Читать книгу Kuss der Todesfrucht - Agnes M. Holdborg - Страница 4

Feierabend

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Wieder leuchteten die beiden großen Scheinwerfer in ihrem Rückspiegel auf. Außerdem vernahm sie deutlich eine Art schrammendes, schlurfendes Geräusch vorne links. Das kam ihr ja leider schon bekannt vor. Jedoch wackelte da jetzt nicht zusätzlich etwas?

Oh Gott, oh Gott! Ich hab‘s doch gewusst. Ich hätte das schon längst reparieren lassen sollen, verdammt!

Mit einer fahrigen Handbewegung beantwortete Manuela Kern die Lichthupe des LKW-Fahrers hinter sich und schaute genauer in den Spiegel. Jetzt könnte der Kerl aber wirklich mit diesen Sperenzchen aufhören, meinte sie. Schließlich war sie ja nicht blind und hatte seine Lichtspiele durchaus bemerkt.

Vorsichtshalber drosselte sie noch einmal die Geschwindigkeit, aus Furcht, der linke Vorderreifen des in die Jahre gekommenen klapprigen Golfs könnte eventuell den Geist aufgeben, und das, kurz bevor sie ihre Autobahnabfahrt erreicht hätte.

»Nein, nein, nein, komm schon, ja? Komm schon, das darf nicht passieren«, flüsterte sie fast wie ein Gebet vor sich hin. Dies war eine ihrer Methoden, mit denen sie seit geraumer Zeit versuchte, Lebenskrisen zu bewältigen. Sie sprach ihre Ziele regelmäßig leise aus.

Dann erhob sie allerdings die Stimme: »Mann, dieser Hornochse hinter mir macht es mir mit seinem Getue nicht gerade leichter! Hätte ich den doch bloß nicht überholt. Jetzt hängt der mir auf der Pelle. Ach, egal, aber der Reifen muss einfach durchhalten, wenigstens bis nach Hause oder besser noch bis zum Supermarkt. Ich brauche unbedingt Brot und Milch, hhm, und Käse.«

Wieder ein Lichtsignal! Manuela wunderte sich, dass der LKW sie nicht einfach wieder überholte. Schließlich fuhr sie mittlerweile auch für so einen ›Brummi‹ viel zu langsam.

»Jaja, meine Güte, ich fahr ja gleich ab, du Idiot«, murmelte sie ungehalten vor sich hin und winkte ihrem Hintermann mit erhobener Hand zu, während sie gleichzeitig per Rückspiegel versuchte, so etwas wie Blickkontakt zu ihm aufzunehmen. Er sollte endlich Ruhe geben. Sie wusste auch so, dass das Vorderrad ein wenig eierte.

Als sie kurz vor der Abfahrt erleichtert aufseufzte, weil die Autobahn fast hinter ihr lag und sie außerdem den Quälgeist endlich loswerden würde, stellte sie beim Blinkersetzen mit einem weiteren Blick zurück missmutig fest, dass ›Brummi‹ denselben Weg einschlug wie sie.

Mist! Wo will der denn hin?

Aufs Neue versuchte sie, Augenkontakt zu dem Fahrer aufzunehmen, konnte aber nur verschwommen wahrnehmen, wie der die Hand wie zum Gruße hob. Resigniert erwiderte Manuela den Gruß, nahm sich dann aber vor, ihn nicht weiter zu beachten. Schließlich hatte sie es nicht mehr weit bis zum Supermarkt. Spätestens dann fände die Verfolgungsjagd sicher ein Ende. Allerdings war sie fest davon überzeugt, der Fahrer hinter ihr müsste mit seinem LKW sowieso ganz woanders hin.

Doch weit gefehlt! Das riesige Gefährt folgte ihr auch jetzt noch überall hin: durch das schmale geschäftige Sträßchen ihrer kleinen Stadt. Es schlängelte sich geschickt an den rechts und links parkenden Autos vorbei, fuhr hinter ihr über drei Kreuzungen. In den nächsten zwei reichlich eng bemessenen Kreisverkehren konnte Manuela sogar deutlich erkennen, wie immens groß dieses Fahrzeug war.

Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrer Magengrube breit. So schlimm war das mit dem Reifen ja nun auch wieder nicht, oder? Eigentlich hatte sie schon gedacht, sich dieses Schlackern lediglich eingebildet zu haben. Außerdem fuhr sie doch extra schön langsam, und nach dem Einkauf wollte sie den Wagen direkt in die benachbarte Werkstatt geben.

Und überhaupt, was geht das eigentlich diesen Troll an?, fragte sie sich reichlich verärgert.

Ohne Rücksicht auf den lädierten Vorderreifen gab sie Gas und brauste, ganz entgegen ihrer sonstigen Art, mit überhöhter Geschwindigkeit auf den Parkplatz des Supermarktes. Hierhin könnte ihr der Kerl mit seinem Riesen-Vehikel nun wirklich nicht folgen, freute sie sich und beobachtete zufrieden, wie ›Brummi‹ am Parkplatz vorbei in Richtung Discounter rollte.

Ah, ging ihr ein Licht auf, der beliefert ›Aldi‹, ja dann! Zufälle gibt‘s, die gibt‘s gar nicht!

Mit einem Kopfschütteln machte sie sich bereit für ihren kurzen Einkaufsabstecher.

~~~

Was war heute eigentlich mit ihr los? Sie hatte doch sonst alles relativ gut im Griff. Dementgegen fühlte sie sich heute irgendwie unwohl in ihrer Haut. Vielleicht lag es ja daran, dass die Sache mit dem Auto sie aus ihrem regelmäßigen Alltag herausgerissen hatte. Aber damit würde sie auch noch fertig, bestimmt!

Hätte sie doch nur einen Korb anstatt Einkaufswagen genommen oder sich wenigstens eine Liste gemacht, von wegen nur Brot, Milch und Käse! Wie fast jedes Mal türmten sich in dem Wagen zahlreiche Dinge, die sie in ihrer gedanklichen Einkaufsliste nicht aufgeführt hatte. Nun denn, sie brauchte das Zeug trotzdem: Das Fläschchen Wein für den heutigen Donnerstagabend, an dem sie besonders erholungsbedürftig war, weil sie an diesem Tag länger arbeitete als während der übrigen Woche. Außerdem musste sie diese Auto-Aufregung verdauen. Am besten mit einem duftenden Schaumbad bei Kerzenlicht. Und das Deo war fast alle, das jetzige Shampoo taugte nichts. Auch ein paar Chips vor dem Fernseher könnten nicht schaden. Ach ja, auf jeden Fall fehlten fürs morgige Frühstück noch so einige Sachen und und und.

Unschlüssig kaute sie auf der Unterlippe, weil sie sich vorgenommen hatte, mehr auf ihre Gesundheit zu achten, mit viel Grünzeug und Vitaminen. Aber so eine kleine Tiefkühlpizza, ohne Salami, nur mit Spinat? Ja, die würde sie sich heute dennoch gönnen.

Voller Vorfreude beugte sie sich über die Tiefkühltheke, als ein Schlag auf den Allerwertesten sie aus ihren kulinarischen Träumereien riss.

Mit der Pizza Spinaci in der Hand schnellte sie hoch und blickte geradewegs in zwei blitzend dunkelbraune Augen über einem bildschön geschwungenen, grinsenden Mund. Atemlos hielt sie inne. Eigentlich hatte sie beabsichtigt, dem unverschämten Kerl die Pizza um die Ohren zu hauen, doch sein freches, gleichzeitig charmantes Grinsen entwaffnete sie derart, dass sie sich die Pizza lediglich unter den Arm klemmte und mit der freien Hand ihren kurzen Jeansrock zurechtzupfte.

Trotzdem raunzte sie ihn an: »Mach das noch mal, und du spürst mein Knie dort, wo du es lieber nicht spüren willst!«

Er hob ergeben die Hände. »Entschuldigung, bei dem herrlichen Anblick konnte ich einfach nicht widerstehen.«

Sie besah ihn sich genauer. Der ist ja noch nicht einmal trocken hinter den Ohren, stellte sie amüsiert fest.

»Hör mal, Jüngelchen, ich könnte beinah deine Mama sein, also verzieh dich besser, bevor ich es mir anders überlege, du Flegel!«

Er strahlte weiter. »Tja, Sie haben sich ganz schön gut gehalten, Mami«, gab er schelmisch zurück. »Liege ich richtig, wenn ich davon ausgehe, dass Sie heute Abend leider nicht was trinken mit mir gehen möchten?«

Meine Güte! »Ne, Bubi, ganz bestimmt nicht, und wenn du nicht aufhörst, deinen Auserwählten auf den Po zu klopfen, wirst du wohl auch in der nächsten Zeit alleine bleiben.«

Das stimmte nicht, gestand sie sich ein, denn der Typ versprühte trotz seines unverschämten Benehmens einen derartigen Charme, der so mancher ihrer Geschlechtsgenossinnen die Knie weich werden ließ, jedenfalls den jüngeren – selbstverständlich!

»Nicht Bubi«, gab er lachend zu verstehen. »Ich heiße Juri.«

»Okay, Juri, wage es ja nicht, deine Hand noch einmal auf irgendein Körperteil von mir zu legen. Und nu mach hinne, weg, weg mit dir!«

Auf ihre scheuchende Handbewegung hin präsentierte er ihr einen albernen Diener, der seine strohblonden Haare vornüberfallen ließ, und gewährte ihr Durchlass.

Sein weiteres Lachen entlockte ihr ein Kichern. Da musste sie doch tatsächlich achtundzwanzig werden, um im Supermarkt von einem jugendlichen Schnösel, zugegeben einem sehr süßen Schnösel, betatscht zu werden. Das war ihr wirklich noch nie passiert, dachte sie, und stellte dabei verwundert fest, dass sie sich über diese Belästigung auch noch freute. Selbst der Gedanke daran, was geschehen wäre, wenn er etwas davon mitbekommen hätte, verleidete ihr die gute Laune nicht. Sie wollte sich nicht über diesen Vorfall ärgern. Schließlich war der Junge letztendlich ganz nett, obwohl sein Benehmen zu wünschen übrig ließ. Sie einfach auf den Po zu hauen, so etwas aber auch! Vielleicht lag es ja daran, dass sie einige Kilos verloren hatte, seit ...

Oh nein!, verbot sie sich still. Tabuzone! Nicht weiter drüber nachdenken und stattdessen Obst, Salat und Gemüse kaufen! Pizza, Chips und Wein vorher zurücklegen, los!

Mit einem tiefen Stoßseufzer gehorchte sie ihrem herrischen Über-Ich und schlug danach den Weg zur Kasse ein.

Och ne, muss denn um diese Zeit immer so viel los sein?, stöhnte sie innerlich, während sie sich ans Ende der Schlange stellte. Nachdem sie in ihrer Handtasche nach der Geldbörse gekramt hatte, warf sie unwirsch ihre lange dunkelbraune Lockenpracht auf den Rücken. Weil das Ganze noch einige Zeit dauern könnte, legte sie sich im Kopf ihre ›To-do-Liste‹ für nach dem Einkauf zurecht. Auch eine wichtige Methode, ihrem Leben die richtige Richtung zu geben. Oder vielmehr dem Versuch dazu, denn oft genug hielt sie sich letztlich doch nicht an die vorgegebene Reihenfolge. Leider stand auf dieser imaginären Liste als nächster Erledigungspunkt die Autowerkstatt.

Okay, aber vorher eben den Einkauf zu Hause ausladen und hochtragen, das muss noch drin sein.

Wieder wurde sie unsanft aus ihren Gedanken geholt. Sie wollte schon patzig werden, weil sie geschubst wurde, dachte sie doch, der junge Poklopfer-Adonis ließe sie immer noch nicht in Ruhe. Da wurde sie auch schon zum zweiten Mal behände von einer mindestens achtzig Jahre alten rüstigen Rentnerin zur Seite geschoben. »Machen Sie mal Platz, ich muss zur Kasse!«, schnauzte die Alte sie an.

»Tja, entschuldigen Sie, verehrte Dame, aber ich bin ja wohl vor Ihnen dran. Sie können sich doch nicht einfach so vorfudeln.«

»Vorfudeln?« Die Frau zeigte ihre tadellosen Porzellanzähne. »Hören Sie, das ist mal wieder typisch für die Deutschen«, gab sie schnippisch von sich. »Noch nie was vom Reißverschlusssystem gehört, was? Junge Dame, ich mache schon seit zwanzig Jahren immer die gleiche Runde in diesem Geschäft. Zum Schluss komme ich stets hier aus und fädle mich ordnungsgemäß ein.«

Sie ruckelte ohne Unterlass mit ihrem Einkaufswagen gegen den von Manuela. Die blies resigniert die Wangen auf. Kampf mit einer überalterten Matrone?, focht sie ihren eigenen innerlichen Kampf. Oder bedingungslose Kapitulation?

Nach einigem internen Hin und Her entschied sie sich für die Vernunft. »Aber natürlich«, säuselte sie zuckersüß, »das Reißverschlusssystem. Wie konnte ich nur so dumm sein?« und ließ die unfreundliche Greisin mit einer freundlichen Geste vor.

Schlecht gelaunt stellte Manuela später fest, dass sie wieder einmal keinen Einkaufsbeutel dabei hatte. Warum auch, wollte sie doch eigentlich nur drei Dinge besorgen? Mit zwei prallgefüllten Plastiktüten beladen verließ sie endlich den Supermarkt.

Puh, was für ein Tag!, dachte sie und verlagerte währenddessen das Gewicht der schweren Tüten, deren Henkel ihr bereits in die Hände schnitten, und das, obwohl sie doch einige Teile wieder zurück in die Regale geräumt hatte.

»Das ist schon ganz schön unverschämt«, wurde sie zum dritten Mal in kürzester Zeit aus ihren Gedanken gerissen.

»Wie bitte?« Sie konnte nicht verhindern, völlig verwirrt zu klingen ob der Frage - und ob der einnehmend stahlblauen Augen, die sie unter dichten dunkelblonden, zerzausten Haaren intensiv musterten.

»Na ja«, entgegnete der Mann mit schiefem Lächeln, »mit solchen Beinen vor mir herzufahren ist nun mal echt eine Unverschämtheit.«

Sie zog die Augenbrauen zusammen. Irgendwoher glaubte sie, den Mann zu kennen. Aber, woher nur?

»Da fahre ich Kilometer um Kilometer hinter Ihnen und Ihren verdammt hübschen Beinen her, und Sie erkennen mich nicht?«, klärte er sie auf.

Ihr klappte die Kinnlade herunter. Sie spähte an dem großen Mann vorbei. Da stand der ihr so bekannte Truck am Parkplatzrand, in seiner ganzen Pracht.

»Oh«, gab sie kleinlaut von sich. »Sie? Sie sind das? Aber ich dachte, mit der Lichthupe, da meinten Sie, ähm, mein Auto. Meinten Sie nicht mein Auto? Also, der Vorderreifen, hm, also, der ist nicht in Ordnung, äh ...«

Gott, war ihr das peinlich, keinen richtigen Satz zustande zu bringen. Bestimmt lief sie wieder einmal rot an. Wie sie das hasste!

»Ihr Auto ist kaputt?«, fragte er stirnrunzelnd und wirkte überrascht. »Davon habe ich gar nichts bemerkt. Entschuldigen Sie, ich hatte halt nur Augen für Ihre unglaublichen Beine. Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«

»Beine?«, wiederholte sie tumb. »Helfen?« Sie schüttelte eilig den Kopf. »Nein, nein, Sie brauchen mir nicht zu helfen. Ich fahre gleich in die Werkstatt. Die liegt in der Nachbarschaft. Kein Problem. Vielen Dank, und, ähm, Tschüss.«

Sie wollte auf dem Absatz kehrtmachen, doch er hielt sie an der Schulter fest. »Ich hätte aber schon gern Ihren Namen und Ihre Telefonnummer, schöne Frau.«

Was? Was hat er gesagt? Himmel, der brachte sie vollends aus dem Tritt.

Zu allem Überfluss öffnete sich zu diesem Zeitpunkt auch noch die Glastür. Der Jungschnösel Juri kam aus dem Laden, gesellte sich zur Reißverschlussgreisin, die Manuela aufmerksam zu beobachten schien, und beide grienten sie unverschämt an.

Himmel, dachte sie erneut, was ist denn heute nur los?

Obwohl es ihr äußerst schwerfiel, versuchte sie, die beiden möglichst würdevoll mit Nichtachtung zu strafen, atmete kontrolliert aus, noch einmal tief ein, ehe sie sich wieder dem Mann zuwandte: »Hören Sie, Herr Brummifahrer, tut mir leid, wenn wir uns da missverstanden haben, aber erstens habe ich ganz normale Beine.« Dabei versuchte sie mit den Tüten die beiden Objekte seiner Begierde möglichst zu verbergen. »Und zweitens gebe ich Fremden gegenüber ganz sicher nicht meine persönlichen Daten preis, also wirklich!«

Er verzog keine Miene. Nicht hässlich, der Typ, schoss es ihr durch den Kopf, wobei sie inständig hoffte, nicht noch roter zu werden.

»Okay, Lady, das habe ich kapiert.« Die Stirn in Falten gelegt, fuhr er fort: »Schade, Ihre Zeichen während der Fahrt kamen mir eindeutig vor.«

Plötzlich überraschte er sie damit, sich über sie zu beugen. Er war groß, sehr groß. Sie musste mit ihren über eins fünfundsiebzig den Kopf in den Nacken legen, um ihn weiter ansehen zu können. Als er ihr so nahekam, kitzelte sein Haar in ihrem Gesicht. Doch sie sah nur seine Augen, spürte seinen Atem, nahm seinen Geruch nach Tabak, Moschus, Straße – und Mann wahr.

Für den Bruchteil einer Sekunde verspürte sie ein magisches Knistern in der Luft. Ein alt vertrautes Gefühl, das sie aus ihrem Leben verbannt hatte und auch nun sofort abschüttelte, selbst wenn ihr die Knie weich wurden. Mit einem Mal fühlte sie etwas an ihrem Ausschnitt kratzen.

Himmelherrschaftszeiten! Steckt der mir da etwa was ins T-Shirt?

»Ich hatte schon vermutet, dass eine Klassefrau wie Sie wohl eher nicht für einen flüchtigen Straßenflirt zu haben ist, aber Ihre Beine ...« Er ließ den Satz unvollendet. »Ciao, schöne Lady. Ich bin jederzeit für Sie da.«

Er wandte sich ab, drehte sich aber noch einmal um. Schade, dachte sie, weil sie gerade dabei gewesen war, seine faszinierend maskuline Kehrseite zu bewundern.

»Ach«, fügte er noch hinzu, »viel Glück mit Ihrem Auto.«

Behände sprang er hinauf ins Führerhaus, startete den Diesel und fuhr davon, ohne einen weiteren Blick auf sie zu werfen.

»Jaja«, hörte Manuela die krächzende Stimme der alten Kassenstürmerin hinter sich, »die jungen Männer heutzutage sind auch nicht schlechter als die früher. Den würd ich mir an Ihrer Stelle nicht durch die Lappen gehen lassen, schließlich hat er Ihnen ja seine Telefonnummer dagelassen

Langsam drehte Manuela sich zu der Frau um. »Telefonnummer? Was reden Sie denn da?«

»Herrje, Kindchen, stellen Sie sich doch nicht dümmer an, als Sie‘s an der Kasse waren. Mein Gott, der hat Ihnen doch einen Zettel in den Ausschnitt gesteckt. Ich gehe jede Wette ein, dass darauf eine Telefonnummer steht. Sind Sie denn total plemplem?«

Als auch noch Jungadonis Juri seinen Senf dazugeben wollte, tauchte Manuela endlich aus ihrer Verwirrung auf und wies ihn mit einem gekonnten Blick kurzerhand in die Schranken.

»Alles klar!«, rief sie etwas zu laut aus und bedachte sowohl Jung als auch Alt ein weiteres Mal mit strafendem Blick. »Ich danke Ihnen beiden, dass Sie dieser außergewöhnlichen Show so aufmerksam beigewohnt haben. Nun möchte mich ganz herzlich verabschieden. Auf Nimmerwiedersehen!«

Sprach‘s und hastete zum Auto.

~~~

»Gas geben!«, schrie der Mechaniker gegen das Aufheulen des Motors an.

Manuela verstand einfach nicht, warum der Mann sich unbedingt den Motor anhören wollte, wo doch das Vorderrad nicht in Ordnung war. Dennoch tat sie, was er ihr so ›freundlich‹ zubrüllte.

»Gut, der Motor ist schon mal soweit okay, aber jetzt machen wir mal 'ne kleine Spitztour.«

Ehe sie sich versah, schmiss er sich mit seinen ölverschmierten Klamotten in ihren zugegebenermaßen auch nicht gerade sauberen Altgolf.

»Woll‘n doch mal sehen, was mit der Kiste los ist. Also, dann mal los, junge Frau. Fahr‘n Sie mal so ‘n Stückchen rum, und ich guck und hör mir das Ganze mal an.«

Verärgert zog sie die Brauen hoch. Sie hatte gehofft, ihren Wagen fein säuberlich in eine der Parkbuchten neben der Werkstatt abstellen und das Auto danach - samt Schlüssel und Papieren, inklusive Schilderung des Problems – dalassen zu dürfen, um sich danach endlich ihrem heimischen Abendprogramm widmen zu können. Ein verlockender Gedanke, auch wenn dieser letztlich keine Pizza, Chips und keinen Wein mehr beinhaltete. Doch nun saß ein völlig verdreckter grober Kerl neben ihr und faselte ständig was von »mal Gas geben, mal in die Kurve gehen, mal Autogeräusche deuten«. Was für ein Tag!

»So geht das nicht!«, schimpfte er. »Halten Sie mal an! Ich fahre mal!«

»Sie? Wieso wollen Sie mein Auto fahren?«, protestierte Manuela lauthals. Allmählich verlangte ihr dieser Tag zu viel ab.

»Soll ich die Karre denn nun auf Vordermann bringen, oder nicht?«

»Blöde Frage, klar sollen Sie!«

»Herzchen, dann tun Sie jetzt mal, was ich Ihnen sage. Da vorne ist ein Parkplatz. Halten Sie an!«

Sie tat es. Warum auch nicht?, überlegte sie. Heute läuft doch sowieso alles anders oder schief. Sie bereute ihre Entscheidung just in der Sekunde, als er sich hinters Steuer klemmte und Gas gab. Augenblicklich war ihr klar, dass nun ihr letztes Stündlein schlagen würde. Überdies würde die Aufmerksamkeit sämtlicher Starenkästen des Ortes einzig diesem Kerl, ihr und ihrem Auto gelten, was ihr zu guter Letzt auch noch fürchterliche Fotos einbrächte.

Gerade, als sich ihr Magen zum dritten Male hob, sich gen Umkehrrichtung drehte und sie überlegte, wie es wohl wäre, wenn das bisherige Leben in einzelnen Bildern an ihrem geistigen Auge vorbeizöge, schrie dieser verrückte Mechaniker: »Haben Sie das gehört? Da schlurft nicht nur was, da knackt auch was! Das ist nicht der Reifen, Süße, das ist die Radaufhängung, die ist hin!«

Er war vergnügt - sie am Boden zerstört.

Radaufhängung? Was heißt das? Vielleicht Achse?

Das hörte sich nach verdammt hohen Kosten an. Dabei hatte sie erst gestern eine super schöne, zudem sündhaft teure Handtasche entdeckt.

»Tja, ich empfehle Ihnen da mal eine neue Kiste. Mit Tickel-Tackel-Schuhen oder 'ner schicken Handtasche können Sie jedenfalls nicht fahren, Süße.«

Gott, kann dieser ungehobelte Klotz etwa auch meine Gedanken lesen, so wie ...? Stopp! Den letzten Gedanken unbedingt streichen!

Insgeheim stimmte sie dem Mann zu, wenn auch widerwillig. Trotzdem, es müsste eine andere Lösung für das Problem geben.

Dankbar, dem Kamikaze-Fahrer entkommen zu sein, stieg sie an der Werkstatt mit wackligen Beinen aus.

»Hey«, meinte der Mechaniker in versöhnlichem Ton, wobei er ihr den Autoschlüssel reichte, »es wäre wirklich vernünftiger, wenn Sie sich mal ein neues Auto zulegen würden. Das ist nämlich nicht das einzige Manko, was diese olle Karre hier aufweist. Es lohnt sich einfach nicht, dafür noch Geld zu investieren, echt.«

Sein Lächeln schien aufrichtig zu sein. Erst jetzt bemerkte Manuela sowohl die Zahnlücke und angegrauten Haare als auch seine eher väterliche Art. Der Mann war sicher schon ein Stück über fünfzig und könnte ihr Vater sein. Warum hatte sie das nicht gleich bemerkt?

Na ja, fiel ihr wieder ein, ein väterlicher Typ sagt wohl kaum ›Süße‹ zu seiner Kundin.

Sie unterdrückte ihren aufkeimenden Ärger. »Ach verflixt, ich hänge an dem alten Teil. Ist denn da gar nichts zu machen? Was würde es denn kosten?«

»Na ja, 'nen Tausender wären Sie mindestens los, wenn Sie das alles richten lassen. Er muss ja auch bald zum TÜV. Also – roundabout – tausendfünfhundert, weniger ist nicht, Süße, eher mehr.«

Schon wieder ›Süße‹! Ihre Geduld zersprang wie sprödes Glas.

»So, jetzt hören Sie mir mal zu, Herr, ähm ...« Sie versuchte, das verdreckte Namensschildchen auf seiner Blaumannbrust zu entziffern, musste sich dann ein Kichern verkneifen. »... Herr Müller! Erstens: Ich heiße Frau Kern, nicht Süße! Zweitens: Ich bin durchaus in der Lage, das Geld für mein Auto lockerzumachen – mit oder ohne Handtasche – süßer Herr Müller. Tja, und drittens: Ich vertraue ich Ihnen nicht, weshalb ich mal eine weitere Meinung einholen werde. Guten Abend!«

Damit ließ sie den Mechaniker stehen, stieg ein und fuhr schnurstracks in ... Oh nein, nicht in Richtung meiner Wohnung! Noch kannte der Typ einzig ihren Nachnamen und wusste auch nur, dass sie irgendwo hier in der Nähe wohnte. Sie würde ihm nicht zeigen, dass ›in der Nähe‹ direkt nebenan war. Schließlich wusste man ja nie! Da wäre sie besser vorsichtig.

Himmel, Arsch und Zwirn, was für ein beschissener Feierabend ist das denn?

~~~

Aah, ist das eine Wohltat! Gott, wie ich das liebe!

Mit einem wohligen Schnurren ließ sie sich vom weichen Schaum streicheln und versenkte ihre Locken in das duftende Badewasser. Dieses Vergnügen für die Sinne hatte sie sich redlich verdient, fand sie. Die heimelige Atmosphäre, die sie in ihr kleines Bad gezaubert hatte, konnte sie auch mit geschlossenen Augen genießen.

Bei der Besichtigung der Zwei-Zimmer-Wohnung vor vier Monaten hatte sie ein tristes weißgefliestes Badezimmer mit kleinem Fensterchen vorgefunden und deswegen fast abgelehnt, weil sie durch das viele Weiß zu sehr daran erinnert worden war, wie ... Stopp! Aber dann war ihr eingefallen, dass sie jetzt – im Gegensatz zu früher – freie Hand besaß: Sie durfte die erste eigene Wohnung ihres Lebens nach Herzenslust selber einrichten und gestalten, ganz nach ihrem persönlichen Geschmack!

So war zuallererst dieses Bad von ihr mit wenigen Dingen in eine feminine Wohlfühloase verwandelt worden. Dazu hatte es nicht viel gebraucht, nur ein paar farbige Akzente und Accessoires. Besonders die Farbwahl hatte ihr großen Spaß bereitet: Pink, Rosa, Rot, Orange – früher undenkbar! – setzten sich nun fröhlich von dem glänzenden Weiß ab. Herrlich, befand sie und schmunzelte glücklich.

Früher, da ... Manuelas Mundwinkel verzogen sich nach unten. Verärgert schlug sie die Augen wieder auf, fokussierte eines der vielen Duftteelichte, die sie auf dem Wannenrand und Toilettendeckel sowie der Fensterbank in bunten Gläsern – natürlich in passenden Farben – aufgestellt hatte und ein geheimnisvoll freundliches Licht verströmten. Das half ihr, den anstrengenden Tag, ihre Vergangenheit, zudem die tief in ihr festsitzende Traurigkeit zu verdrängen.

Der Tag war aber nicht nur anstrengend und doof, musste sie sich eingestehen, dafür war er einfach zu besonders.

Er hatte völlig unspektakulär begonnen: Alles lief glatt. Die Klamotten, das Make-Up, ja, sogar die Frisur saßen. Die Arbeit machte Spaß.

›Nicht schlecht‹ hatte Manuelas Chef ihre ausführlichen Schreiben samt zwanzigseitigem Bericht an die Hauptstelle genannt. ›Nicht schlecht‹ aus seinem Munde bedeutete ein fettes Lob. Noch dazu hatte er ihr eine Tätigkeit mit Führungsoption in Aussicht gestellt, was auch eine bessere Bezahlung bedeutete. Dabei war sie insgeheim mit der Höhe des monatlichen Gehaltes mehr als zufrieden, jetzt, wo es ihr ganz allein gehörte und sie ...

Sie verdrehte die Augen, weil sie sich erneut auf gefährlichem Tabu-Terrain befand, und begann deshalb damit, ihr Gesicht mit Peelingcreme zu bearbeiten. Währenddessen richtete sie ihre Gedanken zielorientiert aus. Das bedeutete, positive Bilanz zu ziehen. Eine ihrer weiteren Methoden, sich der schwierigen Lebenssituation anzunehmen.

Sie war heute gleich zweimal angebaggert worden. Zweimal! Gut, der eine zählte in ihren Augen nicht. Der fiel unter die Kategorie ›jugendlicher Übermut‹. Aber der andere – der war schon ein besonderes Kaliber. Obwohl sie dessen Telefonnummer sofort zerknüllt und in den Papierkorb geworfen hatte, lag der Zettel nun fein säuberlich geglättet auf ihrem Schreibsekretär im Wohnzimmer. Niemand könnte ihr verbieten, diesen durchaus interessanten, äußerst gut aussehenden Mann vielleicht doch anzurufen. Früher, ja ...

»Grrrr«, knurrte sie und tauchte ganz mit dem Kopf unter Wasser, um weitere Tabus daraus zu vertreiben. Dann machte sie sich daran, ihre Beine samt anderer wichtiger Stellen zu rasieren, um damit das Schönheitsprogramm zu komplettieren. Sie zelebrierte es wie ein Ritual. Jede Regelmäßigkeit war wichtig für sie und für ihr seelisches Gleichgewicht.

Deshalb hatten sie diese ganzen unvorhersehbaren Ereignisse auch ein kleines bisschen aus der Bahn geworfen, gestand sie sich ein. Aber das hatte sie nun alles gut hinter sich gebracht, womit sie diese abschweifenden Gedanken endgültig ad acta legte. Stattdessen sinnierte sie darüber nach, wie sie in der Autofrage vorgehen wollte. Neben positivem Bilanzziehen hatte sie sich nämlich auch antrainiert, Probleme offen anzugehen.

Eigentlich hatte sie in der Autowerkstatt rein emotional reagiert, als es hieß, dass der alte Golf eher nicht mehr zu retten wäre. Wie die Wohnung war auch dieses Auto ihr erster wirklich eigener Besitz. Da durfte man ja wohl mal sentimental werden! Allerdings glaubte sie, dass selbst tausendfünfhundert Euro nicht mehr als trockenes Stroh waren, um das Loch im Eimer zu stopfen. Wahrscheinlich lief der ›Golf-Eimer‹ bald wieder Leck, und sie müsste Geld für neues Stroh ausgeben.

Bei der Metapher lächelte sie, ließ die sie doch gedanklich zu ihren Vater treiben, der diesen Vergleich allzu gern benutzt hatte. Noch dazu war er in der Lage gewesen, sich das Lied ›Ein Loch ist im Eimer‹ als Endlosschleife anzuhören und sich jedes Mal aufs Neue darüber zu amüsieren.

Es gab halt Erinnerungen, die sie gerne zuließ, auch wenn ihre Eltern schon lange tot waren und sie als Einzelkind, zudem ohne echte Freunde ihr Leben allein bewältigen musste.

Seufzend stieg sie aus der Badewanne, um sich nach dem Abtrocknen sorgfältig bis in die Zehenspitzen mit Bodylotion einzucremen.

Okay, zurück zum Problem, dachte sie. Und weil sie in den letzten drei Jahren genügend Geld auf die hohe Kante gelegt hatte, entschied sie sich für den Kauf eines neuen Autos. Gleich morgen würde sie sich als Erstes bei ihren männlichen Kollegen schlaumachen. Schließlich hatte sie sich nie groß für Autos interessiert. Da wären deren Ratschläge bestimmt hilfreich. Und übermorgen, am Samstag, da hätte sie ausreichend Zeit, um sich einen neuen Wagen anzuschaffen. Einen niegelnagelneuen oder fast neuen – einen Jahreswagen. Ja, irgend so etwas sollte es sein.

Zufrieden mit ihren Plänen band sie sich das trocken geföhnte Haar zusammen. Die eingehende Betrachtung im Spiegel nach dem Zähneputzen brachte keine neuen Erkenntnisse über Falten. Gott sei Dank! Sie betupfte die Partie um ihre großen hellgrünen Augen mit einem speziellen Gel und bedachte das restliche Gesicht, samt dem etwas spitzen Kinn und der Stupsnase, mit einer Creme für die Nacht. Danach schlüpfte sie in ihren Kuschelschlafanzug und machte es sich im Bett mit Ingwertee und Fernsehen gemütlich.

Wieder hatte sie einen Tag zu Ende gebracht. Das erfüllte sie mit Stolz, denn sie wurde immer erfolgreicher darin. Trotz vieler Jahre der Erniedrigung und trotz des verlorenen Glücks hatte sie einen aufregenden Tag sehr gut über die Runden gebracht.

Jetzt galt es, sich der Nacht zu stellen.

Kuss der Todesfrucht

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