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Der Kuss der Todesfrucht
ОглавлениеManuela war zu abgelenkt, um Tamarells Schilderungen zu folgen. Verwundert schaute sie sich um, da Adol sie nicht wie gewöhnlich in seine Höhle gebracht hatte, sondern in die Thronhalle des Palastes seines Vaters Densos. Eine immens große grauweiß-marmorne Halle mit gotisch anmutenden Bögen und Säulen, die der Schlichtheit dieser Halle etwas Gigantisches verliehen. Durch die turmhohen Bogenfenster glitt diffuses Licht hinein und schenkte der vorhandenen Strenge damit einen weichen Ton.
Jeder ihrer Schritte hallte in mystischem Klang nach. Doch schon nach einigen Metern verstummten sowohl der Nachhall dieser Schritte als auch Tamarells gedämpfte Stimme, weil sie vor einem schlichten steinernen Thron mit zwei goldenen Sitzkissen stehenblieben, auf denen sich Densos und seine Frau Demira wie aus dem Nichts materialisierten. Er, mächtig groß. Sie, zierlich klein.
Demiras weiße Toga zierten pastellfarben schimmernde Bänder aus irisierendem Glas. Jedenfalls wirkten sie so auf Manuela. Auch Densos trug weiß, eine Art lange Tunika, besetzt mit leuchtend roten Borten an den Säumen, über einer schlichten Hose.
Erschrocken krallte Manuela ihre Finger in Adols Arm, hatte sie doch nicht so rasch mit dem Erscheinen seiner Eltern gerechnet und Densos außerdem in sehr schlechter Erinnerung. Ihre Befürchtungen bestätigten sich, als der große grauhaarige Mann seine moosgrünen Augen unter buschigen Brauen zornig blitzen ließ.
Wieso bringt Adol mich hierher?, fragte sie sich ängstlich.
Doch ehe sie weiter darüber nachdenken konnte, erschloss sich aus den folgenden Sätzen die Antwort:
»Vater«, mahnte Adol, »kein Wort über Manuela! Es gibt momentan Wichtigeres als unsere Verlobung.«
Verlobung? Hat er Verlobung gesagt? Dazu braucht es immer noch Zwei!
Sie hob den Kopf und sah ihn böse an. Adol aber erwiderte ihren Blick nur flüchtig, mit zudem strenger Miene. Dabei drückte er ihre Hand, womit er ihr zu verstehen gab, dass sie schweigen sollte, was sie daraufhin tat.
»Ich dachte, du hättest noch einmal mit Crinda gesprochen«, fuhr er fort, »und ihr hättet euch geeinigt. Wie kann es da sein, dass er Sira trotzdem zurückgeholt hat?«
Tamarell räusperte sich vernehmlich. Er schüttelte seine pechschwarze Mähne und warf Adol einen warnenden Blick aus himmelblauen Augen zu. Ein Blick, der seinem Halbbruder unverkennbar deuten sollte, für sich selbst zum Stiefvater sprechen zu können. »Densos, du hast mir versprochen, Sira und mir zu helfen, allein schon meiner Mutter zuliebe!« In seiner Stimme schwang blinde Wut.
Manuela wusste von Adol, dass Densos nicht viel von Tamarell hielt, war dieser doch das Ergebnis eines außerehelichen Fehltrittes seiner Frau Demira mit einem Halbmenschen. Allein Densos‘ Liebe zu Demira hatten sie und auch Tamarell dieses Fiasko überleben lassen, nicht aber Tamarells Vater. Nichtsdestotrotz stand Tamarell auf Densos‘ Hierarchieleiter deutlich höher als Manuela selbst, obwohl Tamarell ›nur‹ ein kleiner Götterbote war, noch dazu mit menschlichem Einschlag. Manuela aber war in Densos‘ Augen nichts weiter als eine gewöhnliche Sterbliche und damit seines Sohnes Adol unwürdig.
Der erneute Druck seiner Hand spendete Manuela Trost, gab ihr die Gewissheit, dass Adol sie verstand. Außerdem brachte es derzeit wirklich nichts, über Densos’ Feindseligkeit nachzudenken, zumal sie hier mit ihren Gedanken nun wahrlich nicht allein war. Nur gehörte es nicht gerade zu ihren Stärken, sich im Geiste Kinderreime oder andere Unsinnigkeiten vorzubeten, um sich damit vor den anderen mental zu verschließen. Wenn es ihr doch einmal gelang, sah sie sich kaum noch dazu in der Lage, das Geschehen um sich herum wahrzunehmen.
Trotzdem versuchte sie, neben ›Fischers Fritz‹, ›Freude schöner Götterfunken‹ und dem Ärger über die angebliche Verlobung ihre Aufmerksamkeit beizubehalten.
»Es ist nicht meine Schuld, Adol, dass er Sira zurückgeholt hat. Ich habe meinen Teil der Vereinbarung eingehalten. Crinda ist ein Höllenschwein, das weißt du!« Unterdessen richtete Densos sein Augenmerk ausnahmslos auf Adol. Tamarell und Manuela würdigte er keines Blickes, genau wie sie es von ihm erwartet hatte.
Dieses abweisende Verhalten, verbunden mit seinen Worten, brachte ihm offenbar die Missbilligung seiner Frau Demira ein. Nach Manuelas Dafürhalten glich diese hübsche zarte Person mit ihren goldblonden Locken und großen azurblauen Augen einem Rauschgoldengel.
Nun allerdings erschien Demira alles andere als engelsgleich. Aufgebracht zischte sie ihren Gatten an: »Jetzt reicht es, Densos, und zwar ein für alle Mal! Deine halbherzigen Vereinbarungen haben die Liebste eines meiner Söhne in Gefahr gebracht. Meinst du allen Ernstes, Tamarell, Adol, Manuela oder ich würden dir glauben, wenn du behauptest, du hättest dich intensiv um die Angelegenheit gekümmert?«
Auf einmal brauste Wind auf, wirbelte die glänzenden Staubpartikel umher, die bis dahin träge im Licht der einfallenden Sonnenstrahlen geschwebt hatten, und blies zudem allen Anwesenden kräftig ins Gesicht.
»Lass deine Wetterspielchen, Demira!«, polterte Densos.
»Lass deine Wetterspielchen, Demira!«, äffte sie ihn nach. »Nein, ich lasse gar nichts mehr, du starrsinniger alter Bock! Du wirst dich auf der Stelle um Tamarells Belange kümmern, verdammt noch mal! Ich habe es satt, meinen Fehltritt seit Ewigkeiten immer und immer von dir vorgehalten zu bekommen. Und wenn du nicht aufhörst, Tamarell und Manuela wie Aussätzige zu behandeln, dann werde ich hier und noch dazu vor aller Götterwelt auf dem Erhabenen Berg ausposaunen, wie es überhaupt zu meinem sogenannten Fehltritt kommen konnte, Densos, du ungnädigster und hohlköpfigster Traumbegleiter aller Zeiten!«
Während dieses Wutausbruchs vibrierte die Luft, ähnlich einer elektrostatischen Entladung. Manuela konnte nicht umhin, einen spitzen Schreckensschrei auszustoßen.
»Oh, Manuela, das tut mir unendlich leid«, säuselte Demira daraufhin. Nichts war mehr von den gerade noch glühenden Augen, der Zornesröte und wilden Grimasse auf ihrem zauberhaften Gesicht zu sehen. Erneut drehte sie sich ihrem Ehemann zu. »Siehst du? Du hast sie verschreckt, du Trottel!«
Niemals hätte Manuela damit gerechnet, dass dieser riesige autoritäre Mann einlenken würde. Doch genau das tat er.
Sich verlegen räuspernd rutschte er wie ein ertapptes Kind auf dem Thron herum. » Auf dem Erhabenen Berg? Das würdest du nicht wirklich tun, oder?«, gab er kleinlaut zurück.
»Fordere mich nicht heraus, Densos, denn ich bin derzeit äußerst übellaunig. Denke daran – und an die Zukunft!«
Was immer Demiras Zukunftsdrohung zu bedeuten hatte, sie saß ganz offensichtlich. Zusammen mit der weiteren Drohung, alles – was auch immer – auf dem Erhabenen Berg zum Besten zu geben, bewirkte sie Wunder und schien Densos zu besänftigen.
Schwer seufzend drehte Densos den Kopf in Richtung seines Stiefsohnes. »Ich hatte wirklich eine Vereinbarung mit Crinda getroffen, Tamarell, ab...«
»Tzz tzz tzz!«
Er ignorierte seine Gattin und sprach weiter: »Aber ich gebe Demira insofern recht, als dass ich mir hätte denken sollen, dass Crinda sich nicht daran hält. Er ist ein verschlagener, widerlicher Kerl, jedoch nicht dumm. Sira ist schließlich seine Tochter. Er hält sie für sein Eigentum. Ich hätte wissen müssen, dass er sie nicht nur für ein paar schöne Träume hergibt.« Densos kratzte sich den sorgfältig gestutzten graumelierten Bart. »Es wird schwierig werden, sie zu befreien, aber ich habe schon eine Idee.«
Erst als Manuela ihre mentale Schutzmauer wieder ein Stück weit öffnete, konnte sie Densos’ weiteren Worten folgen und wurde sich dabei der Tragweite seines Schlachtplanes bewusst.
»Das wird Crinda sich nicht bieten lassen. Das bedeutet Krieg«, rutschte es ihr heraus.
»Ja«, entgegnete Tamarell grimmig, »das bedeutet Krieg. Aber Crinda hat es nicht anders gewollt. Und Densos‘ Taktik hat was, das muss ich neidlos anerkennen.«
Manuela war mit dieser sogenannten Taktik überhaupt nicht einverstanden. Allein der Gedanke daran, ihr geliebter Adol würde zu diesen Feuerdämonen spazieren, sozusagen in die Höhle des Löwen, versetzte sie in Angst und Schrecken. Da half es ihr auch nicht, dass Adol unter einem relativ guten Vorwand zu Crinda gehen würde. Er sollte nämlich vorgeben, seinen ihm vermeintlich verhassten Vater Densos quasi feilzubieten, um somit einen Pakt mit Crinda zu schließen. Unterdessen würde er sich in den Feuerbergen nach Sira umsehen und nach einer Gelegenheit, sie zu befreien.
Das Ganze war Manuela nicht geheuer. Sie hatte Crinda, den Clanführer der Feuerdämonen, ja bereits kennen und verabscheuen gelernt. Was also würde geschehen, wenn diese Kreatur Adol auf die Schliche käme? Wäre Crinda wirklich so dumm, den Köder einfach so zu schlucken? Würde er eingehen auf Adols Vorschlag, Densos eine Falle zu stellen – Crindas und Adols gemeinsame Falle? Würde Crinda nicht Lunte riechen? Selbst wenn es Adol aufgrund dieser Finte gelingen würde, Sira zu befreien, was käme danach? Der befürchtete Krieg wäre unabwendbar.
Krieg!, überlegte sie panisch. Ich kann doch gar nichts. Ich kann nicht kämpfen oder so etwas. Wie soll ich da denn helfen?
»Du?«, gab Adol ungewohnt schroff auf ihre gedachte Frage zurück. Selbst, als er sie nach ihrer Flucht aufgespürt hatte, war sein Tonfall gegenüber dem jetzigen regelrecht milde gewesen. »Du wirst in deiner Welt bleiben, bis alles vorüber ist! Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich dich hierbehalte, wenn Crinda seine Schergen auf uns hetzt?«
»Aber ...«
»Kein Aber!« Die Antwort donnerte mit Urgewalt durch die Halle, wurde sie doch gleichzeitig von vier Götterwesen gegen Manuela geschmettert.
»Aber«, fuhr trotzig fort und hob warnend die Hand, als Adol den Mund aufmachte, »ich will dich nicht alleinlassen. Es gab eine Zeit, da dachte ich, es sei besser für mich, ohne dich zu leben. Das kann ich nicht mehr. Bitte, Adol.«
Innerhalb dieser paar Sätze wandelte sich ihr Trotz in Verzweiflung, so schnell, dass sie ihre Tränen nicht zurückhalten konnte. Genauso schnell hob Adol sie daraufhin auf seine Arme, brachte sie in ihre Welt und Zeit zurück.
Dort versuchte sie wieder, ihn von diesem Plan abzubringen und davon zu überzeugen, sie nicht alleinzulassen.
Er jedoch ergriff ihre Hände, küsste jeden Knöchel und bedachte sie dabei mit brennendem Blick. »Liebling«, begann er und war sich augenscheinlich der Wirkung des Kosewortes bewusst, das er noch nie zuvor verwendet hatte, »ich will dich ganz sicher nicht bevormunden, doch meine Sorge um dich lässt mir keine andere Wahl. Bitte glaube mir, wenn ich dir noch einmal beteure, wie sehr ich dich liebe. Und bitte glaube mir, wenn ich dir sage, wie sehr ich dich vermissen werde, schon in der ersten Sekunde unseres Getrenntseins, sei es nun zu deiner oder zu meiner Zeit.«
Bevor sie ihm etwas erwidern konnte, verschloss er ihren Mund mit einem sengenden Kuss und trug sie in ihr Bett. Noch nie hatten sie sich hier geliebt. Seine Miene verriet ihr, dass genau dies geschehen würde.
Er benutzte keine Magie, sondern schürte ihr Feuer allein mit seinen ruhelosen Händen, die zunächst beinahe suchend über ihre glühende Haut strichen. Dann aber zerrissen sie mit energischer Bestimmtheit den dünnen Stoff ihrer Bluse, befreiten sie in Windeseile von allen anderen Kleidungsstücken, um jeden Quadratzentimeter ihres Körpers in Besitz zu nehmen.
Wie konnte sie sich ihm widersetzen, wenn er mit eben diesen Händen ihre Brüste in Beschlag nahm, als gehörten diese nur ihm? Wenn er seine Zunge um ihre Spitzen kreisen ließ, als wären sie nur für seinen Mund gemacht? Wenn er eben diesen Mund benutzte, um ihre feuchte Hitze in verzehrende Glut zu verwandeln? Wenn er in sie eindrang, sanft und stürmisch zugleich, sie so köstlich ausfüllte und im vollendeten Takt in eine Welt katapultierte, in der es nur ihn und sie gab? In der die Farben allesamt süß schmeckten und Feuer zu Eis verschmolz, Wüste mit Wasser überschwemmt wurde und die Düsternis blendete. In der sie nur Liebende waren, nicht Götterwesen und Mensch.
Wie oft schon hatten sie sich geliebt? Wie oft schon hatten sie sich gegenseitig alles gegeben und alles genommen? Und doch war es niemals so gewesen wie jetzt, als sie schluchzend seinen Namen rief, mit Tränen in den Augen dem süßen Schmerz entgegentrieb, auf einem nie gekannten Gipfel seinem Liebesschwur lauschte, den er hervorstieß, bevor er sich heiß in ihr verströmte.
~~~
Noch während Manuela die Augen aufschlug, erstarb das Lächeln, welches ihre Lippen umspielt hatte, erkannte sie doch sofort, dass ihr Adol nicht mehr bei ihr war. Sie konnte ihm nicht einmal böse sein, obwohl für sie feststand, dass er sie ins Reich der süßen Träume geschickt hatte, um ihnen beiden den Abschied zu ersparen.
Wieder stiegen Tränen auf. Der Beginn des bangen Wartens auf Adols Rückkehr, die Hilflosigkeit, in der er sie hier zurückgelassen hatte – all dies ließ sie in eine Traurigkeit versinken, der auch ihr antrainiertes positives Denken und zielorientiertes Problemlösen nicht gewachsen waren. Sie wollte sich gerade mit der Hand die Tränen fortwischen, als sie die Schwere des Ringes spürte, sein Funkeln erblickte.
Adol musste ihn ihr an den Finger gesteckt haben, als sie schlief. So etwas Wunderschönes hatte sie noch nie gesehen. In den breiten mattgoldenen Reif war eine stilisierte Mohnblüte aus Rubinen mit Staubgefäßen aus schwarzem Diamanten eingelassen. Andächtig betrachtete sie das Schmuckstück und fühlte sich Adol dadurch nah.
Er kommt ja bald zurück, tröstete sie sich, und dann werde ich ihn heiraten. Ob ordentlicher Heiratsantrag oder nicht, ich will ihn. Er ist ein Zeitgott, also bekommt er es bestimmt auch hin, dass ich nicht zur alten Schachtel verschrumpele, während die Jahre an ihm spurlos vorüberziehen.
Darüber hatte sie nie mit ihm gesprochen. Das könnte sie später noch tun. Ihr Lächeln kehrte zurück, und sie fiel erneut in einen kurzen traumlosen Schlaf.
Als sie danach erfrischt und gestärkt aufstand, entdeckte sie auf dem Küchentisch weitere Überraschungen:
Ein üppiger Strauß Klatschmohn stand in ihrer Lieblingsvase und verströmte einen herrlichen Sommerwiesenduft, der sie augenblicklich an Adol erinnerte. Darunter lag eine Schatulle auf einem Kuvert mit Goldrand. Noch während sie auf ihrer Lippe kaute und sich nicht entscheiden konnte, was sie zuerst öffnen sollte, griffen ihre Finger bereits nach dem Samtkästchen, um es hastig aufzuklappen.
Sie hielt den Atem an. Eine dicke mohnrote Perle an einer zierlichen goldenen Schnur glänzte ihr entgegen. Vorsichtig nahm sie das Geschenk aus dem Samtbett. Doch bevor sie sich die Kette umhängte, wollte sie unbedingt nachschauen, was in dem Kuvert steckte. Also nahm sie das Papier heraus und entfaltete es sorgfältig. Sie hatte noch nie etwas von Adol gelesen, fiel ihr ein, und freute sich über die schön geschwungenen Lettern. Es waren viel mehr als erwartet, und sie hatten es in ihren Augen in sich:
Liebste Manuela!
Du hast also den ›Kuss der Todesfrucht‹ bereits gefunden, bevor Du meine Zeilen gelesen hast? Das ist schön, denn so kenne und liebe ich Dich. Ich weiß, Du wirst mich nie enttäuschen, wenn man einmal von Deiner dummen kleinen Flucht absieht.
Manuela schloss kurz die Augen, weil er ihr das immerzu vorhielt. Es würde Zeit, dass er weniger nachtragend wäre.
Ich weiß, Du hältst mich für nachtragend, aber Du sollst wissen, wie sehr mich die Trennung von Dir geschmerzt hat. Dann kannst Du sicherlich verstehen, wie unsagbar schwer es mir fällt, Dich jetzt alleinzulassen.
Doch nun zurück zu dem Schmuck:
Es handelt sich bei dem ›Kuss der Todesfrucht‹ um ein Amulett, auch wenn man es der Perle nicht ansieht. Und störe Dich bitte nicht an seinem Namen. Es trägt ihn seit Anbeginn aller Zeiten und hat sich damit schon gegen manchen Widersacher zur Wehr gesetzt, denn ja, es kann todbringend sein. Dir aber wird es nichts als Schutz, Liebe und Trost geben, meine wunderschöne Manuela. Trage es immer, halte es in Ehren, und die Zeit bis zu unserem Wiedersehen wird wie im Fluge vergehen.
Da ich mir sicher bin, dass Du den Ring meiner Ahnen nicht fortgeschleudert hast, sondern ihn immer noch an Deinem Finger trägst, darf ich auf eine baldige Hochzeit mit Dir hoffen. Ich kann es kaum erwarten, Dich als meine Braut zum › Erhabenen Berg ‹ zu führen.
Sie schüttelte heftig den Kopf, als sie diese und die folgenden Zeilen las:
Sei nicht so widerspenstig, Liebling. Das bringt doch nichts. Bald schon schließe ich Dich wieder in meine Arme, und Du wirst für ewig mein.
Du bist meine Liebe, mein Leben, mein Traum und meine Zeit!
Dein Adol
Immer wieder las sie die Zeilen, so, als ob sie noch etwas finden könnte, würde sie nur lang genug danach suchen.
»Du bist eine dumme Kuh!«, schalt sie sich laut. »Da hat er dir so schöne Sachen geschenkt und dir einen so wundervollen Brief geschrieben, und du erwartest tatsächlich noch mehr. Schäm dich!«
Bedächtig faltete sie das Papier zusammen und steckte es zurück ins Kuvert, nicht ohne zuvor ihre Lippen einmal darauf zu pressen.
Als sie danach zum Spiegel trat, um sich das Amulett anzulegen, wünschte sie sich aus tiefstem Herzen, Adol stünde hinter ihr und würde das an ihrer Stelle tun. Dabei würde er ihr Haar zur Seite schieben, mit einem Blick seiner türkisfarbenen Augen ihr Spiegelbild samt ihrer Sinne durchbohren. Traurig ließ sie die Arme wieder sinken und besah sich den Schmuck genauer. Kuss der Todesfrucht – Was für ein Name! Es schien ihr so, als würde er in der späten Abenddämmerung pulsieren.
Mit der Perle in der Hand lief sie gedankenverloren zum Balkon, um den letzten Sonnenstrahlen zu folgen, bis diese sich im Gewirr der gegenüberliegenden Häuser und Bäume verfingen und der Nacht mit einem letzten Auflodern Platz schufen.
Sie sollte versuchen, noch ein bisschen zu schlafen, überlegte sie, nahm den Brief und ging zurück ins Schlafzimmer. Dieser Brief und die wundervollen Geschenke hatten sie zwar unglaublich erfreut und glücklich gemacht, aber auch irgendwie ausgelaugt. Sie vermisste Adol mit jeder Faser ihres Seins. Was nutzte ihr da der Schmuck? Plötzlich fühlte sie sich matt und leer.
Aus alter Gewohnheit streifte sie den Ring ab, legte ihn gemeinsam mit dem Amulett sorgfältig aufs Nachtkästchen und kroch wieder ins Bett. Hier konnte sie ihn riechen. Tief sog sie Adols Duft ein, nahm den Brief nochmals aus dem Kuvert, um ihn ein weiteres Mal durchzulesen, drückte das Papier danach an ihr Herz und löschte das Licht.
Wie konnte es sein, dass sie in dieser Nacht vom Tiger verfolgt wurde? Wo war Adol? Warum half er ihr nicht?
Adol, so hilf mir doch!