Читать книгу Die Büchse der Pandora - Agatha Christie - Страница 3
Der Besuch der Fee
ОглавлениеMrs Thomas Beresford rückte sich auf dem Diwan zurecht und schaute trübselig aus dem Fenster. Der Ausblick war kein weiter, er bestand lediglich aus einem niedrigen Mietshaus auf der anderen Straßenseite. Mrs Beresford seufzte und gähnte.
»Ich wollte, es würde etwas geschehen«, sagte sie.
Ihr Mann schaute vorwurfsvoll auf.
»Vorsicht, Tuppence. Dieses Verlangen nach oberflächlichen Sensationen beunruhigt mich.«
Tuppence seufzte und schloss träumerisch die Augen.
»Und so wurden Tommy und Tuppence zu Mann und Frau«, sang sie, »und lebten glücklich und zufrieden immerdar. Und sechs Jahre später leben sie weiterhin glücklich und zufrieden immerdar! Es ist doch erstaunlich«, meinte sie, »wie sich alles immer ganz anders entwickelt, als man es sich vorgestellt hat.«
»Eine sehr tiefe Erkenntnis, Tuppence, wenn auch nicht originell. Bedeutende Dichter und noch bedeutendere Gottesmänner haben das schon lange gesagt und, verzeih das harte Wort, besser ausgedrückt.«
»Vor sechs Jahren«, fuhr Tuppence fort, »hätte ich geschworen, dass mit genügend Geld in der Tasche und mit dir als Ehemann das ganze Leben ein einziges Paradies auf Erden sein müsste, wie es einer der Dichter, mit denen du dich ja so gut auskennst, ausdrückte.«
»Bin ich es oder ist es das Geld, das seinen Reiz verloren hat?«, erkundigte sich Tommy kühl.
»›Reiz verloren‹ ist nicht ganz der richtige Ausdruck«, bemerkte Tuppence wohlwollend. »Ich habe mich einfach an den Gottessegen gewöhnt, das ist alles. So wie man nie darüber nachdenkt, wie wunderbar es ist, durch die Nase atmen zu können – bis man sich einen Schnupfen geholt hat.«
»Soll ich dich ein wenig vernachlässigen«, schlug Tommy vor, »andere Frauen in Nachtlokale ausführen und dergleichen?«
»Zwecklos. Du würdest mich dort bloß mit anderen Männern antreffen. Und ich wüsste genau, dass du dir aus den anderen Frauen nichts machst, während du dir nie ganz sicher sein könntest, ob mir die anderen Männer nicht doch gefallen. Frauen sind so viel gründlicher als Männer.«
»Nur in der Bescheidenheit liegen Männer vorn«, brummte Tommy. »Aber mal im Ernst, Tuppence, was ist los mit dir? Woher diese sehnsuchtsvolle Unzufriedenheit?«
»Ich weiß es nicht. Ich will, dass etwas geschieht. Etwas Aufregendes. Hättest du nicht auch mal wieder Lust, deutsche Spione zu jagen, Tommy? Denk doch nur an die stürmischen Tage der Gefahr, die wir überstanden haben! Ich weiß natürlich, dass du jetzt mehr oder weniger für den Geheimdienst arbeitest – aber doch nur hinter dem Schreibtisch.«
»Du hättest es also gern, dass sie mich als bolschewistischen Schmuggler verkleidet ins finsterste Russland schicken, etwas in der Art?«
»Das würde gar nichts nützen«, meinte Tuppence. »Ich dürfte ja nicht mitkommen, und ich bin doch diejenige, die unbedingt etwas zu tun haben möchte. Eine Aufgabe haben. Das sage ich doch von früh bis spät.«
»Der Wirkungskreis der Frau.« Tommy wies mit ausladender Geste um sich.
»Zwanzig Minuten Arbeit nach dem Frühstück genügen, um den Zeiger auf Perfektion zu halten. Du hast doch nicht zu klagen, oder?«
»Deine Haushaltsführung ist so perfekt, dass sie mir vor lauter Perfektion schon gar nicht mehr auffällt.«
»Wie schön ist doch Dankbarkeit. Du hast natürlich deine Arbeit, aber sehnst du dich nicht auch manchmal heimlich nach Aufregung, danach, dass etwas geschieht?«
»Nein«, sagte Tommy, »nein, ich glaube nicht. Die aufregenden Sachen können auch sehr unerfreulich sein.«
»Wie besonnen Männer doch sind!«, seufzte sie. »Spürst du denn niemals ein wildes, heimliches Verlangen nach Romantik, nach Abenteuer, nach Leben?«
»Was hast du in letzter Zeit gelesen, Tuppence?«, fragte Tommy.
»Stell dir nur vor, wie aufregend es wäre, wenn wir plötzlich wilde Schläge an der Tür hörten, und hereingetaumelt käme ein toter Mann.«
»Wenn er tot wäre, könnte er nicht taumeln«, bemerkte Tommy kritisch.
»Du weißt, was ich meine«, sagte Tuppence. »Sie taumeln immer herein, bevor sie sterben, und beim Zusammenbrechen stammeln sie noch ein paar rätselhafte Worte: ›Der fleckige Leopard‹ oder so etwas.«
»Ich rate dir zur Lektüre von Schopenhauer oder Immanuel Kant«, bemerkte Tommy.
»Das wäre eher etwas für dich«, versetzte Tuppence. »Du wirst langsam fett und bequem!«
»Das ist nicht wahr!«, sagte Tommy entrüstet. »Und überhaupt, du machst doch selbst Gymnastik für die Figur.«
»Das machen alle«, sagte Tuppence. »Als ich sagte, du wirst fett, war das bildlich gemeint: Du wirst wohlhabend, wohlgenährt und bequem.«
»Ich weiß wirklich nicht, was über dich gekommen ist«, entgegnete ihr Ehemann.
»Der Geist des Abenteuers«, raunte sie. »Immerhin besser als Sehnsucht nach einer Romanze. Das habe ich auch manchmal. Ich stelle mir vor, wie ich einem Mann begegne, einem wirklich attraktiven Mann …«
»Du bist mir begegnet«, bemerkte Tommy. »Genügt dir das nicht?«
»Ein braun gebrannter, schlanker Mann, groß und stark, der fest im Sattel sitzt und wilde Pferde mit dem Lasso fängt …«
»Dazu Lederhosen und ein Cowboyhut«, warf Tommy sarkastisch ein.
»… und in der Wildnis gelebt hat«, fuhr sie fort. »Er müsste sich heftig in mich verlieben. Ich würde ihn natürlich tugendhaft abweisen und meinem Ehegelübde treu bleiben, aber heimlich würde mein Herz für ihn entflammen.«
»Na gut«, meinte Tommy, »ich wünsche mir oft, einem wunderschönen Mädchen zu begegnen. Einem Mädchen mit goldenem Haar, das sich rettungslos in mich verliebt. Nur würde ich sie wahrscheinlich nicht abweisen – nein, sicher nicht.«
»Das zeigt deinen schlechten Charakter.«
»Was ist los mit dir, Tuppence?«, fragte Tommy. »Du hast noch nie so geredet.«
»Nein«, erwiderte seine Frau, »aber es gärt schon seit langem in mir. Es ist eben gefährlich, alles zu haben, was man sich wünscht – einschließlich genügend Geld, um zu kaufen, was man will. Natürlich gibt es immer Hüte …«
»Du hast schon mindestens vierzig Hüte«, sagte Tommy, »und sie sehen alle gleich aus.«
»Das ist so bei Hüten. Sie sind nicht wirklich gleich. Es gibt Nuancen. Gerade heute Morgen habe ich bei Violette einen sehr hübschen gesehen.«
»Wenn du nichts Besseres zu tun hast, als immer mehr Hüte zu kaufen, die du nicht brauchst …«
»Das ist es ja gerade. Genau das: Wenn ich nur etwas Besseres zu tun hätte. Vielleicht sollte ich mich Wohltätigkeitsaufgaben widmen. Ach, Tommy, ich wünsche mir so sehr, dass etwas Aufregendes passiert! Ich glaube wirklich, das würde uns guttun. Könnte nicht eine gute Fee erscheinen …«
»Ah!«, rief Tommy, »interessant, dass du das sagst!«
Er stand auf und durchquerte das Zimmer. Aus einer Schreibtischschublade holte er eine kleine Fotografie hervor und zeigte sie Tuppence.
»Oh, du hast sie entwickeln lassen. Welche Aufnahme ist das, deine oder meine?«
»Meine. Deine ist nichts geworden. Unterbelichtet. Wie immer.«
»Wie schön für dich«, meinte Tuppence, »zu denken, dass es etwas gibt, was du besser kannst als ich.«
»Eine unsinnige Bemerkung«, sagte Tommy, »aber lassen wir das für den Moment. Was ich dir zeigen wollte, ist das hier.« Er wies auf einen kleinen weißen Fleck auf dem Foto, das ihr Wohnzimmer zeigte.
»Das ist ein Kratzer im Film.«
»Ganz und gar nicht«, erwiderte Tommy. »Das, Tuppence, ist eine Fee!«
»Tommy, du Dummkopf!«
»Schau genau hin!«
Er reichte ihr ein Vergrößerungsglas. Tuppence studierte den Abzug aufmerksam. Mit ein bisschen Phantasie konnte man den Kratzer im Film tatsächlich für ein geflügeltes kleines Wesen auf dem Kamingitter halten.
»Es hat Flügel!«, rief Tuppence. »Köstlich, eine echte, lebende Fee in unserer Wohnung! Sollen wir Conan Doyle davon berichten? Oh, Tommy, glaubst du, sie wird uns Wünsche gewähren?«
»Das wirst du bald wissen. Du wünschst dir ja seit Stunden sehnlichst, dass etwas geschieht!«
In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und ein schlaksiger Junge von fünfzehn Jahren, der nicht recht zu wissen schien, ob er Butler oder Page war, erkundigte sich in wahrhaft hoheitsvoller Manier: »Sind Madam zu Hause? Es hat soeben an der Tür geläutet.«
»Ich wünschte, Albert würde nicht so oft ins Kino gehen!«, seufzte Tuppence, nachdem sie ihre Zustimmung geäußert und der Junge sich zurückgezogen hatte. »Jetzt mimt er den Butler von Long Island. Zum Glück habe ich ihm abgewöhnen können, Visitenkarten zu verlangen und sie mir auf einem silbernen Tablett hereinzubringen.«
Wieder schwang die Tür auf, und Albert verkündete: »Mr Carter«, als wäre es ein Adelstitel.
»Der Chef«, flüsterte Tommy erstaunt.
Mit freudigem Ausruf sprang Tuppence auf und begrüßte einen großen grauhaarigen Mann mit durchdringenden Augen und müdem Lächeln.
»Ich bin so froh, Sie zu sehen, Mr Carter!«
»Das ist schön, Mrs Beresford. Nun beantworten Sie mir eine Frage: Wie ist das Leben so im Allgemeinen?«
»Zufriedenstellend, aber langweilig«, erwiderte Tuppence mit einem Augenzwinkern.
»Ausgezeichnet. Ich treffe Sie offensichtlich in der richtigen Verfassung an.«
»Das klingt ja sehr aufregend!«, bemerkte Tuppence.
Albert, noch immer in der Rolle des Butlers von Long Island, brachte den Tee. Nachdem das Unterfangen ohne Malheur abgeschlossen war und sich die Tür wieder hinter ihm geschlossen hatte, brach es aus Tuppence heraus: »Sie haben etwas Bestimmtes gemeint, nicht wahr, Mr Carter? Haben Sie vor, uns auf eine Mission ins finsterste Russland zu schicken?«
»Nicht ganz …«
»Aber etwas ist los.«
»Ja, etwas ist los. Sie gehören doch nicht zu den Leuten, die vor Gefahren zurückschrecken, oder, Mrs Beresford?«
Tuppence’ Augen blitzten vor Aufregung.
»Unsere Abteilung hat eine gewisse Aufgabe zu vergeben, und da dachte ich – habe nur so gedacht –, dass das vielleicht etwas für Sie beide wäre.«
»Fahren Sie fort«, sagte Tuppence.
»Ich sehe, Sie lesen den Daily Leader«, bemerkte Mr Carter und nahm die Zeitung vom Tisch.
Er blätterte zu den Inseraten, legte den Finger auf eines und schob das Blatt zu Tommy hinüber. »Lesen Sie uns das einmal vor«, sagte er.
Und Tommy las:
»Internationale Detektivagentur. Leiter: Theodore Blunt. Private Ermittlungen. Zahlreiche hochqualifizierte Privatdetektive. Äußerste Diskretion garantiert. Kostenloses Beratungsgespräch. 118, Haleham Street, London WC.«
Er blickte fragend zu Mr Carter auf. Dieser nickte.
»Die Detektei pfiff schon seit längerem auf dem letzten Loch. Ein Freund von mir hat sie für einen Appel und ein Ei erstanden. Wir möchten sie wiederbeleben – sagen wir, für eine Probezeit von sechs Monaten. Und während dieser Zeit braucht sie natürlich einen Leiter.«
»Was ist mit Mr Theodore Blunt?«, fragte Tommy.
»Ich fürchte, Mr Blunt hat sich einiger Indiskretionen schuldig gemacht. Genauer gesagt: Scotland Yard hat eingreifen müssen. Mr Blunt wird augenblicklich auf Kosten Seiner Majestät festgehalten, und er erzählt uns nicht halb so viel, wie wir gerne wüssten.«
»Ich verstehe«, sagte Tommy. »Wenigstens glaube ich zu verstehen.«
»Ich schlage vor, Sie werden für sechs Monate freigestellt. Gesundheitliche Gründe. Und falls Sie Lust haben sollten, eine Detektei unter dem Namen Theodore Blunt zu führen, so hat das natürlich nicht das Geringste mit mir zu tun.«
Tommy blickte seinem Chef fest in die Augen.
»Irgendwelche Anweisungen, Sir?«
»Mr Blunt unterhielt gewisse Verbindungen mit dem Ausland, denke ich. Halten Sie nach blauen Briefumschlägen mit russischer Marke Ausschau. Von einem Schinkenhändler, der verzweifelt seine Frau sucht, die vor einigen Jahren als Flüchtling in unser Land kam. Befeuchten Sie die Marke, und Sie werden darunter die Zahl 16 geschrieben finden. Fertigen Sie Kopien dieser Briefe an und schicken Sie mir das Original. Auch wenn jemand in die Agentur kommt und die Zahl 16 erwähnt, verständigen Sie mich sofort.«
»Verstanden, Sir. Sonst noch etwas?«
Mr Carter nahm seine Handschuhe vom Tisch, um sich zu verabschieden.
»Sie können die Agentur führen, wie Sie wollen.« Und mit einem Augenzwinkern fügte er hinzu: »Ich dachte, es würde Mrs Beresford vielleicht Spaß machen, sich an ein wenig Detektivarbeit zu versuchen.«