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Zeitlos

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Bumbum, bumbum – Er kommt dich holen!

Bumbum, bumbum – Schleicht sich an auf leisen Sohlen.

Bumbum, bumbum – Er will dich beißen!

Bumbum, bumbum – Wird dich bald in Stücke reißen.

Bumbum, bumbum – Spür seinen Atem!

Bumbum, bumbum – Sollst in deinem Blute waten.

Sein Fell so warm! Sein Blick so kalt!

Er kommt dich holen, und zwar bald!

Bumbum, bumbum – Bumbum, bumbum – Bumbum, bumbum ...

Nein! Hilf mir!

Sie spürt die scharfen Krallen, hört das leise Grollen, riecht seinen Hunger, seine Lust – und weiß, Flucht ist sinnlos.

Ein Baum! Hoffnung!

Ihre Krallen schlagen in den Stamm. Nur noch ein Stück! – Doch da schnappt er zu, bringt sie erbarmungslos zu Fall ... lässt sie stürzen ... immer tiefer ... und tiefer ...

Bumbum, bumbum – Bumbum, bumbum – Bumbum, bumbum ...

Waren es ihre Herzschläge, die sie endlich erlösten und ins Hier und Jetzt zurückbeförderten, oder das monotone Ticken des alten Weckers? Manuela wusste instinktiv, es war ihr Herz. Sein heftiges Klopfen – Bumbum – hatte sie zurückgeholt, zurück in ihre Welt, wo ihr nichts passieren würde. Hoffentlich!

Um vier in der Früh tappte sie ins Bad, um sich den dünnen Schweißfilm von der Haut zu schrubben.

Nichts sollte sie an die Nacht erinnern! Nichts durfte davon an ihr haften bleiben!

Fast hätte er mich gehabt, durchfuhr es sie. Für einen Augenblick lehnte sie die Stirn an das kühle Glas der Duschkabine, bevor sie abrupt das Wasser andrehte. Aber er kriegt mich nicht!, tröstete sie sich.

Müde nahm sie ihren weiteren Morgenrhythmus auf, der sie für den kommenden Tag aufbauen und stärken sollte: Cremen, Föhnen, Schminken, Anziehen.

»Fast fünf Stunden«, überlegte sie laut, während sie die blank schimmernde Küche betrat. In ihrer Stimme schwang Zufriedenheit. Sie hatte die Nacht überstanden, darüber hinaus fast fünf Stunden Schlaf gefunden.

Die Kaffeemaschine brodelte und zischte, bevor sie ihr herrlich duftendes Gebräu ausspuckte. Mit der Tasse in der Hand stellte Manuela sich auf ihrem winzigen Balkon dem Sonnenaufgang entgegen. Dabei versuchte sie, sich einzig auf den blutroten Feuerball zu konzentrieren, der einem goldschimmernden Schleierdunst entstieg.

»Auf den neuen Tag, Manuela. Du schaffst das.« Dieses Mantra flüsterte sie nun schon seit mehr als vier Monaten jedem Tagesanbruch zu. Niemand kannte es. Niemand wusste es. So sollte es auch bleiben.

Seufzend kehrte sie in die Küche zurück, wo sie das Radio anstellte, um den Sechs-Uhr-Nachrichten zu lauschen:

»Guten Morgen, liebe Zuhörer, es ist Samstag, der ...« Die restliche Ansage ging in dem Rauschen unter, das sich explosionsartig in Manuelas Hirn ausbreitete. Rauschen, Schwindel, schlagartig einsetzende rasende Kopfschmerzen übernahmen das Regiment, machten es ihr unmöglich, einen einigermaßen klaren Gedanken zu fassen.

»Samstag?«, rief sie aus. »Wieso Samstag? Heute ist Freitag, verdammt nochmal, Freitag, Freitag, Freitag!«

Der Schwindel wurde stärker, ließ sie taumeln, sodass sie sich am rettenden Esstisch festhalten, dann hastig auf einem Küchenstuhl Platz nehmen musste. Trotz des Dröhnens im Kopf versuchte sie verzweifelt, Klarheit darin zu schaffen.

Ruhig, Manuela, ganz ruhig! Denk nach!

Wie sie es geübt hatte, atmete sie wiederholt konzentriert ein und aus, bis tatsächlich etwas Ruhe einkehrte. Erst jetzt überlegte sie weiter: Gestern war Donnerstag, ganz sicher!

Sie hatte gestern noch mit ihrem Chef besprochen, was heute – am Freitag! – an Geschäftsberichten und Vertragsvereinbarungen anstünde. Sie waren sich einig gewesen, dass es ein gemütlicher Wochenabschluss werden würde, ohne Stress und Überstunden. Verflucht, heute konnte nicht Samstag sein, niemals! Denn das würde ja bedeuten, dass ... Die Ellenbogen auf dem Tisch aufgestützt, fuhr sie sich mit den Händen durch die sorgfältig gestylte Frisur und über das Make-Up.

Der nächtliche Traum kam ihr in den Sinn. Der Traum, den sie schon so lange nicht mehr geträumt hatte und der nun keinerlei andere Rückschlüsse zuließ: Er hatte sie gefunden und ihr Zeitgefüge damit wieder einmal durcheinandergebracht.

Nicht nur ihr Zeitgefüge, gestand sie sich seufzend ein. Alles, einfach alles, was sie sich in den letzten vier Monaten so sorgsam erarbeitet hatte, war in diesem Augenblick hinfällig geworden. Dabei hatte sie gerade gestern Abend das gute Gefühl genossen, auf dem richtigen Wege zu sein, ihre Erinnerungen kontrollieren zu können, Tabuzonen zu umschiffen.

Alles für die Katz!

Nun gestattete sie ihren Gedanken freien Lauf, wusste sie doch, dass er gleich kommen würde, um sie zurückzuholen. Sie unterdrückte einen weiteren Seufzer, stellte sich stattdessen der Erinnerung:

... Nie hatte sie so gezittert, nein, geschlottert vor Angst und Entsetzen.

Aber warum eigentlich? Jetzt gab es doch gar keinen Grund mehr für Angst – Angst vor Schmerzen und Qual.

Er war tot. Lag da am Boden, mausetot! Erstochen mit dem Küchenmesser, das er gegen sie gerichtet hatte, mit dem er sie hatte niedermetzeln wollen, nach fünf Jahren Ehe!

Oh Gott, er ist tot!

Ihr Blick glitt von seiner blutüberströmten Gestalt zu ihren Händen. Mit einem gellenden Schrei ließ sie das Messer fallen, rannte ins Bad und erbrach sich dort auf dem schneeweißen Fliesenboden.

Duschen, kam es ihr in den Sinn, ich muss mich duschen.

Nichts sollte sie daran erinnern! Nichts durfte davon an ihr haften bleiben!

Sie stellte sich samt Kleider unter den siedend heißen Wasserstrahl, ohne die Zeit wahrzunehmen.

Die Zeit schien ausgelöscht. All die Jahre des Ehemartyriums. Die Erniedrigungen, zerstörten Träume, Blutergüsse samt gebrochenen Rippen. Alles getarnt unter langärmligen Shirts, hinter immerwährendem, aufgesetztem Lächeln und dem Bilderbuchpaar, das sie beide nach außen hin abgegeben hatten. Alles verging, verschwamm, und es wurde dunkel ...

Bumbum, bumbum – Er kommt dich holen!

Bumbum, bumbum – Schleicht sich an auf leisen Sohlen.

Bumbum, bumbum – Er will dich beißen!

Bumbum, bumbum – Wird dich bald in Stücke reißen.

Bumbum, bumbum – Spür seinen Atem!

Bumbum, bumbum – Sollst in deinem Blute waten.

Sein Fell so warm! Sein Blick so kalt!

Er kommt dich holen, und zwar bald!

Bumbum, bumbum – Bumbum, bumbum – Bumbum, bumbum ...

Nein! Hilf mir! ...


Als sie schweißgebadet hochschreckte, hielten sie zwei starke Arme. Eine angenehme dunkle Stimme redete sanft auf sie ein. Trotz der beruhigenden Worte zuckte sie heftig zusammen. Sie wusste nicht, was geschehen war, wo sie sich befand, wer da sprach. Außerdem konnte sie nichts sehen. Es war stockfinster.

»Psst, bleibe ganz ruhig. Dir passiert nichts. Du bist in Sicherheit. Alles wird gut.«

»Aber, er kommt, er ist da, er holt mich«, flüsterte sie völlig verwirrt, wusste sie doch nicht, wer da kommen sollte, sie zu holen. Nur das ständige Zittern war ihr vertraut.

»Du hattest einen bösen Traum, Manuela. Kein Wunder, nach all den schrecklichen Jahren. Jetzt kann er dir nichts mehr antun, glaube mir.«

Sosehr sie auch versuchte, ihre Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, die Finsternis blieb undurchdringlich. Dementgegen spürte sie deutlich seine feste glatte Haut. Sie lag in den Armen eines fremden Mannes, stellte sie fest, und zwar so, wie Gott sie erschaffen hatte – und er scheinbar auch.

Abrupt machte sie sich los, um sich aufzurichten. Er hinderte sie nicht daran.

»Wo bin ich? Was ist passiert?«

Alle Erinnerungen an Frederick, an ihren Ehemann, kehrten mit Übermacht zu ihr zurück. Wie er da in seinem roten Blut auf dem blendend weißen Boden der Dreißig-Quadratmeter-Küche lag, mit weit aufgerissenen, leblosen Augen. Die Übelkeit setzte wieder ein.

Das darf nicht wahr sein!

Erneut legte sich ein warmer muskulöser Arm behutsam um ihre Schulter. »Nicht, Manuela, tu dir das nicht an.«

Wonach riecht dieser Mann?, fragte sie sich, und warum dachte sie ausgerechnet jetzt darüber nach, wo es doch erheblich Dringenderes gab, worüber sie sich ihren Kopf zerbrechen sollte? Erde? Riecht er nach frischer Erde? Und da ist noch etwas: Rosen? Nein, es war kein schwerer süßer Duft. Sie erahnte zwar Blumen, aber nur einen Hauch von Blumensüße wie eine Sommerbrise. Ihr kam das Bild einer Wiese voller wildem Mohn und vereinzelten Kornblumen in den Sinn.

Wie kann ein Mann nach Erde und gleichzeitig so sauber und frisch nach einer Sommerwiese riechen?

Sie schüttelte sich, und endlich setzte ihr Verstand wieder ein. »Gibt es denn hier kein Licht?«

»Oh, natürlich, entschuldige.«

Manuela spürte einen Lufthauch. Im gleichen Moment loderten mehrere Fackeln auf, an den Wänden der – Höhle? Jedenfalls wirkte der Raum so, mit den aus Fels gehauenen Wänden, an denen in regelmäßigen Abständen Fackeln in glänzenden goldfarbenen Halterungen brannten, damit den großen Raum in ein ihr unbekanntes, dennoch wohliges Licht tauchten. Die Halterungen waren wie Blumen geformt, sahen aus wie die Blüten und Kapseln des wilden Mohns. Das alles irritierte sie zusehends. Diese Fackeln. Dieses Licht. Dieser Duft. Dieser Mann. Das Bett, auf dem sie saß, strahlte nun hell wie Mondschein.

»Verdammt nochmal, wo bin ich hier?« Bestürzt sah sie an sich hinunter und bedeckte beschämt ihre entblößte Brust.

Die große gebräunte Hand, die ihr eine dunkle Felldecke reichte, wirkte mit den feingliedrigen langen Fingen perfekt.

Kann eine Hand perfekt aussehen? Was ist nur mit mir los? Das muss ein Traum sein, ein wirklich absurder Traum. Nur, warum fühlt sich dann alles so echt an?

Während sie sich zudeckte, ließ sie den Blick langsam an seinem Arm hochgleiten, vorbei an wohlgeformten Muskelbergen, über eine breite Schulter, zu einem starken Hals mit ausgeprägtem Adamsapfel, bis hin zu seinem Gesicht, einem Antlitz, das ihr den Atem stocken ließ:

Augen – zwei leuchtenden Türkisen gleich – blickten zwar ernst, strahlten aber auch eine enorme Ruhe, Wärme und Kraft aus. Über einem energischen Kinn mit männlichem Grübchen in der Mitte lächelte sie ein Mund an, so fest und voll, als wäre er nur zum Küssen erschaffen worden. Hohe Wangenknochen unterstrichen markante Züge. Das blonde Haar fiel ihm bis auf die Schultern.

In Manuelas Augen war Frederick einer der attraktivsten Männer dieser Erde, aber dieses Exemplar hier erschien ihr überirdisch.

»Wer bist du?«, flüsterte sie. »Bitte, sag mir, was passiert ist, und wie ich ...«, sie schaute wieder beschämt an sich hinab, »... so in deine Arme komme.«

»Ich bin Adol. Du hast mich gerufen, Manuela.«

»Ich habe niemanden gerufen. Ich habe ... Ich ...« Sie brach ab, denn ein heftiger Schauder überlief ihren Rücken bei der Erinnerung an das Blut und das Messer – und besonders an Frederick. Doch sie fasste sich, um es erneut zu versuchen. »Ich stand unter der Dusche. Dann wurde alles dunkel. Ich habe nicht gerufen.«

»Oh doch, du hast sogar geschrien. Du hast beinahe fünf Jahre deiner Zeit in fast jeder Nacht geschrien, bis ich deine Schreie erhört habe, erhören musste.«

Nun sah sie wieder zu ihm auf. Seine leuchtenden Augen zogen sie magisch an, gaben ihr keine Chance zum Rückzug.

Trotzdem versuchte sie sich in Gegenwehr. »Ich habe nicht geschrien. Außerdem ist das kein Grund, mich aus meinem Haus, noch dazu nackt in dein Bett zu holen.«

»Ein paar deiner Wunden hatten sich böse entzündet und dich heftig fiebern lassen. Obendrein haben deine Albträume dich gejagt, Nacht für Nacht. Ich habe Verschiedenes ausprobiert, aber meine körperliche Nähe war nun einmal das Einzige, was dich letztendlich beruhigt hat.«

»Du hast also nicht ...? Ähm, ich meine ...« Schlagartig traf sie eine Erkenntnis. »Moment mal! Nacht für Nacht? Wie lange bin ich denn schon hier?«

»In deiner Zeitrechnung?«

»Was soll denn diese blöde Frage? Gibt es auch eine andere?« Allmählich beschlich Manuela ein äußerst ungutes Gefühl, eines, welches über das bereits bestehende ungute Gefühl weit hinausging.

»Du befindest dich jetzt, in diesem Augenblick, seit fünf Tagen, sechs Stunden und dreizehn Minuten bei mir. Die Sekunden ...«

»Schon gut«, unterbrach sie ihn. »Ich brauche keine Sekundenangabe.« Ich brauche einen doppelten Ramazotti mit Eis und Zitrone – und einen Hammer, um ihn mir auf den Kopf zu hauen, überlegte sie. Werd endlich wach, Manuela, du träumst dir da gerade einen furchtbaren Mist zusammen!

»Den Ramazotti könnte ich dir besorgen, aber das mit dem Hammer ginge nun wirklich zu weit, wo ich mir mit deiner Genesung so viel Mühe gegeben habe.«

Scheiße! Das kann doch nicht angehen, oder?

»Dieses Wort ist selbst in meiner Welt ein Wort, das von einer Dame wie dir nicht benutzt werden sollte.«

»Wie bitte? Das wird mir gerade ein bisschen zu viel, Adol, oder wer auch immer du bist. Willst du allen Ernstes andeuten, dass ich tatsächlich splitternackt bei dir im Bett sitze – und das seit sage und schreibe mehr als fünf Tagen? Und als kleines i-Tüpfelchen soll ich auch noch glauben, dass du meine Gedanken liest?«

Sie war laut geworden. Zudem krallte sie ihre Fingernägel in die eigenen Unterarme, um so festzustellen, ob sie wach war oder träumte. Der Schmerz, der sie daraufhin durchfuhr, war bestimmt ein Phantomschmerz, versuchte sie, sich selbst einzureden.

Mannomann, so etwas Verrücktes habe ich noch nie geträumt.

Viele Jahre lang hatte sie sich vor Fredericks grausamen Attacken in eine Traumwelt geflüchtet. Doch war er ihr jedes Mal auch dorthin gefolgt, als wilder Tiger, der sie reißen wollte. Sie, die schwarze Leopardin, war stets ein wenig schneller und behänder als er gewesen. Trotzdem bekam er sie schlussendlich immer zu fassen und dann: Nein! Hilf mir!

»Genau, Manuela, du hast mich immer und immer wieder gerufen, bis ich mich dir nicht mehr entziehen konnte. Niemals hat ein Mensch es geschafft, dass ich ihn erhöre, bis auf dich.«

»Du lieber Gott, wo bin ich da nur reingeraten?« Manuela raufte sich die Haare.

Seine Stimme veränderte sich zu einem tiefen Grollen. »Sprich nicht von ihm! Nicht in meiner Gegenwart, hörst du?« Die Fackeln loderten wild auf. Erneut zuckte sie erschrocken zusammen. Die altgewohnte Angst erfasste sie mit eisigem Griff. Doch im nächsten Moment sprach er wieder sanft: »Entschuldige bitte, aber er ist nicht gut auf mich zu sprechen und ich nicht auf ihn.«

»Wer bist du, Adol?« Zu gerne hätte sie das Zittern aus ihrer Stimme verbannt, klang sie doch ähnlich ihrem jahrelangen elenden Betteln und Winseln, wenn sie Frederick anflehte, ihr nichts anzutun.

»Frederick ist tot, Manuela. Du brauchst keine Angst mehr vor ihm zu haben. Und du warst niemals elend. Er hatte dich in der Hand, aber gebrochen hat er dich nicht. Das hätte ich auch nie zugelassen.«

Sie wollte und konnte derzeit nicht darüber nachdenken, dass dieser Adol sie offenbar schon länger ins Visier genommen zu haben schien. Es kam ihr auf einmal wichtig vor, das Pferd von hinten aufzuzäumen. Irgendwo müsste man ja anfangen!

»Wer bist du, Adol?«, stellte sie ihm deshalb noch einmal dieselbe Frage.

»Ich bin dein Traumbegleiter, dein Zeitgeist.«

»Ist das so etwas wie ein Traum- oder Schlafgott? Mein Go... ähm, meine Güte. Ich habe darüber gelesen: über Morpheus, dem Gott des Traumes, und Hypnos und andere. Die Namen weiß ich nicht mehr. Das ist aber doch einfach nur griechischer Mythos, sonst nichts. Morpheus konnte sich in jede x-beliebige Form verwandeln und in Träumen erscheinen.« Sie betrachtete das Bett, auf dem sie saß. »Sein Bett soll aus Elfenbein gebaut sein und in einer dunklen Höhle stehen. Sein Symbol ist die Kapsel des Opium-Schlafmohnes.« Manuela sah ihn staunend an. »Du bist ein Oneiroi?«

»Du kennst dich recht gut aus in griechischer Mythologie«, stellte er fest, und sie stellte fest, dass er ihr keine Antwort gegeben hatte.

»Nein, ich kenne mich nicht richtig aus. Ich habe mich nur früher einmal ein bisschen dafür interessiert, früher, bevor ... Ach, egal! Du hast meine Frage nicht beantwortet. Bist du ein Oneiroi?«

»Wie wir beide schon gesagt haben: Das ist nur Mythos, Manuela – Mythologie, Sage, Legende, Märchen. Ich bin kein Oneiroi in dem Sinne, wie du sie aus der griechischen Mythologie kennst, weil es solche Wesen gar nicht gibt. Was jedoch nicht bedeutet, dass es gar keine Wesen gibt, die nicht deiner Welt entspringen und deshalb anders sind. Die alten Griechen sind der Wahrheit durchaus nahegekommen.«

Es wird Zeit, dass ich endlich aufwache, überlegte sie. Das geht mir alles viel zu weit.

Bei dem Gedanken an ihr Zuhause legte sich allerdings die Angst schon wieder bleiern über sie. Sie spürte, dass Adol diese Angst von ihr nahm, so, als würde er ihr einen schweren Mantel abstreifen. Überhaupt fühlte sie sich ungewohnt wohl in seiner Nähe, ohne Furcht, voller Selbstwert. Ein gutes Gefühl, wie sie fand, aber nicht von Dauer. Je früher sie sich der Wahrheit stellte, desto besser. Sie sollte sich endgültig von Frederick befreien. Nur, wie?

»Frederick ist tot, Manuela, und das weißt du auch. Er hat dich wie von Sinnen geschlagen, getreten, gewürgt und mit einem Messer bedroht. Letzteres hatte er bis dato noch nie getan. Er hätte dich getötet, wenn du das Messer nicht zu fassen bekommen hättest. Es war Notwehr. Du musstest dich schützen.«

»Mein Gott, ab...« Adol unterbrach sie mit einem wütenden Zischen, doch ließ sie sich diesmal nicht davon beirren. »Aber wenn ich schon fünf Tage hier bin, wie soll ich mich denn da verteidigen? Man wird glauben, dass ich ihn ermordet habe und dann davongelaufen bin.«

»Nein, das wird man nicht. Wenn es so weit ist, wirst du zur rechten Zeit zurückkehren und alles wird geklärt. Allerdings wirst du dieses furchtbar große Architektenhaus nicht halten können. Dein Mann war völlig überschuldet. Na ja, es gehörte ohnehin nur ihm allein. Dir hat er nicht das Schwarze unter den Fingernägeln gegönnt.«

»Woher weiß du das alles?« Resigniert ließ sie die Schultern sacken. »Ach, egal, dich gibt es ja sowieso nicht. Gleich tauche ich in meiner eigenen Misere wieder auf, und alles geht weiter wie bisher.«

Ein heftiger Donnerschlag ließ sie aufschreien. Die Fackeln glichen nun Flammenwerfern. Mit einem Ruck brachte er sie unter sich, nahm ihre Arme und zog sie hoch. Ganz dicht senkte er den Kopf über sie, sodass ihr sein blondes Haar ins Gesicht fiel. Er zog die dichten Brauen zusammen und musterte sie. Goldene Sprenkel tanzten in der türkisblauen Iris seiner Augen. Dann spürte sie seine Lippen auf den ihren – glühend heiß! Gnadenlos nahm er Besitz von ihrem Mund, verschaffte sich Zutritt mit seiner starken Zunge, zwang sie dazu, sich ihm zu ergeben. Aber es war kein Gefühl der Erniedrigung, wie sie es von Frederick kannte, wenn sie sich ihm hatte unterwerfen müssen, um Schlimmerem zu entgehen. Dies war eine süße Kapitulation. Alles zog sich in ihr zusammen, wollte gleichzeitig explodieren.

Mit einem Mal wich er zurück. Sie wollte schon protestieren, biss sich aber verlegen auf die Unterlippe.

»Entschuldige«, presste er hervor.

»Oh, schon gut.« Schon gut? Zu einer schlagfertigeren Erwiderung war sie nicht fähig. Stattdessen fuhr sie sich gedankenverloren mit der Zunge über die Lippen, um seinem Kuss nachzuspüren.

»Ob du mir in diesem Augenblick glaubst oder nicht, tut erst mal nichts zur Sache, Manuela«, gab er nun kühl von sich. Von seiner Heißblütigkeit war nichts mehr zu spüren. »Du wirst erst in deine Welt und Zeit zurückkehren, wenn ich es für richtig erachte. Solange kannst du dich damit befassen, mich für nicht existent zu halten oder mich zu akzeptieren!«

~~~

Als er sie Wochen später in ihre Welt entließ, und zwar bis auf die Sekunde in die richtige Zeit, fand sie Frederick in seinem Blut. Sie stellte sich der Polizei, ihrem neuen Leben – und Adol, der sie seitdem nicht mehr losließ. In ihrer Zeitrechnung mehr als drei Jahre lang!

Kuss der Todesfrucht

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