Читать книгу Die 8te Pforte - Akron Frey - Страница 10
Kapitel 1
ОглавлениеNiemand
„Hörst du mich?“, vernahm ich deutlich eine Stimme. „Wer bist du?“, gab ich zwischen den Welten zurück.
„Gleich wirst du dich wieder erinnern“, hörte ich den inneren Ruf, „lass die Augen nur zu!
Dann kannst du den Übergang besser erfahren, der in deinen Träumen auf dich wartet.“
„Was für einen Übergang?“
„Unsere Begegnung findet auf einer Frequenzebene statt, die bereits an die Pforten des Bewusstseins anklopft, und ich bin die Energie, die ständig zwischen Bewusstem und Unbewusstem hin- und herpendelt. Hier bin ich reine Energie und verfüge im Gegensatz zur anderen Seite über keine äußere Gestalt, doch zur Erleichterung habe ich dir ein Bild von mir rückwirkend in dein Gedächtnis projiziert.“
Der Hintergrund meiner inneren Bilder brachte das Bild wunderbar zum Ausdruck. Es stellte einen Mann unter einer mächtigen Kapuze dar, dessen Gesicht verdeckt im Schatten lag, nur die roten Augen funkelten hervor. Das Gesicht war mir sehr vertraut und auf irgendeine Weise schienen mir auch seine Augen zu antworten, denn einen Moment lang hatte ich das seltsame Gefühl, als blinzelten sie mich an.
Nichts geschah. Das Dröhnen der Stille verstärkte sich. Kein Mensch weit und breit, als ich wieder zu mir kam. Ich war allein, über mir nur die Decke und vor dem Fenster das nächtliche Grau. Um mich herum war es ganz still, weder Geschrei, Chaos oder Hektik, es roch nach Medikamenten und nur das leise Blubbern irgendwelcher Maschinen erfüllte den Raum.
Ein paar Erinnerungsfetzen zuckten mir durch den Kopf und ich hatte das Gefühl, als ob ich vergeblich gegen ein Fahrzeug ankämpfte, das wie ein wilder Stier auf mich zugeschossen kam, und in der nächsten Einstellung lag ich bewusstlos auf der Strasse. Ich machte mir Gedanken, wo ich war und versuchte, alles um mich herum genau aufzunehmen. Dazu liess ich meinen Blick über einen Gesichtskreis von 180 Grad schwenken. Irgendwie nahm ich ein paar grosse Apparaturen und Instrumente um mich herum wahr, Beatmungsmaschinen, Röntgen- und Infusionsgeräte, und langsam dämmerte mir, dass ich mich im Herz eines „Emergency Rooms“, an der Schnittstelle zwischen Rettungswagen und Krankenhaus, befinden musste. Ich war nicht ganz wach, aber ich schlief auch nicht; es musste ein seltsamer Wachtraum sein, der mich mit seinen Schlangenarmen umzüngelte, ein halbwacher Zustand mit dem traumähnlichen Bild eines aus Fragmenten bestehenden Ereignisses.
Noch während ich erschöpft wieder die Lider schloss und mich mit einem Seufzer noch tiefer ins Bett sinken liess, wusste ich, dass ich nicht träumte. Niemals zuvor in meinem Leben war ich bei klarerem Bewusstsein gewesen. Es gab nicht den geringsten Zweifel. An der Wand auf meiner linken Seite leuchtete plötzlich ein grosser Lichtfleck auf und irgendwie starrte ich in einen kegelförmigen Spalt: „Komm da raus!“, rief ich unvermittelt. Aus dem rechten Augenwinkel nahm ich kurz eine Bewegung wahr. „Ich weiss genau, dass du da drinnen steckst!“
Die Leuchtkraft schien die ganze Wand zu überfluten. Es war, als sähe ich durch die geschlossenen Augenlider in ein beissendes Geflimmer. Eine weiße Lichtaura zog mich an und von einer Sekunde zur anderen entzündete sich ein Feuerwerk in meinem Hirn. Erst zirpende, kaum hörbare Stimmen, die immer höher kletterten, kreisende Geräusche, die sich immer schneller drehten und plötzlich hatte ich das innere Gespür, mit den Stimmen zu schweben und in die Ewigkeit aufzusteigen. Ich spürte, wie meine Wirbelsäule in rasende Vibrationen geriet. Irgendwie fühlte ich mich auf einmal in zwei Teile gespalten und gleichzeitig nahm ich den Leuchtfleck als Rahmen einer mir unsichtbaren Welt wahr, in der ich meinem Seelenführer begegnete, irgendwo zwischen Himmel und Erde.
„Zeig dich mir endlich!“ Meine Stimme zitterte vor Aufregung. „Oder bist du zu feige, dich mir zu stellen?“ Dann hörte ich ein leises Scharren, dem ein schürfendes Geräusch folgte. Das Leuchten schien sich auszudehnen und wieder zusammenzuziehen. Es hatte offenbar begonnen, in meine Richtung zu fliessen, denn der Lichtkegel wurde stärker und deutlicher sichtbar. Irgendwann bewegte sich der Spalt, und mir war, als ob jemand den Raum betrat. Um mich herum flutete ein strahlender Glanz.
Ich fühlte mich geistig wie berauscht, als dieses flimmernde Gefunkel wellenförmig auf mich zufloss. Ich versuchte aus den leuchtenden Flächen so etwas wie eine Form oder ein Gesicht herauszulesen; dazu liess ich meinen Blick über das glühende Objekt vor meinen Augen gleiten und sofort glaubte ich irgendwie vertraute Züge wahrzunehmen, die unter dem starken Lichtglanz zum Vorschein kamen, oder anders gesagt, ich wartete, bis die darunterliegenden Gesichtszüge durch die verblassende Glut hindurchschimmerten. Auch wenn ich nichts Genaues wahrnehmen konnte, so bildete ich mir ein, als ob es eine Erscheinung unter einer mächtigen Kapuze war, die sich mir aber nicht zu erkennen gab. „Erkennst du mich? Weisst du, wer ich bin?“, hörte ich eine Stimme, obgleich ich mir ziemlich sicher war, dass ich in diesem Augenblick nur träumte.
„Wo sind wir hier?“, brach es statt einer Antwort aus mir heraus. Meine Persönlichkeitsstruktur löste sich auf und ich bemerkte, wie eine fremde Energie durch mich hindurchfloss.
„Gleich wirst du dich wieder erinnern, allmählich wirst du die Situation verstehen, in der du dich befindest …“ Ich spürte einen eisigen Atem im Gesicht: „Mein Name ist Niemand. Ich bin der Wächter an der Schwelle und erscheine jedem in der Gestalt, in der er sich an mich erinnern kann …“
„Niemand?“ Es war, als ob die mir bekannte Realität zusammenbrach, denn neben meinem Bett sah ich plötzlich zwei flimmernde Augen aufleuchten, als würde ich von einem Hochenergielaser berührt. Das eine Auge brannte sich mir mit seinem Blick punktuell in den Geist oder das Denken ein, während sich das andere kreisförmig um das Empfinden meiner Seele legte, und sie wechselten sich im Rhythmus so ab, dass, wenn das eine in mir explodierte, ich mich in den freien Raum hinausgeschleudert fühlte und, wenn sich das andere in mir wieder zusammenzog, ich mich in Niemands Herzen angekommen fühlte. Zudem erblickte ich um die beiden Augen herum mein eigenes Gesicht: mitten im Zimmer, in dem ich mich befand, und das Leuchten war mein Augenlicht. „Versteh ich dich recht?“, hauchte ich aus dem hintersten Winkel meiner Seele.
„Absolut!“, erwiderte er. „Genauso, wie sich jeder Lebensabschnitt aus verschiedenen Handlungsabläufen und inneren Persönlichkeitsteilen zusammensetzt, ist auch der Tod ein Ereignis mit ganz unterschiedlichen Ausgängen. Dort, wo sich die geistigen Ebenen mit dem menschlichen Selbst schneiden, entsteht ein Durchgang, durch den das Ende in dich eindringen kann.“
„In mich eindringen? Davor bewahre mich Gott!“, brüllte ich. Geister und Dämonen tanzten auf meiner inneren Bühne und schleuderten ganze Armaden von Lichtspeeren auf mich. Mein mehrdimensionales Wesen flackerte einen Moment, dann begann sich meine Bewusstseinsbühne langsam zu verschieben, als ob sie sich zu einem anderen Blickwinkel auseinanderfalten wollte. Unfähig, mich zu rühren, konnte ich spüren, wie seine Energie in meinem Körper floss.
Er legte mir die Hand auf den Kopf und sagte: „Hab keine Angst! Während des Todes löst sich das gewohnte Ich auf und zerstäubt wie eine Handvoll tanzender Funken. Für das menschliche Ego hört sich das viel schlimmer an, als es wirklich ist. Es ist nur das geistige Herausfegen alter Bilder aus deinem Kopf: Ist dieses alte Gerümpel erst einmal aus deiner Seele verbannt, fühlt es sich im gleichen Augenblick schon sehr viel freier an …“
„Mir wird angst und bang …“, wimmerte ich, der Erschöpfung nahe. Ich spürte, wie sich mein Wesen ganz allmählich mit neuen Erkenntnissen füllte und der veränderte Geist die alten Prägungen aus mir herausdrängte.
„Jaja, ich weiss“, erwiderte er, „Niemand macht dir Angst. Es ist der rigorose Abbau alter gewohnter Beklemmungen in deinem Hirn. Spürst du die Wirkung? Bald bist du frei!“
„Was willst du?“, strömte der Schreck aus meiner Seele. Erschütternde Gewissheit breitete sich in mir aus. Als das Leuchten intensiver wurde, verloren sich die Umrisse seines Gesichts … sie begannen sich langsam zu verdunkeln.
„Ich bin auf deinen Ruf gekommen, um dir zu zeigen, wohin du gehen willst!“, sagte er und ein amorphes Objekt leuchtete an seiner Stelle.
Niemand schien einen empfindlichen Nerv in mir getroffen zu haben, denn ich fühlte, wie mir Tränen in die Augen traten. „Dann sag mir, wohin ich gehen will?“, schluchzte ich.
„Zu mir!“, antwortete er. „Ich sagte schon, dass Niemand für das Ende deines Egos steht, und das ist es, was dich antreibt: Du willst zu mir!“
„Zu dir?“ Ich war konsterniert. „Ist das mein Ziel?“
„Ja und nein. Jeder Mensch setzt seine persönliche Welt nach den eigenen Vorstellungen und Wünschen zusammen.“ Wieder bemerkte ich einen Lichtereffekt an der Stelle, wo ich sein Gesicht vermutete. Allmählich wurden die Gesichtszüge wieder deutlicher. „Aber du bist anders, hast ein anderes Ziel“, fuhr er fort. „Du möchtest die Gesamtheit deines Selbst erfahren, deshalb hast du mich gerufen.“
„Ist meine persönliche Welt denn eine andere?“, erlaubte ich mir sachkundig dagegenzuhalten.
„Gewiss“, bestätigte er, „du bist ein nörgelnder Skeptiker und magst die Menschen nicht, die sich traditionell verhalten.“ Die beiden Ebenen begannen sich ineinander zu verdrehen.
„Und wieso kann ich das alles hier mehrfach sehen?“, versuchte ich herauszufinden, denn gleichzeitig lag ich im Bett und konnte nicht nur Niemand, sondern auch noch ein paar weitere verschiedene Frequenzbereiche um mich herum deutlich wahrnehmen, die sich wie die Speichen eines Rades um eine imaginäre Nabe in meinem Kopf drehten.
„Du bist eben anders“, tat er mir kund. „Du weisst, dass die Beschreibung der Welt nur in deinem Kopf existiert und zwar durch die Brille, die dir dein Ego diktiert. Diese Sichtweise verändert sich im Leben je nach Verschiebung des Fokus, durch dessen Linse du die Welt betrachtest. Jede Veränderung der Perspektive verwandelt auch den Hintergrund, auf den sich die Erfahrung der ursprünglichen Sichtweise bezieht, und von verschiedenen Standpunkten aus kannst du verschiedene Assoziationsebenen aufrufen, die unbekannte Bereiche deiner Persönlichkeit freilegen. Es sind deine sechs inneren Geister oder Wesensteile, denen du hier begegnest!“
„Wo seid ihr – ihr Geister?“, brüllte ich. An der Wand auf meiner linken Seite öffnete sich plötzlich ein mannsgrosser, kegelförmiger Lichtspalt. Ich starrte in die Glut: „Kommt wieder aus mir raus!“, befahl ich meinen inneren Wesensteilen. „Niemand hat euch erlaubt, dass ihr in mir drinbleiben könnt.“ Es war, als sähe ich durch meine geschlossenen Augenlider in ein beissendes Geflimmer. Mein Sehen war viel mehr als nur ein äusseres Bild: es war ein inneres Erkennen. Und als ich meine Aufmerksamkeit bewusster auf die äussere Erscheinung neben meinem Bett richtete, deren Gestalt aus dem Schatten plötzlich ins Licht trat, schienen mir auf irgendeine Weise auch ihre Augen zu antworten, denn einen Moment hatte ich das seltsame Gefühl, als hätten sie mich erkannt.
Ich stellte fest, dass diese Vision mehr als nur ein Erlebnis oder eine Erinnerung war: Sie bebilderte eine multiple Situation, in der das Geschehen mehrdimensional übereinandergeschichtet war. „Könnt ihr mehr über euch erzählen?“, erwiderte ich interessiert.
„Sei nicht so neugierig, wir werden dir bald alle begegnen“, hörte ich sie sagen. „Wir sind deine sechs auf unterschiedlichen Stufen operierenden inneren Personen, von denen du alles erfragen kannst, was dich interessiert und was du zu erfahren suchst.“
„Das ist schon ein komisches Gefühl, wenn ich daran denke, dass ihr alle in mir existiert. Wie kann ich mich schützen?“ Ich hatte ein mulmiges Gefühl beim Gedanken, dass da irgendeine fremde Energie in mein Inneres eingedrungen war.
„Normalerweise braucht man sich vor uns nicht zu schützen“, raunten sie mir zu, „denn wir lösen in den Menschen nur die ‚zukünftigen Erinnerungen‘ aus, an die sie sich erst sehr viel später erinnern können, da sie im Moment ihres Empfindens noch gar nicht stattgefunden haben.“
„Dann seid ihr die unerlebten Erfahrungsmuster und Frequenzebenen unbekannter Wesen meiner Art?“, hörte ich mich selbst denken. „Wo kommt ihr her? Was ist eure Welt? Kann ich irgendetwas für euch tun?“, versuchte ich meine innere Unruhe zu überspielen.
„Was möchtest du denn tun?“ Sie schienen ziemlich belustigt über das, was ich sagte.
„Ich möchte mich von meinem persönlichen Ego lösen und euch in die Geisterwelt folgen …“, versuchte ich sie zu überzeugen und löste damit ein Beben in meinem Solarplexus aus. Die Vibrationen wurden schneller und fingen an, sich in mir zu drehen, bis mir schwindlig wurde.
„ … uns folgen“, wiederholten sie verdächtig sanft. Kaum hatten mich ihre Worte berührt, fühle ich die wundersame Wiederkehr einer tief aufsteigenden Erinnerung in mir. Das Licht im Raum wirbelte nach innen, wobei es herrliche Reflexe hervorrief und seltsame, züngelnde Schatten warf: „Du könntest dich höchstens darauf konzentrieren, unsere Botschaft zwischen deinen Ohren gut zu verarbeiten.“
Die Geister expandierten im Bewusstsein rasend schnell und füllten bald mein ganzes Gesichtsfeld aus. Im nächsten Augenblick zogen sie sich zu einem Lichtpunkt vor mir zusammen, von dem ich annahm, dass es Niemands leuchtendes Auge war. Im Grunde war es mein eigener Blick, der sich mir durch Niemands Auge gegenübersah, eine durchscheinende, schimmernde Glut, deren Tiefe die Unbegrenztheit des Kosmos atmete.
„Sieh nur“, sagte dieser ganz ruhig, „sie kommen aus dem Unbewussten herauf zu dir, um dir etwas mitzuteilen.“ Einen Moment war ich ganz davon in Anspruch genommen, die Lichtfünkchen, die ihn umströmten, zu beobachten.
Und gleichzeitig blickten Niemand und ich uns gegenseitig an, da wurde ich mir plötzlich meiner multiplen Situation bewusst. Irgendwie schien er die Kontrolle über mein Verhalten übernehmen zu wollen und ich fragte mich, ob das Ganze möglicherweise nur ein Versuch von mir war, mit dem Tod und dem bevorstehenden Übergang besser umgehen zu können.
„Kommst du mit mir?“, enthüllte er sein charmantestes Lächeln. „Ich habe dich oft in deinen Träumen besucht, auch wenn du dich nicht mehr daran erinnern kannst …“
„Und nun bringst du mir die Erinnerung zurück, die ich schon längst vergessen habe“, fiel ich ihm ins Wort. Ich spürte die alten Bilder in mir: „Ja, ich komme mit“, meine Gedanken begannen zu rasen. Sie drehten sich immer schneller, bis ich sie nicht mehr einzeln wahrnehmen konnte. Meine Hirnganglien fingen an, sich zu bewegen, und das Ganze stieg wie ein nebelhafter Schleier zu mir auf, eine endlose Kette von Assoziationen, die an meiner Wahrnehmung vorbeischwebten. Schnitt.
Mein mehrdimensionales Wesen flackerte einen Moment, dann begann sich meine Bewusstseinsbühne langsam zu verschieben, als ob sie sich zu einer tieferen Dimension von Erkenntnis auseinanderfalten wollte. Und eine Botschaft vereinigte sich aus sechs verschiedenen Perspektiven in meinem Mund: „Wir sind ‚Niemands‘ verschiedene innere Selbst und möchten dir zeigen, was dich auf der anderen Seite erwartet. Bist du bereit?“ Er lächelte maliziös.
„Ja, ich möchte mit dir kommen, dich durch alle Sehnsüchte meines Herzens begleiten“, jubelte es in mir, „und mich in jeder Hinsicht von dir leiten lassen.“
„Dann lass uns die Welt durch meine Augen betrachten …“, mit einem Mal spürte ich seine Augen in meinem Kopf, seine Gedanken pressten sich in mein Bewusstsein und es war, als sähe ich durch die halbgeschlossenen Augenlider in ein Licht: „ … die ich dir zur Verfügung stelle, damit du die Zusammenhänge in deiner Erinnerung besser verstehen kannst!“
Doch bevor ich in seinen Eingebungen versank und mit den mir geliehenen Augen die Ewigkeit ausmaß, hatte ich eine seltsame Vision: „Du fließt als ein Ausdruck menschlichen Ringens um die letzten Dinge in das kosmische Nichts zurück“, strömte es aus meiner Seele. Schnitt.
„Vermeide seinen Blick …“, sagte eine geisterhafte Stimme plötzlich neben mir und ich spürte, dass ich nicht alleine war. Es war aber auch nicht ‚Niemand‘. Eine unbekannte Energie, die ich in Verdacht hatte, der Tod zu sein, hatte sich zwischen uns gestellt und bewegte sich wie ein Doppelgänger. Irgendwie schien mir, als pendelte sie zwischen ihm und mir.
„ … sonst wirst du von ihm aufgesaugt!“ Plötzlich blickte ich durch die Augen meines Traumkörpers. Während die Person, die ich eben noch war, versuchte, seine Hand zu erfassen, dabei aber nur ins Leere griff, berührte mein geträumter Teil die Hand des Sensenmannes: „Was für dunkle Erinnerungen löst du in mir aus?“ Ich weigerte mich, irgendwelche Ratschläge zu befolgen, solange ich die Zusammenhänge nicht kannte.
„Während des Todes löst sich das gewohnte Ich auf und zerstiebt wie eine Handvoll tanzender Funken, und gleichzeitig entstehen neue Impulse, zwischen denen eine starke Verbindung besteht“, fauchte er mich an. „Das ist auch eine der Ursachen, warum wir miteinander reden können, obwohl wir ganz andere Energiewesen sind. Aber durch einen gemeinsamen kosmischen Traum schwingen wir auf der gleichen Frequenz.“
Sein Gesicht flimmerte. Es war der Tod. Im Grunde war es mein eigener Blick, der dem Tod im Umweg über Niemand ins Auge sah, eine durchscheinende, schimmernde Glut, deren Tiefe die Unbegrenztheit des Kosmos atmete.
„Deshalb pendelst du in diesem Augenblick zwischen Verstand und außerkörperlicher Wahrnehmung hin und her, ohne dich aber für die eine oder andere Seite entscheiden zu können“, antwortete er und schaute mich lang und unverwandt an, „denn du bist im Begriff, dich von deinem Körper zu lösen, obwohl du davon auch nicht restlos überzeugt bist, und im Moment steht es unentschieden, das heisst, dir stehen beide Perspektiven offen.“
Ich sagte ihm, dass ich mich in diesem Augenblick sehr unbehaglich fühlte. Ich fürchtete mich vor dem Unbekannten, das mich erwartete, und das mich gleichermassen anzog. Ich hatte Angst.
„Jeder kommt irgendwann an diesen Punkt“, erklärte Niemand hoheitsvoll. „Auch ich bin vor langer Zeit an dieser Stelle gestanden, und die Kraft hat mich geführt. Mach dir keine Sorgen – schließlich bist du ein Stück von mir …“
„Ein Stück von dir – wie soll ich das verstehen?“
„Niemand ist nichts, weil er alles ist“, erwiderte er und schaute mich an. Ich lag nackt ausgestreckt auf dem Laken auf dem schmalen Bett und gleichzeitig fühlte ich mich schwerelos in der Luft kreisen. Der ganze Raum drehte sich um mich. Aus seinem Gesicht fühlte ich Wellen auf mich zufliessen, die mich umgaben, während er weiter sprach: „Jedes kleine Teilchen in mir ist mit menschlichen Erinnerungen gefüllt, die sich durch den Geist bereisen lassen, wenn der Mensch seine Träume und seine außerkörperlichen Erfahrungen für sich nutzen kann. Ich selbst drang in deinen Geist wie in ein verwandtes Territorium ein, und meine Botschaft veränderte sich in deiner Erinnerung, bis du sie als deine eigene erkanntest, denn ich bin die Kraft, die du gerufen hast, um dir zu helfen, der zu werden, der du bist.“
„Und wer bin ich – der Du bist?“ Es war, als hätte meine Seele ihren Körper verlassen, denn obwohl ich mich teilweise unten in der materiellen Sphäre wahrnahm, spürte ich auch, wie ein anderer Teil seine Worte wie ein Treppengeländer benutzte, um sich zu den Göttern hinauf zu schwingen.
„Es gibt kein Ich“, fuhr er fort. „Deshalb gibt es auch kein göttliches Wesen, das man beschreiben könnte, es gibt tausend innere Wesen, die sich zu einer Seele zusammenfinden und sich ständig nach ihren Selbsterfahrungen und ihrer Selbstwahrnehmungsidentität einordnen und umschichten. Zugleich spalten sich ständig Energieströme aus dem Persönlichkeitskern ab und gehen eigene Wege, indem sie sich mit neuen Bewusstseinskonfigurationen verbinden.“ Da fiel mir plötzlich auf, dass er eigentlich gar keine menschlichen Umrisse hatte; das Ganze erschien mir wie eine energetische Vibration. Ich schaute ihn genauer an und weiter fiel mir auf, dass sich sein Bild mit meinen Gedanken irgendwie anders als sonst verknüpfte: ähnlich einem Wesen aus einer anderen Welt, das sich wie eine menschliche Gestalt anfühlte, wie ein geträumter Mensch sozusagen, der eine mächtige Anziehung auf mich ausübte.
„Ganz im Gegenteil“, tat mir der Halbgeträumte kund. Sein Gesicht vibrierte. Es verwandelte sich in einen riesigen Leuchtfleck. Das Licht schien sein ganzes Wesen zu durchfluten und mir war, als ob ich durch die halbgeöffneten Augenlider vor meiner eigenen Erkenntnis stand: „Man könnte diesen Vorgang auch als eine seelische Verwandtschaft bezeichnen, ein Sympathieband oder eine Art starke innere Bindung zwischen verschiedenen Wesen mit verwandten Genen. Zwischen diesen Energieteilen bleibt ein starker seelischer Bund bestehen, egal, wieweit sie sich voneinander entfernen.“
Und als ich ihn fest anschaute, hatte ich den Eindruck von etwas ganz Realem; er war irgendwie tief in mir verwurzelt und übte eine mächtige Anziehung auf mich aus, aber irgendwie war er auch nicht real. Gleichzeitig spürte ich, wie seine Ausstrahlung meine Aufmerksamkeit losliess und sich mein Bewusstsein auf die alleinige Frage zubewegte: „Aber woher nehme ich die Gewissheit, dass du mir keinen Scheiss erzählst?“
Plötzlich berührte er mich; es war wie ein Tropfen reiner Energie. Auch konnte ich seine energetischen Vibrationen sehen. Er schien sich meiner Anwesenheit bewusst zu werden und im gleichen Atemzug spürte ich seine Hand auf der Schulter.
Es war, als sei ein Teil von mir, der schon gestorben war, durch diese Berührung wiederbelebt worden. Als ich die Augen öffnete, war es ein kurzer Moment der gleiche Schauplatz. Ich sah seine Gestalt, irgendwie war er mir vertraut, doch die ganze Szene verschwand in dem Augenblick, als er zu sprechen anhub: „Menschen, die sich anziehen, strömen in der Sekunde, da der Funke zündet und überspringt, miteinander korrespondierende Energieteile aus.“
Ich spürte nichts, aber ich war überzeugt, dass mein Kopf an seiner Schulter lag: „Das ist übrigens das Geheimnis, das wir als Liebe empfinden, und die Art der Aneinanderreihung dieser Jenseitsmeditationen führt zu dem, was der Mystiker normalerweise als die Entwicklung der Persönlichkeit seiner Seele bezeichnet“, fuhr er fort. Seine Augen funkelten aus dem Nichts, und beinahe hätte ich mein Bewusstsein verloren.