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II

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»Wir gehen besser noch nicht wieder rein«, sagte Dymchurch, während er mit Tommy Richtung Haleham Street eilte. »Den Schlüssel haben Sie dabei?«

Tommy nickte.

»Wie wäre es mit einem kleinen Imbiss? Es ist noch früh am Abend, aber genau vis-à-vis gibt es ein kleines Restaurant. Wir nehmen einen Tisch am Fenster, dann können wir das Haus die ganze Zeit im Blick behalten.«

Sie nahmen eine wohltuende kleine Mahlzeit ein, genau wie der Detective vorgeschlagen hatte. Tommy durfte feststellen, dass er mit Inspector Dymchurch in überaus unterhaltsamer Gesellschaft war. Den Großteil seiner Laufbahn hatte dieser unter internationalen Spionen verbracht, und er wusste Geschichten zu erzählen, die seinen simplen Zuhörer in Erstaunen versetzten.

Sie blieben bis acht Uhr in dem kleinen Restaurant, dann schlug Dymchurch vor zu gehen.

»Es ist schon recht dunkel, Sir«, erklärte er. »Wir können uns jetzt ins Gebäude stehlen, ohne gesehen zu werden.«

Es war, wie er gesagt hatte, recht dunkel. Sie überquerten die Fahrbahn, schauten hastig die verlassene Straße hinauf und hinunter und schlüpften dann durch die Eingangstür. Sie erklommen die Treppen, und Tommy steckte den Schlüssel in das Schloss zu seinem Büro.

Just in diesem Moment hörte er, wie er glaubte, Dymchurch an seiner Seite pfeifen.

»Warum pfeifen Sie?«, fragte er in scharfem Ton.

»Ich habe nicht gepfiffen«, sagte Dymchurch verwundert. »Ich dachte, das wären Sie gewesen.«

»Nun, irgendjemand …«, begann Tommy.

Weiter kam er nicht. Starke Arme packten ihn von hinten, und bevor er aufschreien konnte, presste sich ihm eine Kompresse mit etwas Eklig-Süßem auf Mund und Nase.

Er wehrte sich tapfer, aber vergebens. Das Chloroform tat seine Wirkung. Ihm drehte sich der Kopf, der Fußboden unter ihm hob und senkte sich. Röchelnd verlor er das Bewusstsein …

Unter Schmerzen, aber im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte kam er wieder zu sich. Die Dosis Chloroform war nur gering gewesen. Man hatte ihn lediglich lange genug außer Gefecht gesetzt, um ihm einen Knebel in den Mund zu pressen, damit er nicht schreien konnte.

Als er zu Bewusstsein kam, lehnte er halb liegend, halb sitzend in einer Ecke seines eigenen Büros an der Wand. Zwei Männer waren eifrig damit beschäftigt, den Inhalt seines Schreibtisches auf links zu drehen, die Schränke zu durchwühlen und bei der Arbeit ungehemmt zu fluchen.

»Verdammt, Boss«, sagte der größere der beiden mit rauer Stimme. »Wir haben das ganze vermaledeite Büro auf den Kopf gestellt. Er ist nicht hier.«

»Er muss hier sein«, knurrte der andere. »Er hat ihn nicht bei sich, und anderswo kann er nicht sein.«

Im Sprechen drehte der Mann sich um, und zu seinem ehrlichen Erstaunen erkannte Tommy, dass es sich um niemand Geringeren als Inspector Dymchurch selbst handelte. Der grinste, als er Tommys fassungslose Miene sah.

»Unser junger Freund ist also wieder aufgewacht«, sagte er. »Und ein wenig überrascht ist er auch – ja, ein wenig überrascht. Dabei war es so einfach. Wir hegen den Verdacht, dass in der Internationalen Detektivagentur nicht alles so ist, wie es sein soll. Ich melde mich freiwillig, um herauszufinden, ob das der Fall ist oder nicht. Wenn der neue Mr Blunt tatsächlich ein Spion ist, wird er misstrauisch sein, also schicke ich meinen guten alten Freund Carl Bauer vor. Carl soll sich verdächtig verhalten und Ihnen eine unglaubwürdige Geschichte auftischen. Dann trete ich auf den Plan. Ich brauche nur den Namen Inspector Marriot zu nennen, um Ihr Vertrauen zu gewinnen. Der Rest ist ein Kinderspiel.«

Er lachte.

Für sein Leben gern hätte Tommy das eine oder andere dazu gesagt, aber der Knebel in seinem Mund hielt ihn davon ab. Auch hätte er für sein Leben gern das eine oder andere getan – vor allem mit Händen und Füßen –, doch auch für diesen Fall hatte man vorgesorgt. Er war gefesselt.

Was ihn am meisten verblüffte, war der erstaunliche Wandel, den dieser Mann vor ihm vollzogen hatte. Als Inspector Dymchurch war er ein typischer Engländer gewesen. Nun aber konnte niemand ihn auch nur für eine einzige Sekunde für etwas anderes halten als einen gebildeten Ausländer, der perfekt und ohne den leisesten Akzent Englisch sprach.

»Coggins, mein guter Freund«, wandte sich der einstmalige Inspector an seinen grob wirkenden Kompagnon. »Nimm deinen Lebensretter und stell dich neben den Gefangenen. Ich werde ihm den Knebel abnehmen. Sie verstehen doch, mein lieber Mr Blunt, dass jeder Versuch zu schreien eine kriminelle Dummheit Ihrerseits wäre? Ich bin sicher, Sie verstehen das. Für Ihr Alter sind Sie ein recht cleveres Kerlchen.«

Geschickt entfernte er den Knebel und trat zurück.

Tommy bewegte die schmerzenden Kiefer, ließ die Zunge durch den Mund wandern, schluckte zweimal – und gab keinen Laut von sich.

»Ich gratuliere Ihnen zu Ihrer Zurückhaltung«, sagte der andere. »Sie haben Ihre Lage verstanden. Aber haben Sie gar nichts zu sagen?«

»Was ich zu sagen habe, kann warten«, sagte Tommy. »Und es wird auch nicht schlecht.«

»Gut! Was ich zu sagen habe, kann nicht warten. Ohne große Umschweife, Mr Blunt: Wo ist der Brief?«

»Mein lieber Freund. Ich weiß es nicht«, sagte Tommy gut gelaunt. »Ich habe ihn nicht. Aber das wissen Sie so gut wie ich. Wenn ich Sie wäre, würde ich weitersuchen. Es amüsiert mich, Ihnen und Freund Coggins beim Suchen zuzuschauen.«

Die Miene des anderen verdüsterte sich.

»Die Flapsigkeit macht Ihnen Spaß, Mr Blunt. Sehen Sie die Kiste dort drüben? Das ist Coggins’ kleine Ausrüstung. Sie enthält Vitriol … ja, Vitriol … und Eisen, die sich im Feuer erhitzen lassen, bis sie rot glühen und Brand…«

Tommy schüttelte traurig den Kopf.

»Ein Bestimmungsfehler«, murmelte er. »Tuppence und ich haben dieses Abenteuer vollkommen falsch eingeordnet. Es ist keine Klumpfuß-Geschichte. Es ist ein Bulldog Drummond, und Sie sind der unnachahmliche Carl Peterson.«

»Was reden Sie da für einen Unsinn?«, knurrte der andere.

»Ah!«, sagte Tommy. »Wie ich sehe, sind Sie mit den Klassikern nicht vertraut. Sehr bedauerlich.«

»Sie ignoranter Idiot! Werden Sie tun, was wir wollen, oder nicht? Soll ich Coggins Befehl geben, sein Werkzeug auszupacken und anzufangen?«

»Seien Sie doch nicht so ungeduldig«, sagte Tommy. »Natürlich werde ich tun, was Sie wollen, sobald Sie mir sagen, was das ist. Sie glauben doch nicht, dass ich filetiert und auf dem Rost gegrillt werden will wie eine Seezunge? Ich kann es nicht leiden, wenn man mir Schmerzen zufügt.«

Dymchurch sah ihn voller Verachtung an.

»Gott! Engländer sind solche Feiglinge.«

»Gesunder Menschenverstand, mein lieber Freund, nichts als gesunder Menschenverstand. Lassen Sie das Vitriol Vitriol sein und kommen wir zur Sache.«

»Ich will den Brief.«

»Ich sagte doch bereits, ich habe ihn nicht.«

»Das wissen wir … Und wir wissen auch, wer ihn haben muss. Die Frau.«

»Da haben Sie sehr wahrscheinlich recht«, sagte Tommy. »Sie könnte ihn in die Handtasche gesteckt haben, als ihr Kumpan Carl uns überraschte.«

»Oh, Sie leugnen es nicht. Das ist schlau. Sehr gut, Sie werden dieser Tuppence, wie Sie sie nennen, eine Nachricht schreiben und sie bitten, den Brief unverzüglich herzubringen.«

»Das kann ich nicht …«, hob Tommy an.

Der andere fiel ihm ins Wort, bevor er den Satz zu Ende sprechen konnte.

»Aha! Das können Sie nicht? Das werden wir ja sehen. Coggins!«

»Immer langsam mit den jungen Pferden«, sagte Tommy. »Warten Sie doch das Ende des Satzes ab. Ich wollte sagen, ich kann das nicht, solange Sie mir nicht die Fesseln abnehmen. Gute Güte, ich bin doch nicht einer dieser komischen Vögel, die mit der Nase oder dem Ellbogen schreiben können.«

»Sie werden also die Nachricht schreiben?«

»Selbstverständlich. Sage ich das nicht die ganze Zeit? Mir ist viel daran gelegen, hilfsbereit und gefällig zu sein. Sie werden Tuppence ja nichts Unschönes antun, richtig? Das würden Sie nicht tun, da bin ich sicher. Sie ist so ein nettes Mädchen.«

»Wir wollen nur den Brief«, sagte Dymchurch, doch auf seinem Gesicht lag ein überaus unangenehmes Lächeln.

Auf ein Nicken seinerseits kniete sich der brutale Coggins nieder und befreite Tommys Arme. Tommy schwang sie vor und zurück.

»Viel besser«, sagte er heiter. »Ob der liebe Coggins so freundlich sein könnte, mir den Füllfederhalter zu reichen? Er müsste zusammen mit meinen anderen Habseligkeiten auf dem Schreibtisch liegen.«

Mit finsterer Miene brachte ihm der Mann den Federhalter und reichte ein Blatt Papier nach.

»Setzen Sie die Worte mit Bedacht«, sagte Dymchurch drohend. »Wir überlassen das Ihnen, aber wenn es schiefläuft, bedeutet das für Sie den Tod … einen langsamen Tod noch dazu.«

»Wenn das so ist«, antwortete Tommy, »werde ich mein Bestes geben.«

Er dachte ein oder zwei Minuten lang nach, dann schrieb er hastig.

»Wie wäre es damit?«, fragte er und überreichte dem anderen den fertigen Brief.

Liebe Tuppence,

könntest Du vorbeikommen und mir den blauen Brief bringen? Wir möchten ihn hier und jetzt dechiffrieren.

In Eile,

Francis

»Francis?«, fragte der falsche Inspector mit hochgezogenen Brauen. »So hat sie Sie genannt?«

»Da Sie bei meiner Taufe nicht anwesend waren«, sagte Tommy, »können Sie wohl nicht mit Sicherheit wissen, ob das mein Name ist oder nicht. Aber ich möchte doch meinen, dass das Zigarettenetui, das Sie meiner Jackentasche entnommen haben, ein recht guter Beweis ist, dass ich die Wahrheit sage.«

Der andere trat an den Schreibtisch, nahm das Etui, las mit leisem Grinsen die Inschrift »Für Francis von Tuppence«, und legte es wieder zurück.

»Ich freue mich, dass Sie ein so vernünftiges Verhalten an den Tag legen«, sagte er. »Coggins, gib Vassily den Brief. Er steht draußen Schmiere. Sag ihm, er soll ihn unverzüglich überbringen.«

Die nächsten zwanzig Minuten vergingen langsam, die zehn Minuten danach noch langsamer. Dymchurch schritt mit zusehends sich verdunkelnder Miene auf und ab. Einmal drehte er sich drohend zu Tommy.

»Wenn Sie es gewagt haben, uns aufs Kreuz zu legen …«, knurrte er.

»Wenn wir ein Kartenspiel hätten, könnten wir eine Partie Piquet spielen, um die Zeit totzuschlagen«, gähnte Tommy. »Frauen lassen einen immer warten. Ich kann nur hoffen, dass Sie nicht unfreundlich sein werden zu der kleinen Tuppence, wenn sie kommt.«

»Aber woher denn!«, sagte Dymchurch. »Wir werden dafür sorgen, dass Sie beide gemeinsam von hier gehen … gemeinsam.«

»Wirst du das, du Hund!«, murmelte Tommy für sich.

Plötzlich rührte sich etwas im Vorzimmer. Ein Mann, den Tommy bis dahin noch nicht gesehen hatte, steckte den Kopf zur Tür herein und brummte etwas auf Russisch.

»Gut«, sagte Dymchurch. »Sie kommt – allein.«

Einen kurzen Augenblick lang packte eine leise Angst Tommys Herz.

Eine Minute später hörte er Tuppence’ Stimme.

»Ah, da sind Sie ja, Inspector Dymchurch. Ich habe den Brief mitgebracht. Wo ist Francis?«

Mit diesen Worten trat sie durch die Tür und wurde von hinten von Vassily gepackt, der ihr eine Hand auf den Mund presste. Dymchurch entriss ihr die Handtasche und durchwühlte sie hastig.

Dann stieß er einen Freudenschrei aus und hielt einen blauen Umschlag mit russischer Briefmarke in die Luft. Coggins gab einen heiseren Laut von sich.

Und just in dieser Sekunde des Triumphs schwang lautlos die andere Tür, die zu Tuppence’ Büro führte, auf und herein kam Inspector Marriot mit zwei bewaffneten Männern und dem scharfen Befehl: »Hände hoch!«

Es gab keinen Kampf. Die anderen waren hoffnungslos überrumpelt worden. Dymchurchs Automatik lag auf dem Tisch, und seine zwei Komplizen waren nicht bewaffnet.

»Ein schöner kleiner Fang«, sagte Inspector Marriot lobend, als er das letzte Paar Handschellen zuschnappen ließ. »Und es werden hoffentlich noch einige dazukommen.«

Kreidebleich vor Zorn starrte Dymchurch Tuppence an.

»Kleine Hexe!«, knurrte er. »Das haben wir dir zu verdanken.«

Tuppence lachte.

»Es ist nicht allein mein Verdienst. Ich gebe zu, ich hätte es wissen müssen, als Sie heute Nachmittag die Zahl 16 erwähnten. Aber es war Tommys Brief, der mich aufrüttelte. Ich rief Inspector Marriot an, schickte Albert, ihm den zweiten Büroschlüssel zu bringen, und kam selbst mit dem leeren blauen Umschlag in der Handtasche hierher. Den Brief selbst habe ich meinen Anweisungen gemäß weitergeleitet, sobald wir heute Nachmittag auseinandergegangen waren.«

Ein Wort hatte die Aufmerksamkeit des anderen erregt.

»Tommy?«, fragte er.

Tommy, der soeben aus seinen Fesseln befreit worden war, gesellte sich zu ihnen.

»Gut gemacht, Bruder Francis«, sagte er zu Tuppence und nahm ihre Hände in seine. Und zu Dymchurch: »Wie ich schon sagte, mein lieber Freund, Sie sollten die Klassiker lesen.«

Die Büchse der Pandora

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