts.

Derby-Ergebnis

JUJUBE II.

MAZEPPA

CLARIGOLD

Luke grinste hochzufrieden. Hundert Pfund zum Verjubeln! Guter alter Jujube II., dem kein Buchmacher etwas zugetraut hatte …

Er faltete die Zeitung zusammen und drehte sich um, noch immer ein Grinsen im Gesicht – und starrte ins Leere. In seiner Aufregung über den Sieg Jujubes II. hatte er nicht mitbekommen, dass der Zug klammheimlich wieder losgefahren war.

»Wann zum Teufel ist der Zug denn abgefahren?«, herrschte er einen trübe dreinschauenden Gepäckträger an.

Dieser entgegnete:

»Was denn für’n Zug? Seit dem 15-Uhr-14 hat kein Zug mehr gehalten.«

»Gerade eben hatte einer gehalten. Ich bin da ausgestiegen. Der Fähr-Express.«

Der Gepäckträger entgegnete dienstlich:

»Der Fähr-Express hält bis London nirgendwo.«

»Hat er aber«, versicherte ihm Luke. »Ich bin ja gerade ausgestiegen.«

»Der hält bis London nirgendwo«, wiederholte der Gepäckträger, zu keinerlei Kompromissen bereit.

»Wenn ich’s Ihnen doch sage: Er hat an genau diesem Bahnsteig gehalten, und ich bin ausgestiegen!«

Mit Fakten konfrontiert, änderte der Mann seinen Standpunkt.

»Das hätten Sie nicht tun dürfen«, sagte er vorwurfsvoll. »Er hält hier nicht.«

»Hat er aber!«

»Das war wegen dem Signal, deswegen. Stoppsignal. Das war nicht das, was man ›halten‹ nennt.«

»Derlei Unterscheidungen sind mir zu hoch«, sagte Luke. »Was mich interessiert, ist: Was mache ich jetzt?«

Der Gepäckträger, sichtlich ein langsamer Denker, wiederholte vorwurfsvoll: »Sie hätten nicht aussteigen dürfen.«

»Ich bekenne mich schuldig«, sagte Luke. »Die Untat ist getan, unwiderruflich – nichts, was geschah, wird jemals ungeschehen, woran nichts zu ändern ist, dagegen hilft kein Jammern. Sprach der Rabe: ›Nimmermehr‹ – und so weiter und so fort. Worauf ich hinauswill, ist: Was würden Sie, ein des Dienstplans der Eisenbahngesellschaft Kundiger, mir als weiteres Vorgehen anraten?«

»Sie wollen wissen, was Sie jetzt am besten tun sollten?«

»Das«, sagte Luke, »war der Inhalt meiner Frage. Es gibt doch wohl, wie ich vermute, auch Züge, die wirklich und offiziell hier halten?«

»Klar doch«, sagte der Gepäckträger. »Am besten, Sie nehmen den 16-Uhr-25.«

»Wenn der 16-Uhr-25 nach London fährt«, sagte Luke, »dann ist der 16-Uhr-25 mein Zug!«

Diesbezüglich beruhigt, begann Luke, den Bahnsteig auf und ab zu schlendern. Ein großes Schild informierte ihn, dass er sich in Fenny Clayton Junction befand, dem Abzweig nach Wychwood-under-Ashe, und genau in dem Moment fuhr ein einzelner Waggon, der von einer antiquierten kleinen Lok rückwärtsgeschoben wurde, langsam schnaufend ein und blieb auf einem bescheidenen Nebengleis stehen. Sechs oder sieben Personen stiegen aus und kamen über eine Fußgängerbrücke auf Lukes Bahnsteig. Der trübsinnige Gepäckträger wurde prompt aktiv und fing an, einen großen, mit Kisten und Körben vollgestapelten Handwagen planlos durch die Gegend zu schieben, während ein weiterer Träger, seinem Beispiel folgend, mit Milchkannen zu scheppern begann. Fenny Clayton erwachte zum Leben.

Endlich fuhr, mit maßlos selbstgefälliger Miene, der Londoner Zug ein. Die Waggons der dritten Klasse waren überfüllt, und erster Klasse gab es überhaupt nur drei Abteile, und in jedem davon saß bereits jemand. Luke nahm die Coupés nacheinander in Augenschein. Das erste, ein Raucherabteil, beherbergte einen Herrn militärischen Aussehens, der eine Zigarre rauchte. Luke fand, dass sein Bedarf an angloindischen Colonels für heute gedeckt war. Er schritt zum nächsten Coupé, in dem eine müde aussehende, anständig gekleidete junge Frau, möglicherweise eine Gouvernante, samt einem sichtlich tatendurstigen, etwa dreijährigen kleinen Jungen saß. Luke zog hastig weiter. Die nächste Abteiltür stand offen und gab den Blick auf einen einzelnen Passagier frei, eine ältere Dame. Sie erinnerte Luke entfernt an eine seiner Tanten, seine Tante Mildred, die ihm als Zehnjährigem tapfer gestattet hatte, sich eine Ringelnatter zu halten. Für eine Tante war Tante Mildred ohne Frage eine ganz patente Person gewesen. Luke betrat das Abteil und setzte sich hin.

Nach rund fünfminütiger emsiger Aktivität aufseiten von Milchwagen, Gepäckkarren und sonstigen Sensationen setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Luke schlug seine Zeitung auf und wandte sich solchen Meldungen zu, die einen Mann interessieren mochten, der bereits seine Morgenzeitung konsumiert hatte.

Er machte sich keine Hoffnungen, lange lesen zu können. Als ein Mann mit vielen Tanten war er sich ziemlich sicher, dass die reizende alte Dame ihm gegenüber nicht beabsichtigte, die Fahrt nach London schweigend zurückzulegen.

Er hatte sich nicht getäuscht – ein Fenster musste geschlossen, ein heruntergefallener Schirm aufgehoben werden, und schon war die alte Dame dabei, ihm zu erklären, was für ein guter Zug das sei.

»Nur eine Stunde und zehn Minuten. Das ist sehr gut, wissen Sie, ganz ausgezeichnet. Viel besser als der Morgenzug. Der braucht eine Stunde und vierzig Minuten.«

Sie fuhr fort:

»Natürlich nimmt praktisch jeder den Morgenzug. Ich meine, an verbilligten Tagen wäre es ja auch albern, den Nachmittagszug zu nehmen. Ich wollte ja eigentlich auch den Morgenzug nehmen, aber Wonky Pooh war verschwunden – das ist mein Kater, ein Perser, eine richtige Schönheit, nur dass er neuerdings Schmerzen im einen Ohr hat –, und natürlich konnte ich nicht aus dem Haus, solange er sich nicht wieder eingefunden hatte!«

Luke murmelte:

»Natürlich nicht«, und starrte demonstrativ gleich wieder in seine Zeitung. Aber es half nichts. Der Redeschwall riss nicht ab.

»Also habe ich das Beste daraus gemacht und stattdessen den Nachmittagszug genommen, und natürlich ist es andererseits eine Wohltat, weil er nicht so überfüllt ist – nicht, dass das eine Rolle spielte, wenn man erster Klasse reist. Natürlich tue ich das normalerweise nicht. Ich meine, ich müsste es eigentlich als die pure Verschwendung ansehen, bei den Steuern und den immer knapperen Dividenden, während die Dienstboten und überhaupt alles immer teurer wird – aber Sie müssen verstehen, ich war richtig ärgerlich, weil ich in einer äußerst wichtigen Angelegenheit nach London musste, und ich wollte mir ganz genau zurechtlegen, was ich sagen würde – im Kopf, Sie verstehen, ganz leise« – Luke verkniff sich ein Lächeln –, »und wenn Leute, die man kennt, ebenfalls im Zug sitzen, nun ja, man will ja nicht unfreundlich erscheinen, also dachte ich mir, das eine Mal wäre die Ausgabe völlig vertretbar – obwohl ich wirklich der Meinung bin, dass heutzutage viel zu viel vergeudet wird, und niemand spart oder denkt an die Zukunft. Es ist wirklich ein Jammer, dass es keine Sonderangebote mehr gibt – die haben immer ziemlich viel ausgemacht.

Natürlich«, fuhr sie nach einem flüchtigen Blick auf Lukes sonnengebräuntes Gesicht hastig fort, »weiß ich, dass Soldaten im Urlaub keine andere Wahl haben, als erster Klasse zu fahren. Ich meine, von Offizieren wird das einfach erwartet …«

Luke wurde vom forschenden Blick zweier eifriger Augen erfasst und gab jeden Widerstand auf. Früher oder später, wusste er, wäre es ja doch so gekommen.

»Ich bin kein Soldat«, sagte er.

»Oh, Verzeihung, ich wollte nicht – ich dachte nur – weil Sie doch so braun sind – vielleicht aus dem Osten, dachte ich – auf Heimaturlaub?«

»Ich bin tatsächlich frisch aus Südostasien zurück«, sagte Luke. »Aber nicht auf Urlaub.« Und dann kam er weiteren Erkundigungen durch die knappe Mitteilung zuvor: »Ich bin Polizeibeamter.«

»Bei der Polizei? Also das ist jetzt wirklich hochinteressant! Eine liebe Freundin von mir – also deren Junge ist gerade zur Palestine Police gegangen.«

»Mayang, Straits Settlements«, sagte Luke, die Sache abermals abkürzend.

»Ach herrje – sehr interessant. Das ist ja wirklich ein Zufall – ich meine, dass Sie sich ausgerechnet in dieses Abteil gesetzt haben. Denn wissen Sie, diese Sache, wegen der ich in die Stadt fahre – also, um genau zu sein, will ich zu Scotland Yard!«

»Tatsächlich?«, sagte Luke.

Er dachte: Hat sie bald ausgequasselt, oder geht das bis London so weiter? Aber das störte ihn eigentlich nicht allzu sehr, denn er hatte seine Tante Mildred sehr gern gehabt, und er erinnerte sich, wie sie ihm einmal genau im richtigen Augenblick einen Fünfer zugesteckt hatte. Außerdem hatten alte Damen wie Tante Mildred und diese hier etwas sehr Heimeliges und Englisches an sich. Jemand wie sie war in Mayang einfach nicht zu haben. Sie gehörten in dieselbe Kategorie wie Plumpudding zu Weihnachten und Dorf-Kricket und Kamine mit knisternden Holzscheiten. Die Sorte Dinge eben, die man sehr zu schätzen wusste, wenn man sie nicht hatte und sich am anderen Ende der Welt befand. (Das waren natürlich auch genau die Dinge, die einem besonders auf die Nerven gingen, wenn sie reichlich zur Verfügung standen, aber wie wir uns erinnern, hatte Luke erst drei, vier Stunden zuvor wieder englischen Boden betreten.)

Vergnügt fuhr die alte Dame fort:

»Ja, ich wollte eigentlich schon heute Vormittag hin, aber dann kam mir, wie gesagt, diese schreckliche Aufregung wegen Wonky Pooh dazwischen! Aber Sie glauben doch auch nicht, dass es zu spät sein wird, nicht? Ich meine, Scotland Yard hat doch wohl keine festen Öffnungszeiten.«

»Ich glaube nicht, dass sie um vier den Laden dichtmachen oder sonst etwas in der Art«, sagte Luke.

»Nein, natürlich nicht, das ginge ja auch nicht an, oder? Ich meine, jemand könnte auch mitten in der Nacht ein schweres Verbrechen zu melden haben, nicht wahr?«

»Ganz genau«, sagte Luke.

Die alte Dame verstummte vorübergehend. Sie machte ein besorgtes Gesicht.

»Ich meine, dass es immer besser ist, gleich an die Quelle zu gehen«, sagte sie endlich. »John Reed ist ja ein ganz reizender Bursche – das ist unser Constable in Wychwood, ein sehr höflicher, angenehmer Mensch –, aber ich glaube nicht, dass er der geeignete Mann wäre, sich um etwas wirklich Wichtiges zu kümmern. Er weiß, wie man mit Leuten umgehen muss, die zu viel getrunken haben oder die zu schnell gefahren sind oder ohne Licht – oder mit Leuten, die ihren Hund nicht angemeldet haben, und vielleicht sogar mit einem Einbruch. Aber ich glaube nicht – ich bin mir sicher, dass er nicht der Richtige wäre, um sich mit einem Mord zu befassen!«

Luke hob die Augenbrauen.

»Mord?«

Die alte Dame nickte energisch.

»Ja, Mord. Sie sind überrascht, das sehe ich Ihnen an. Das war ich anfangs auch … Ich konnte es wirklich nicht glauben. Ich dachte, dass ich mir bestimmt alles nur einbildete.«

»Sind Sie sicher, dass es nicht wirklich so war?«, fragte Luke taktvoll.

»Oh, absolut!« Sie nickte entschieden. »Beim ersten Mal hätte es ja noch sein können, aber nicht beim zweiten oder dritten oder vierten Mal. Spätestens dann weiß man es.«

Luke sagte:

»Meinen Sie damit, es hat – äh – mehrere Morde gegeben?«

Die leise, sanfte Stimme erwiderte:

»Eine ganze Menge sogar, fürchte ich.«

Sie fuhr fort:

»Deswegen dachte ich ja, dass es das Beste wäre, direkt zu Scotland Yard zu gehen und dort die Sache anzuzeigen. Meinen Sie nicht auch, dass das die beste Vorgehensweise ist?«

Luke sah sie nachdenklich an und sagte dann:

»Doch, ja, ich glaube, Sie haben vollkommen recht.«

Insgeheim dachte er:

Sie werden schon wissen, wie sie zu nehmen ist. Wahrscheinlich schneien wöchentlich ein halbes Dutzend alte Damen bei ihnen herein und erzählen ihnen von den zahllosen Morden, die in ihren netten, friedlichen Dörfchen so begangen werden! Gut möglich, dass es ein spezielles Dezernat für die Abfertigung solcher Omis gibt.

Und ihm schwebte das Bild eines väterlichen Superintendents oder eines schmucken jungen Inspektors vor Augen, der taktvoll murmelte:

»Danke vielmals, Ma’am, wir sind Ihnen wirklich sehr verbunden. Jetzt können Sie getrost wieder nach Hause fahren und alles weitere uns überlassen und brauchen sich wegen der Angelegenheit keine Gedanken mehr zu machen.«

Bei der Vorstellung musste er ein bisschen lächeln. Er dachte:

Wie sie wohl auf derlei Hirngespinste kommen? Reaktion auf ein sterbenslangweiliges Dasein vermutlich – eine uneingestandene Sehnsucht nach Dramatik. Manche alten Damen, hört man, haben die fixe Idee, alle würden ihr Essen vergiften.

Die zarte, leise Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

»Wissen Sie, ich erinnere mich, einmal gelesen zu haben – ich glaube, es ging um den Fall Abercrombie –, natürlich hatte er schon eine ganze Menge Menschen vergiftet, bevor jemand auch nur Verdacht schöpfte –, was wollte ich gerade sagen? Ach ja, jemand erklärte also, es gebe da so einen Blick – einen besonderen Blick, mit dem er jemand Beliebiges ansah –, und kurz darauf würde die betreffende Person krank werden. Als ich das las, habe ich das natürlich nicht so richtig geglaubt, aber es ist wahr!«

»Was ist wahr?«

»Der Blick eines Menschen …«

Luke starrte sie an. Sie zitterte leicht, und ihre reizenden Apfelbäckchen hatten etwas von ihrer Farbe eingebüßt.

»Zum ersten Mal habe ich das bei Amy Gibbs beobachtet – und prompt ist sie gestorben. Und dann war es Carter. Und Tommy Pierce. Jetzt aber, gestern, war es Dr. Humbleby – und er ist doch so ein guter Mensch, ein wirklich guter Mensch! Carter hat natürlich getrunken, und Tommy Pierce war ein schrecklich ungezogener kleiner Junge und tyrannisierte immer die noch kleineren Jungs, verdrehte ihnen den Arm und zwickte sie. Um die hat es mir nicht sonderlich leidgetan, aber bei Dr. Humbleby ist es eine andere Sache. Er muss gerettet werden! Und das Schlimme ist, wenn ich zu ihm hinginge und ihm die ganze Sache erzählte, würde er mir nicht glauben! Er würde nur lachen! Und John Reed würde mir ebenso wenig Glauben schenken. Aber bei Scotland Yard wird es anders sein. Denn dort sind sie natürlich an Verbrechen gewöhnt!«

Sie warf einen Blick aus dem Fenster.

»Ach herrje, wir sind ja gleich da!« Sie geriet in leichte Aufregung, klappte ihre Handtasche auf und zu und griff nach ihrem Regenschirm.

»Danke, danke vielmals.« Dies an Luke gewandt, als er den Schirm zum zweiten Mal aufhob. »Es ist so eine Erleichterung gewesen, mit Ihnen reden zu können – äußerst liebenswürdig von Ihnen –, ich bin ja so froh, dass Sie meine Entscheidung für richtig halten.«

Luke entgegnete freundlich:

»Ich bin sicher, bei Scotland Yard wird man Ihnen bestimmt weiterhelfen können.«

»Ich bin Ihnen wirklich sehr dankbar.« Sie kramte in ihrer Handtasche. »Meine Karte – ach herrje, ich habe nur eine dabei, die brauche ich aber noch – für Scotland Yard.«

»Natürlich, natürlich.«

»Aber mein Name ist Pinkerton.«

»Ein überaus passender Name, Miss Pinkerton«, sagte Luke mit einem Lächeln und fügte dann, als er ihre leicht verwirrte Miene sah, hastig hinzu: »Mein Name ist Luke Fitzwilliam.«

Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, fragte er:

»Darf ich Ihnen ein Taxi besorgen?«

»Oh, nein, danke.« Miss Pinkerton schien von dem Vorschlag geradezu schockiert. »Ich werde die U-Bahn nehmen. Die bringt mich zum Trafalgar Square, und dann gehe ich Whitehall hinunter.«

»Na dann, viel Glück«, sagte Luke.

Miss Pinkerton schüttelte ihm herzlich die Hand.

»Wirklich liebenswürdig«, murmelte sie noch einmal. »Wissen Sie, im allerersten Moment hatte ich gedacht, Sie würden mir nicht glauben.«

Luke hatte den Anstand zu erröten.

»Na ja«, sagte er. »So viele Morde! Ziemlich schwierig, gleich mehrere Morde zu begehen und nicht erwischt zu werden …«

Miss Pinkerton schüttelte den Kopf. Sie sagte ernsthaft:

»Oh nein, mein lieber Junge, da irren Sie gewaltig! Es ist ganz leicht zu töten – solange einen niemand verdächtigt. Und die fragliche Person, müssen Sie wissen, ist wirklich die Letzte, die jemand verdächtigen würde!«

»Nun, wie auch immer, alles Gute«, sagte Luke.

Miss Pinkerton verschwand im Gedränge. Er selbst machte sich auf die Suche nach seinem Gepäck und dachte dabei:

Ein ganz kleines bisschen plemplem? Nein, ich glaube eigentlich nicht. Eine lebhafte Phantasie, das ist alles. Ich hoffe, sie bringen sie schonend auf den Boden der Tatsachen zurück. Ein reizendes altes Mädchen!

Das Sterben in Wychwood

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