Читать книгу Wir und die Anderen - Albert Helber - Страница 8
ОглавлениеDer Homo sapiens denkt und plant.
Beim Homo sapiens, dem bisher letzten Glied in der Reihe der Hominiden, ist die Situation eine ganz andere. Er taucht, mit der genetischen Uhr am mitochondrialen Genom (mtDNA) oder dem Y-Chromosom (Y-DNA) ermittelt, vor 150 bis 200 Tausend Jahren in Afrika auf30, 31. In Äthiopien wird der Herto-Schädel, das 160 000 Jahre alte und älteste Fossil eines Schädels des modernen Menschen entdeckt. Weitere 100 Tausend Jahre werden vergehen, bis eine neue mentale Funktion des Homo sapiens erkennbar wird. Neues Verhalten taucht dann auf, wenn der neue Mensch oder Homo sapiens die Mehrheit in der Gesellschaft stellen wird. „Wenn eine Mutante auf Grund eines Vorteils nur ein Prozent mehr Nachkommen hervorbringt als ihre Konkurrenten, steigt ihr Anteil in der Population in knapp 400 Generationen von 0,1% auf 99,9% an“, so lese ich bei Steven Pinker31. Wie bestimmend die Homo-sapiens Mutanten für deren Fortpflanzungspotenz waren, wissen wir nicht. Dass viele Generationen notwendig sind, eine neue Mutante zum Besitz einer Bevölkerungsmehrheit zu machen ist offensichtlich. So erklärt sich die Latenz zwischen der Entdeckung einer neuen Art mit Hilfe der genetischen Uhr und der Entwicklung eines neuen Verhaltens. Wurden im Alt- oder Mittelpaläolithicum noch immer nur leicht veränderte Steingeräte bis zum Faustkeil verwendet, so kommt es zum Ende der mittleren Steinzeit (200 000 bis 40 000 Jahre), v.a. aber in der Jungsteinzeit (40 000 bis 10 000 Jahre) zu einer Zunahme handwerklicher Mannig-faltigkeit. Mit deren Aufkommen offenbart sich eine die emotionale Intelligenz ergänzende „kognitive oder gedankliche Intelligenz“, die Neues schafft und schöpferisch aktiv ist.
Zum Ende der mittleren Steinzeit, v.a. aber in der Jungsteinzeit erhalten die Steingeräte schärfere Kanten nach Art der Levallois-Technik. Neue Materialien wie Knochen, Elfenbein oder Horn von Mammuts, Bisons oder Nashörnern werden verwendet. Knochen- oder Elfenbein-spitzen auf Holz oder Bambusstöcke fixiert, werden zu Wurfspießen. Handwerkliche Produkte entstehen. Zahl und Vielfalt archäologischer Funde nimmt zu in der Jungsteinzeit. Schmuck aus Knochen, aus Zähnen, Muscheln oder Schnecken, dann aus Obsidian wird gefunden. In Höhlen wie Altamira oder Lascaux werden Silhouetten von Mammuts oder Rotwild an die Wände gemalt. In Dolni Vestice werden aus der Jungsteinzeit stammende Hüttenreste entdeckt. Siedlungen sind Ausdruck einer beginnenden Sesshaftigkeit. Keramik und Ton kommen zum Einsatz und vor 6500 Jahren wird erstmals Kupfer verwendet. Ein unterschiedlicher Gebrauch von Materialien, die Konstruktion von Werkzeugen, Abbildungen von Tieren an Höhlenwänden und Siedlungen führen zu einem ersten, handwerklich-technologisch ausgerichteten Höhepunkt der Sapiens-gesellschaft: Die Archäologie spricht von einer „neolithischen Wende“ oder einer „zivilisatorischen Revolution“ der Jahre 10 000 bis 6000 v. Chr. In diesen 4 000 Jahren, so lese ich in Hansjürgen Müller-Becks „Steinzeit“28 sei der Mensch „erstmals durch Kultivierung von Pflanzen und Domestikation von Tieren selbst zum Neugestalter der von ihm benutzten Ökosysteme“ geworden. Der „Ertrag der Scholle“ und der „Reichtum an Vieh“ seien die Grundlage menschlicher Kultur“.
„Ertrag der Scholle“ oder „Reichtum an Vieh“ sind nicht die Grundlage, sondern Ergebnisse menschlicher Kultur. Deren „Grundlage“ ist der neue- und schöpferische Geist des Menschen. Mit der zivilisatorischen Wende der menschlichen Frühgeschichte wird deutlich, wie in nur kurzer Zeit ein Wandel entsteht. Die Neues schaffenden Heroen wirken noch im vorgeschichtlichen Dunkel. Sie bleiben unbekannt oder verbergen sich hinter mythischen Figuren. Was diese namenlosen Helden hervorbringen lässt sich nur in der Rückschau erkennen: Schon vor mehreren 10 000 Jahren malt ein namenloser Künstler in einer Höhle sein erstes Bild. Er malt nicht nur ein Bild. Er wird zum Begründer von Kunst und niemand wird jemals von ihm erfahren. Ein Anderer bemalt die geritzten Umrisse der Tiere mit Farben gepresster Pflanzen oder Früchten und schafft so Bilder, die uns bis heute erhalten bleiben. Ohne dass ein gemeinschaftlicher Nutzen sichtbar wird, führen die Beobachtungsgabe eines Beerensammlers und die Freude über ein gejagtes Tier zu Bildern in Altamira oder Lascaux in Europa und an vielen anderen Orten in Afrika, Asien und Australien. Die Bilder werden dort gefunden, wo historische Forschung betrieben wird. Ein nicht von Not-wendigkeit getriebener, sondern von Lust oder Langeweile gedrängter Künstler hat erste Bilder, hat die Kunst erschaffen.
Ein Anderer beobachtet und schließt: Was an beliebiger Stelle heranwächst, kann ich auch in der Nachbarschaft meines Lagerplatzes wachsen lassen. Er streut Körner und sieht Getreide wachsen. Nicht eine Not, sondern Interesse und Neugier hat den Sammler geleitet. Als namenloser Held wird er zum Begründer des Ackerbaues. Sein Freund ist Jäger. Er trägt eine von der Herde zurückgelassene junge Ziege zum Lagerplatz und beobachtet wie diese sich an ihn gewöhnt und größer werdend nicht mehr von seiner Seite weichen will. Er beobachtet, wie ein junges Tier sich an den Menschen gewöhnt und schließlich nicht mehr weg rennt. Er hat eine Ziege domestiziert, nicht weil die Not ihn treibt, sondern weil sein Mitleid und eine dadurch entfachte Nachdenklichkeit sein Interesse weckt. Von Gefühlen ausgehende Nachdenklichkeit macht aus dem Jäger einen Hirten und Viehzüchter und die Neugier macht aus einem Sammler einen Pflanzer und Ackerbauer.
Nicht die „Verknappung wild wachsender Nahrung“, die „zunehmende Verbreitung domestizierter Wildpflanzen“, die „Entwicklung von Techniken zum Ernten, zum Verarbeiten und Lagern“ oder die „Wechselbeziehung zwischen dem Anstieg der Bevölkerungsdichte und der aufkommenden Landwirtschaft“ haben die Domestikation von Pflanzen und Tieren bewirkt, wie Jared Diamond32 beschreibt. Möglich gemacht wird die Domestikation von Pflanzen und Tieren allein durch die Intelligenz eines modernen Menschen, eines fühlenden und jetzt nachdenklich gewordenen Individuums. Gedankliche Intelligenz zieht aus Beobachtungen weitreichende Folgerungen. Die durch Ackerbau und Viehzucht entstehenden Folgen von Sesshaftigkeit, von zunehmender Bevölkerungsdichte, von beruflicher Spezialisierung, von Formen der Organisation und Gründung von Städten, von Besitz und von Hierarchie konnten jene großartigen Jäger und Sammler nicht vorhersehen. Sie verwirklichten nur eine Idee: Sie waren die geistreichen Erfinder, die aus einer Beobachtung richtige Schlüsse zogen. Für die Folgen ihrer Entdeckung sind Andere verantwortlich. Diese Erfahrungen sollten sich in der menschlichen Gesellschaft noch oft wiederholen.
Man kann die „neolithische Wende“ als einen ersten Höhepunkt der schöpferischen Aktivität des Sapiens-Menschen bezeichnen. Begonnen haben dessen Erfindungen aber schon viel früher. Die „zivilisatorische Wende“ hatte eine lange Vorlaufzeit. Dies schreibt auch der australische Archäologe Gordon Childe, der den Ausdruck „neolithische Revolution“ prägte: „Das Vorspiel zu der neolithischen Wende muss sehr viel länger gedauert haben, und es ist auch weniger leicht zu entscheiden, was man genau als ihren Höhepunkt bezeichnen sollte“33. Die neolithische Wende begann vor 50 000 bis 100 000 Jahren und ist auch kein auf Vorderasien lokalisiertes Phänomen. Sie findet weltweit statt. Erste Groß-siedlungen entstehen nicht nur in Ägypten oder im Vorderen Orient. Zu gleicher Zeit entstehen Großsiedlungen und erste Reiche an unterschiedlichen Regionen in China oder im Tal des Ganges in Indien.
Mit der in der neolithischen Wende offenbar werdenden technologischen Mannigfaltigkeit, mit Entwicklung von Tierzucht und Landwirtschaft, mit der Herstellung von Schmuck und Bildern zeigt sich eine neue Intelligenz des Homo sapiens: Er benutzt sein Umfeld, gestaltet dieses und verändert. Es ist der Beginn schöpferischer Intelligenz. Wer gestaltet und verändert wird zur Sesshaftigkeit gezwungen weil Landwirtschaft und Geräte oder Vieh binden. Wer ortsgebunden ist, wird aber bald die Weite als neues Ziel entdecken: Fremdheit ist für den Hominiden zwar eine angstbelastete Bedrohung. Für den Homo sapiens aber wird Fremdheit zur gesuchten Heraus-forderung. Er ist neugierig und will wissen, was sich jenseits der eigenen Behausung verbirgt. Während die Hominiden sich an der Küste vortastend, 11/2 bis 2 Millionen Jahre brauchten, um fern von Afrika aufzutauchen, erschließt sich der Homo sapiens die Erde in nur 50 000 Jahren und überwindet schwierigste Klimazonen. In „Die Wege der Menschheit“30 beschreibt Spencer Wells mit Hilfe der genetischen Uhr die Reisewege des Homo sapiens: Vor etwa 80 000 bis 60 000 Jahren verlässt er Afrika, erreicht auf einer Südroute schon vor etwa 40 000 Jahren Australien, kommt vor 35 000 Jahren nach Zentralasien, von dort nach China und Europa und betritt vor etwa 20 000 Jahren über Sibirien und die Beringstraße den amerikanischen Kontinent. In Patagonien, an der Südspitze Südamerikas gefundene archäologische Funde zum Homo sapiens sind etwa 10 000 Jahre alt.
Unbezweifelbar haben geographische- oder klimatische Hindernisse und gelegentlich auch aufgekommener Bevölkerungs-druck die „Wege der Menschheit“ mitbestimmt. „Wir wissen“, schreibt Wells30 „dass der Homo erectus sich in Ostasien ungefähr eine Million Jahre lang nicht nennenswert veränderte, vielleicht weil der Selektionsdruck im wesentlichen gleich blieb... und Kontinuität begünstigt hat“. Einen mentalen Unterschied zwischen dem Homo erectus und dem Homo sapiens erwähnt er nicht. Genau dieser auf genetischer Basis entstandene Unterschied aber macht vor 150 000 oder 200 000 Jahren aus einem gefühlsorientierten und gegenwartsbezogenen Gruppenwesen des Homo erectus einen von Verstand und Geist geleiteten und der Zukunft gegenüber offenen Homo sapiens. Wie alle genetischen Neuerungen vollzieht sich diese mentale Verwandlung ohne Mitwirkung von klimatischen- oder geographischen Schranken. Diese mentale Verwandlung hat den modernen Menschen „biologisch dazu angepasst sich anzupassen“. Nicht der Selektionsdruck ist für die Erectus-Hominiden ein anderer als für die Sapiens-Menschen. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden ist ihre unterschiedliche Mentalität: Wo es ungemütlich wird weichen die Hominiden mit ihren Gruppen aus. Ihre Bedürfnisse orientieren sich ausschließlich an den Gegebenheiten, welche Natur und Umfeld bieten. Der Homo sapiens aber weicht nicht. Er verändert. Er besorgt und erschafft sich Hilfsmittel, mit welchen er auch höchsten Herausforderungen trotzen kann. Sein Interesse und gelegentlich auch der Druck des Hungers veranlasst ihn, entfernte Regionen auf zu suchen. Nicht ein Selektionsdruck hat sich in den letzten zwei Millionen Jahren verändert, sondern die mentalen Voraussetzungen, einem Selektionsdruck Stand zu halten, haben sich verbessert. Allein die mentalen Veränderungen des Homo sapiens können erklären, warum der moderne Mensch in gerade mal 50 000 Jahren jeden entfernten Winkel unserer Erde bevölkert, während der Homo erectus sich nur in jenen Zonen festsetzt, wo sein Überleben gesichert ist. Dass der Homo sapiens diese Besiedlung in, evolutionär betrachtet, Minimalzeit schafft, dafür sind die Gestaltungs-fähigkeit, die Offenheit für Zukünftiges und Unbekanntes von wagemutigen Individualisten verantwortlich. Der Homo sapiens wird immer schon von seiner Neugier getrieben. Dies war früher so und ist es bis heute geblieben: Immer wird das Neue von wenigen geistigen Giganten erschaffen. Wie Ackerbau und Viehzucht durch eine einmalige Idee oder Beobachtung entstanden sind, habe ich anzudeuten versucht. Dass danach beide zu einer Aufgabe von Vielen werden, ist eine gängige Folge von allen wichtigen Erfindungen. Für die Besiedlung der Erde gelten gleichartige Bedingungen: Niemand wird unter den Bedingungen der Frühzeit auf Grund eines Bevölkerungs-druckes gezwungen, die asiatische Steppe zu verlassen und sich in den Westen nach Europa oder ostwärts in den winterlichen Norden Sibiriens und nach Alaska zu wagen. Trotzdem werden diese Abenteuer von Wenigen unter-nommen. Sie werden von der Neugier auf bisher Unbekanntes angezogen. Sie tun das was später Kolumbus tut: Auch ihn trieb nicht die Not aufs Meer sondern seine Neugier auf bisher Unbekanntes. Dass seine Erkundungs-reise dann zu einem Seeweg für viele wird, ist eine bekannte Folge von Entdeckungen und Erfindungen. Auch die Polarforscher Amundsen und Scott oder der Berg-steiger Hillary mussten nicht den Südpol oder die Spitze des Mount Everest erreichen. Sie mussten nicht, sie wollten. Sie wollten ihre Neugier und ihren Forschergeist befriedigen. Dass Mond oder Mars zu einem modernen Fernziel für Wenige geworden sind, ist ein aktuelles Beispiel dafür, was für den Homo sapiens schon immer gilt: Einzelne wenige geistige Giganten oder Individuen lockt das Unbekannte und Unerforschte. Sie bereiten das Terrain, auf welchem Viele folgen. Aus einem erreichten Ziel von Wenigen wird eine Sehnsucht für Viele. Der Homo sapiens erschließt sich den Erdball nicht weil er dazu gezwungen wurde, sondern weil er neugierig war. Er hatte das Neugier-Gen in sich, das Kolumbus nach Amerika, Amundsen und Scott an den Südpol und Hillary mit seinem Sherpa auf den Mount Everest führte.
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Zum Ende der mittleren Steinzeit oder der Jungsteinzeit verfügen die Hominiden über eine Kommunikation mit einfacher Laut- oder vielleicht auch einer frühen Einwortsprache. Sie hilft beim Sammeln und Jagen und belebt den „Klatsch und Tratsch“17 am Lagerfeuer. Dass die Hominiden in den Jahrmillionen ihrer Entwicklung sprechfähig werden, zeigen paläoanthropologische Befunde28: Der Sprechapparat der Hominiden kann eine Vielzahl von Phonemen oder Vokalisierungen erzeugen und er kann diese auch hören und wohl auch unter-scheiden. Wie fortgeschritten diese neue-, Mimik und Gestik ergänzende-, Laut- oder stimmliche Sprache bei den Hominiden war, ist Spekulation. Sprachen hinterlassen keine Spuren. Stimmen und Laute sind noch keine Sprache. Sie bestätigen allein das Vorhandensein eines Sprech-apparates oder einer Sprachfähigkeit. In einer sesshaften- und von Hierarchie oder von einer neuen Ordnung bestimmten Gesellschaft aber muss sich Sprache verändern. Aus einer gestisch begleiteten Laut- oder Einwortsprache am Lagerfeuer muss eine von Vielen verstehbare grammatikalische Ansprache werden.
Ist die menschliche Sprache mit ihren Wortsymbolen und grammatikalischen Hilfen eine Fort- oder Weiter-entwicklung früherer in der Evolution angelegter Formen von Kommunikation? Oder ist die menschliche Sprache in einem einmaligen oder revolutionären Akt der Evolution entstanden? In der Vorstellung heutiger Sprachforscher wird die grammatikalische Sprache als eine Weiter-entwicklung von Hominiden-Kommunikation gedeutet. Andererseits ist der Übergang von der Einwortsprache in eine grammatikalische Sprache ein wirklich revolutionärer Schritt. Die mit dem Homo sapiens aufgekommene gedankliche- oder kognitive Intelligenz braucht kein spezielles Sprachmodul. Sie kann neue Begriffe konstruieren, kann Vergangenheit, Gegenwart und jetzt auch Zukunft, kann Eigenschaften, ein- oder Mehrzahl und Vergleiche sprachlich verdeutlichen und Worte durch grammatikalische Hilfen zu gedanklichen Aussagen optimieren. Eine grammatikalische Sprache zu entwickeln braucht die kreative Intelligenz des Homo sapiens. Die Fähigkeit zu abstrahieren ist gefordert.
Schließlich macht die Fähigkeit der Abstraktion aus einer Bilderschrift eine Buchstabenschrift35: In der Bilderschrift vermitteln Bilder, was ich zu sagen versuche. Dann aber hatte wiederum ein unbekannter „Hero“ die geniale Idee mit abstrahierten Bildern der Keilschrift nicht mehr Bilder sprechen zu lassen, sondern sie zu Buchstaben zu machen, die unter-schiedliche Laute oder Phoneme repräsentieren. Die Buchstabenschrift als Sprachäquivalent wurde geboren. Wie der aus nur vier Aminosäuren entstandene genetische Code eine unendliche Zahl von biologischen Wesen schaffen kann, schafft es die Buchstabenschrift aus wenigen Buchstaben eines Alphabetes eine unendliche Zahl von Worten und Schriften entstehen zu lassen. Als kulturelle Errungen-schaft folgt die Schrift den biologischen Vorgaben des Genoms.
Bei der Schriftentwicklung wird zunächst Bildern eine Bedeutung zugesprochen und die Bilderschrift entsteht. Dann erzwingen Materialien, auf welchen geschrieben wird, besondere Stilformen. Wer sein Bild in Ton ritzen muss, wird seine Bilder vereinfachen. Abstraktionen des ursprünglichen Bildes entstehen. Der schließlich entscheidende Schritt in die Buchstabenschrift aber kommt noch: Aus Bildern entstandene Abstraktionen werden nicht mehr mit ihrer früheren Bildbedeutung assoziiert, sondern mit zunächst bedeutungslosen Lauten der menschlichen Stimme. Die geleistete Genialität besteht in der Zuordnung eines abstrahierten Bildes oder der späteren Buchstaben zu unter-schiedlichen Lauten. Aus gehörten Lauten werden geschriebene Buchstaben und daraus Worte.
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Ist das Leben der Hominiden von Empathie und Gefühlen bestimmt, von Gefahrenerkennung, von Gefahren-vermeidung und von solidarischem Verhalten in der Gruppe geprägt, das dem Lebenserhalt geschuldet war, so entsteht mit dem Homo sapiens ein zweites mentales Erbe, das die bisherigen sinnlichen Erfahrungen und Gefühle der Hominiden mit einem gedanklichen Rückzug beantwortet. Rationale Analyse, Planung, schöpferisches Gestalten und zukünftige Entwürfe werden zu einer zweiten menschlichen Option. Das mentale menschliche Erbe der Hominiden wird durch einen Homo sapiens-Anteil ergänzt. Der Homo sapiens
° ergänzt das empathische Mitfühlen der Hominiden durch
rationale Kontrolle.
° ergänzt das Wahrgenommene durch Abstraktionen: Wo
Wahrgenommenes einem Denkprozess unterzogen wird,
wird daraus eine gedanklich definierte Abstraktion.
° macht aus Gruppenidentität Individualität:
Gruppenidentität stiftende Gefühle werden gedanklich
analysiert. Negative Gefühle, Sorgen und Angst sollen
rational begründet und überwunden werden.
° ergänzt das sensorische Reagieren durch schöpferische
Kreativität: Wer die Zukunft in seine Gedankenwelt
integriert wird planen, will Neues entdecken und Grenzen
überwinden.
° ist kreativ. Die schöpferische Kreativität von
Individuen aber ist immer auch eine Ursache für
gesellschaftliche Ungleichheit und schafft
Machtoptionen, welche eine Gesellschaft spalten.
3. Emotionale und kognitive Intelligenz:
Notwendiger Kompromiss oder Ursache für
Entfremdung?
Zwei Millionen Jahre mentaler Evolution hinterlassen uns Menschen ein doppeltes Erbe. Wir suchen die emotionale Nähe, den persönlichen Kontakt zu Familie, zu Nachbarn und Freunden und wollen zugehören, wie die Hominiden dies in ihren Gruppen vorlebten. Dann aber wollen wir uns auch unterscheiden, mit gedanklichem Rückzug Wissen erwerben und einen persönlichen Weg finden. Wir wollen planen, Eigenes schaffen und uns selbst erfinden, wie viele Sapiens-Menschen dies vor uns taten. Wir wollen sein wie alle Anderen, aber auch tun dürfen, was wir wollen. Wir passen uns an, doch wollen wir uns auch unter-scheiden. Wir ahmen nach, aber wir spekulieren auch. Wir spielen zusammen und lieben trotzdem den Wettkampf. Wir sind extrovertierte Gefühlsmenschen, die geliebt werden wollen, aber auch introvertierte Denktypen, die den Abstand und das Allein-sein suchen. Ein divergent ausgerichtetes Streben ist unser mentales menschliches Erbe. Evolution entsteht im dialektischen Miteinander zweier Pole. Dieses duale Prinzip der Evolution ist Voraussetzung für Entwicklung. Es wurde auch an den Menschen weiter gegeben und lenkt menschliches Verhalten. Die Metamorphose vom Kind zum Adoleszenten ergänzt eine emotionale- durch eine kognitive Intelligenz. Deren Miteinander lenkt schließlich uns Menschen und auch unsere Geschichte.
Gefühle und Gedanken sind Ausdruck einer emotionalen- und kognitiven Intelligenz des Menschen. Gefühle entstehen aus sinnlichen Erfahrungen. Was wir sehen, hören, spüren oder schmecken führt zu Gefühlen. Das Denken kann Gefühle analysieren und diese auch wieder auslösen. Beim Denken aber verlassen wir die erfahrbare Welt und tauchen ein in die Innerlichkeit der Gedanken. Wir entwickeln Abstraktionen. Aus Vergangenem und Gegenwärtigem produziert das Denken Zukünftiges, erstellt Wünsche und macht Hoffnung. Das Denken eröffnet dem Menschen eine neue Dimension von Weltferne und Zukunft.
In der mentalen Evolution zum Menschen und auch in der Individualentwicklung des Menschen bestimmen Gefühle das menschliche Bewusstsein bevor der Mensch zu denken beginnt. Gedanken kommen vor allem dann auf, wenn Emotionen oder Gefühle uns verunsichern. Emotionen und Gefühle führen in der Evolution ins Denken und wieder-holen diese Funktion in der Entwicklung eines Individuums. Man sucht nach Ursachen, man analysiert und kommt zu Gedanken und schließlich zu Ideen. Gefühle und Denken bilden zusammen das Gerüst einer bewusst werdenden menschlicher Mentalität. Wo Wohlgefühle aufkommen wird wenig spekuliert. Wenn Unsicherheit aufkommt beginnt das Denken. Unsicherheit und Entfremdung stellen sich dann ein, wenn gedankliche Entwürfe oder Ideen sich all zu sehr von einer wahrgenommenen Welt und entstandener Gefühle entfernen, wenn Gedanken und Ideen wichtiger werden als Gefühle, oder wenn der Kompromiss zwischen emotionaler- und kognitiver Intelligenz misslingt.
Individualentwicklung des Menschen ist ein Spiegel der Evolution und Kompromiss aus emotionaler- und kognitiver Intelligenz37.
Wozu die Evolution zwei bis drei Millionen Jahre benötigt, schafft die Individualentwicklung des Menschen in etwa 30 Jahren. Divergent ausgerichtete Bedürfnisse des Menschen entwickeln sich in der Evolution an Vorfahren, die im Durchschnitt kaum älter als 30 Jahre alt werden39,40,41. Das emotionale Erbe der Hominiden oder Steinzeitmenschen formt unsere Kindheit und das kognitive Erbe des Homo sapiens lenkt unsere Adoleszenz. In der Kindheit lernen wir von Familie und Freunden, wir ahmen sie nach und erfahren durch sie jenen warmherzigen Zusammenhalt, der den frühen Hominiden oder Steinzeitmenschen das Überleben sicherte. In Pubertät und Adoleszenz hilft uns ein neu aufkommendes gedankliches Streben die Geborgenheit in der Familie aufzugeben und uns auf eigene Füße zu stellen. Wir suchen und streben und haben Ziele, die uns zu schaffenden-, kreativen- und gereiften Individuen machen, wie der Sapiens-Mensch dies vormachte.
Kindheit und Adoleszenz benutzen in der Individual-entwicklung jene emotionale- und kognitive Intelligenz, welche in der mentalen Evolution zum Menschen nacheinander von den frühen Hominiden und dann vom Homo sapiens entwickelt werden. Von einem doppelten- und nacheinander aufkommenden mentalen Erbe des Menschen spricht in diesen Tagen die Neurowissenschaft. Die Intelligenzforschung lehrt ein zweistufiges Modell der Intelligenzentwicklung38 des Menschen: Eine genetisch kontrollierte „fluide Intelligenz“ - Informations-speicherung, Schnelligkeit der Informationsverarbeitung – hat ihren Höhepunkt in der Kindheit. „Kristalline Intelligenz“ oder die Breite der Informationsverarbeitung als Interpretation oder Erklärung entwickelt ihren Höhepunkt in der Adoleszenz und nimmt nach dem 30. Lebensjahr wieder ab.
Von einem „zweistufigen Modell der Verhaltens-entwicklung“42 berichtet in den letzten Jahren auch die Neurophysiologie: Bis vor wenigen Jahren hielt man das menschliche Gehirn mit der frühen postnatalen Periode für „ausgewachsen“. Alle weiteren mentalen Entwicklungen erklärte man als Folgen von Sozialisation und kulturellem Lernen. In den letzten 20 Jahren entdecken die Hirn-forscher mit der Adoleszenz eine zweite Phase der Hirn-strukturierung, für welche genetische Faktoren, hormonelle Einflüsse und Lernerfahrungen verantwortlich gemacht werden42, 43. Die amerikanische Neuro-wissenschaftlerin Sisk spricht von einem „zweistufigen Modell der Verhaltensentwicklung“44 mit einer ersten Welle der Hirnstrukturierung in der Perinatalphase und einer zweiten Welle in der Adoleszenz: Strukturelle Veränderungen des menschlichen Gehirns werden bis ins dritte Lebensjahrzehnt beschrieben. In der Adoleszenz werden makroskopische Veränderungen der Gehirn-morphologie oder der Relation von grauer und weißer Hirnsubstanz beobachtet. Die „kortikale Konnektivität“ verändert sich und die Ausreifung einzelner Hirnareale ist altersabhängig: Parietale- oder okzipitale Hirnlappen reifen früher als die frontalen- und temporalen Hirn-lappen. „Die strukturelle und funktionelle Entwicklung sensorischer Hirnareale endet weitaus früher als die Ausreifung evolutionsgeschichtlich jüngerer Areale, welche mit sehr komplexen, oft für den Menschen spezifischen kognitiven Funktionen befasst sind“45.
Dass sich Leben oder Erleben in der Kindheit und dann wieder in Adoleszenz und frühem Erwachsenenalter grundsätzlich unter-scheiden, ist eine Erfahrung. Für das Kind sind Sachen und Personen in seinem Umfeld wichtig. Es lernt mit Objekten und ist „extrovertiert“ auf Objekte ausgerichtet. Der Adoleszent aber zieht sich aus einer Welt der Objekte zurück. Er wird nachdenklich und entwickelt Gedanken. Sein Wissen ist eine „introvertierte“ Verarbeitung bisheriger Erfahrungen. Ein Unterschied zwischen Evolution und Individualentwicklung allerdings bleibt: Emotionale- und Kognitive Intelligenz mussten in der mentalen Evolution entwickelt werden. In der Individualentwicklung unterstützt die bereits vorhandene kognitive Intelligenz das kindliche Lernen und verwandelt schon in der Kindheit einen nachahmenden Umgang mit Objekten in deren schöpferische Neugestaltung. In der Individualentwicklung des Menschen führt der Kompromiss zwischen Extroversion und Intro-version oder emotionaler- und kognitiver Intelligenz zu unterschiedlichen Entwicklungsphasen:
Die ersten 6-7 Jahre der kindlichen Entwicklung sind eine „extrovertierte oder objektorientierte-, von Gefühlen begleitete- und gedanklich gestützte Lernphase“. Das Kind entwickelt sich sensomotorisch, beschäftigt sich mit Objekten, es ahmt nach aber verändert auch. In diesen Jahren werden das Umfeld und die Objekte zum Mittelpunkt des Sammelns von Erfahrungen und zur gedanklichen Schulung.
Danach folgt im Alter von etwa 7 bis 8 Jahren ein erster Rückzug in eine Innerlichkeit die Sigmund Freud als „Latenzperiode“ der kindlichen Entwicklung beschreibt. Das Kind wird ruhig, träumt und phantasiert. Noch immer beschäftigt es sich mit Objekten. Piraten, mittelalterliche Ritter, seefahrende Wikinger und ausgestorbene Dino-saurier sind jetzt die neuen Helden, welchen Mut und Kraft zugeschrieben wird. Es sind menschliche Grenzen sprengende Phantasiegestalten mit magischen Fähig-keiten. Riesen, welche Berge versetzen und die Welt erobern. Das Kind entwickelt Phantasien die, unkontrolliert durch reales Erleben einen ersten Schritt hin zu Ideen bedeuten. Gedanken entwickeln sich im Umgang mit Objekten, die Erfahrungen schaffen und Gefühle auslösen. Ideen entwickeln sich im Rückzug in eine Zauberwelt, in welcher den Objekten phantastische Kräfte und Macht verliehen wird. Eine neue-, noch objektorientierte- aber phantasievolle Denkphase in der kindlichen Entwicklung entsteht, in welcher magische Ideen entwickelt werden.
Erst in der sich anschließenden Pubertät oder Adoleszenz geht dieses phantasievolle- oder magische Denken in eine Nachdenklichkeit über, in welcher die Gedanken durch reale Erfahrungen korrigiert werden. Der Adoleszent beschäftigt sich gedanklich, entwickelt Ideen und schließlich jene „kognitive Intelligenz“, die der Homo sapiens in unser menschliches Erbe einbrachte. Mit „kognitiver Intelligenz“ und gestützt auf Ideen erdenkt sich der Adoleszente oder junge Erwachsene seine Zukunft und strebt nach persönlichem- oder beruflichem Erfolg.
Alleiniges Streben aber kann müde machen und wird um die Lebensmitte einer nochmaligen Korrektur unterzogen: Die Lebensmitte ist eine Zeit der Selbsterkundung und neuerdings auch ein publizistisches Projekt. Man liest von psychischen Veränderungen um die Lebensmitte, welche als „midlife crisis“, als „Krise in der Mitte des Lebens“46 oder als eine „Bewältigung einer vorhersagbaren Krise“ in der „mittleren Lebensspanne“47 beschrieben werden. Offenbar hat eine inzwischen auch statistisch erfasste Unzufriedenheit der Lebensmitte eine Ursache in unserem kognitiven Streben. Die Krise der Lebens-mitte ist vorhersagbar, wie Gail Sheehy betont, weil eine kognitive Dominanz die Adoleszenz und die frühen Erwachsenen-jahre bestimmt. Wir Menschen realisieren, dass uns sinnliche Erfahrungen abhanden gekommen sind und suchen um die Lebensmitte nach einem Kompromiss zwischen Gefühl und Geist.
„Zwei Seelen“ müssen zusammen finden.
Hat der Mensch nach Kindheit und Adoleszenz seine Entwicklung abgeschlossen und für sich um die Lebens-mitte einen Kompromiss gefunden, so entsteht jener Mensch, den die literarische Welt schon lange kennt. Die Doppelnatur, die wir Menschen in uns spüren, ist lange schon ein Projekt der Literatur: Im ältesten Epos der Welt, dem Gilgamesch-Epos48, 49, wird der Naturmensch Enkidu ---„Frisst mit Gazellen Gras“ (I,110), „mit wilden Tieren labt er sich am Wasser“ (I,113), auf den Bergen wandelt er den ganzen Tag umher“ (I,153)--- dem Geistmenschen Gilgamesch --- „der allumfassende Weisheit besaß in allen Dingen“ (I,6), „die Mauer von Uruk erbaute“ (I,11) oder „die Ufer der Welt erforschte“ (I,41) ---- gegenüber gestellt. Sie werden schließlich „Brüder“. 1605 veröffentlicht Cervantes seine große Erzählung über „Leben und Taten des scharfsinnigen edlen Don Quixote von la Mancha“. Karikaturhaft überzeichnet stellt er seinen „idealistischen Ritter von der traurigen Gestalt“, der zeitbedingte Realität nicht akzeptieren will, den bodenständigen-, geschickten- und realitätssinnigen Sancho Pansa gegenüber50. Sein südamerikanischer Bewunderer Carlos Fuentes51 schreibt über die Erzählung des großen Cervantes: „Wir alle sind sowohl wirklich als auch erfunden..., sind aus Sehnsucht und Phantasie, wie auch aus Blut und Knochen gemacht“. 1957 konfrontiert Hermann Hesse den sinnlichen Genüssen entsagenden und nach Ruhm strebenden Geistmenschen „Narziss“ mit dem liebenden Träumer, Sinnen- und Gefühlsmenschen „Goldmund“52. Auf unterschiedlichen Wegen erreichen sie schließlich beide Genugtuung und Zufriedenheit. Und auch Goethes Faust ruft:
„Zwei Seelen wohnen ach! In meiner Brust.
Die eine will sich von der anderen trennen:
Die eine hält, in derber Liebeslust,
Sich an die Welt mit klammernden Organen;
Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
Zu den Gefilden hoher Ahnen“.
Psychologen und Philosophen haben erst spät erkannt, was die schreibenden Künstler schon wussten: Sie brauchten lange, die „emotionale Intelligenz“25 neben „kognitiver Intelligenz“ als wichtiges- oder zweites mentales Erbe zu akzeptieren. Sigmund Freud erst hat das Bewusstsein dafür geschaffen53. Er beschreibt nicht nur, wie Unbewusstes unser Leben beeinflusst. Er erkennt auch die Wichtigkeit der Gefühle. Die Soziologin Eva Illouz sieht in der Entdeckung der Gefühle durch die europäische Moderne gar eine „Errettung der modernen Seele“54. Gefühle waren immer vorhanden und haben als „emotionale Intelligenz“ das Leben und das Überleben des Menschen und auch die Kulturentwicklung des modernen Menschen mitgestaltet. Im abendländischen Kulturkreis aber hat Kognition über viele Jahrhunderte die Emotion dominiert. Ihre Bedeutung für menschliches Verhalten musste erst wieder neu entdeckt werden.
In „Thinking fast and slow“ oder in deutscher Übersetzung „Schnelles Denken, Langsames Denken“55 stellt sich der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman die Frage: Wie trifft ein Mensch seine Entscheidungen und wer oder was entscheidet unser Handeln? Das Fazit des Autors lautet: Menschliche Entscheidungen werden häufiger intuitiv, auch irrational getroffen, entspringen häufiger einem emotional ausgerichteten Bauchgefühl und weniger häufig einem rationalen Kalkül. Kahneman unterscheidet ein schnelles und langsames Denken oder ein „System 1“ und ein „System 2“. Das „schnelle Denken oder System 1“ „Lässt uns die Welt geordneter, einfacher, vorhersagbarer und kohärenter sehen, als sie es tatsächlich ist“. Schnelles Denken „zieht aus dürftigen Informationen weit-reichende Schlussfolgerungen“, arbeitet automatisch, an Gefühlen sich orientierend, ohne wesentliche Steuerung. Es ist in uns angelegt und äußert sich ohne persönliches Zutun. Dieses „schnelle Denken“, so der Bezug zur mentalen Evolution des Menschen, benutzt Phänomene, die früh schon das Überleben der Hominiden sichern mussten. Sie kannten nur zwei Gruppen von Gefühlen, die Sympathie oder Antipathie, Vertrauen oder Misstrauen, Zugehörigkeit oder Ausgrenzung, Liebe oder Hass bedeuten und schnelle Entscheidungen erzwingen mussten. „Schnelles Denken“ wird von Gefühlen ausgelöst, die entweder positive Zuwendung oder Ablehnung bedeuten. Das „langsame Denken“ oder „System 2“ aber „lenkt die Aufmerksamkeit“, konzentriert sich darauf „etwas zu raten, was nicht spontan geschieht“, gibt uns Menschen „Entscheidungs-macht und Freiheit“. System 2 ist langsam, ruft Erinnerungen ab und bringt sie mit Erfahrung und Wissen in Verbindung. Es handelt überlegt und rational.
In eindrucksvoller Ausführlichkeit analysiert Kahneman wie beide Systeme sich beeinflussen, wie der Mensch auf Angst machende- oder freudvolle Überraschungen reagiert, wie „Verzerrungen“ des abwägenden Systems 2 durch spontane Aktionen von System 1 entstehen, wie „Ähnlichkeiten“ zu vorschnellen Schlüssen führen, wie „Glück“ zu „kognitiver Leichtigkeit“ verführt, wie der „priming effect“ aktueller Erlebnisse das abwägende Denken blockiert, obwohl der Zugriff auf weitere Informationen für rationale Entscheidungen wichtig wäre. Nach seiner umfangreichen psychologischen Analyse von menschlichen Entscheidungen lautet das Fazit des Autors: „Der größte Teil dessen was System 2 denkt und tut, geht aus System 1 hervor, aber System 2 übernimmt, sobald es schwierig wird und es hat normalerweise das letzte Wort“. Kahnemans Entscheidung ist eindeutig: Er fordert die rationale Kontrolle des schnellen Denksystems 1 durch das langsamere Denksystem 2. Er fordert die kognitive Überwachung für emotionales Agieren.
Eine ähnliche Analyse finde ich im Buch des amerikanischen Sozialphilosophen J.R. Searle mit dem Titel: „Wie wir die soziale Welt machen“56. Searle unterscheidet wiederum zwei Formen von „Intentionalität“, mit welchen wir „die soziale Welt machen“. Was immer wir fühlen, denken, erinnern, tun oder wünschen und hoffen ist auf Gegenstände, auf Sachverhalte, auf Ereignisse, aber auch auf Hoffnungen und Wünsche ausgerichtet. „Intentionalität ist unerlässlich, um das menschliche Verhalten, das gesellschaftliche Verhalten und die soziale Realität zu verstehen“. Die „Passrichtung“ von Intentionalität aber ist gegensinnig: Was wir wahrnehmen oder erinnern, wovon wir überzeugt sind, orientiert sich an Sachverhalten oder Gegenständen. Der entstehende „Geist oder der Gedanke richtet sich nach der Welt“, in welcher wir leben. Die „Passrichtung ist Geist nach Welt“. Ein sich an der realen Welt orientierender Gedanke oder eine Intention kann „wahr oder falsch“ sein, weil wir uns an Gegebenem orientieren. Wenn meine Intentionen aber zum Inhalt haben, wie ich die Welt gerne hätte, was ich beabsichtige oder plane, erhoffe und wünsche, wird die Situation eine andere sein: „ich“ allein beabsichtige oder „ich“ wünsche etwas. Wenn wir uns aus der realen Welt entfernen, in eine subjektive gedankliche Welt flüchten und versuchen diese nach unseren Wünschen oder Glaubensinhalten auszu-richten, so wird die „Passrichtung“ jetzt zu „Welt nach Geist“.. Wir wollen verändern und sind auch kreativ, doch „wahr und falsch“ sind jetzt keine allseits akzeptierten Kriterien der Unterscheidung mehr. Jetzt wird subjektiv entschieden: „Welt nach Geist Intentionen“ entspringen subjektiven Vorstellungen und sind nicht beweisbar.
Betont Kahneman die rationale Kontrolle des schnellen- und von Gefühlen gelenkten Denkens durch das langsame Denken, so lenkt Searle unseren Blick auf eine andere Möglichkeit der Täuschung. „Welt nach Geist-Intentionen“ sind für Searle immer subjektive Konstrukte. Sie sind nicht beweisbar. Um als „wahr oder falsch“ erkannt oder akzeptiert zu werden brauchen subjektive „Welt nach Geist“-Intentionen die Kontrolle durch die reale Welt. „Geist nach Welt-Intentionen“ müssen weltfremde „Welt nach Geist- Intentionen“ oder „verrückte“ Gedanken korrigieren, so diese Akzeptanz finden sollen. Auch rationale Gedanken des langsamen Denksystems nach Kahneman können sehr „abstrakt“ oder gar „verrückt“ sein. Sie benötigen die Korrektur durch reale Erfahrungen.
Kahnemans Erfahrungen mit seinen Denksystemen 1 und 2 und Searles Erfahrungen mit Intentionalität münden beide in einen Kompromiss ihrer Systeme. Unterschiedlich gewichtet empfehlen beide Autoren die gegenseitige Kontrolle ihrer mentalen Systeme: Bei Kahneman muss Rationalität das von Gefühlen gelenkte Denken oder Handeln kontrollieren. Bei Searle brauchen subjektive- oder weltferne Konstrukte die Kontrolle durch Erfahrung und Gefühle. Offenbar ist der Mensch gut beraten, wenn er auf emotionale und kognitive Intelligenz baut und beide sich gegenseitig korrigieren.
Introspektion oder Extrospektion?
Eine dritte Antwort für den Umgang des Menschen mit Denken und Intentionalität kann auch bedeuten, dass ein früher aufgekommenes mentales Erbe vom später hinzu gekommenen Erbe nicht nur korrigiert sondern beherrscht wird. Das später entwickelte kognitive Erbe wird dominant und macht aus Gefühlen Phänomene, die verdrängt, gemieden oder vernachlässigt werden.
Schließlich hat das divergent ausgerichtete mentale Erbe für den Menschen eine weitere Entscheidungsebene geschaffen. Für den Hominiden oder Steinzeitmenschen stand fest: Ich gehöre zu meiner Gruppe und mache, was der Gruppe dient. Mit der schöpferischen Intelligenz als Sapiens-Erbe sieht sich der Mensch mit einer neuen Frage konfrontiert: Soll ich meine kognitive- oder rationale Intelligenz „introspektiv“ einsetzen? Soll sie mich als Mensch in meinem Umfeld stärken, indem ich etwa das Gefühl von Fremdheit oder Bedrohung einer rationalen Kontrolle unterziehe und abbaue? Oder soll ich „extro-spektiv“ das Umfeld verändern, indem ich gegen Bedrohungen Mauern aufrichte, die mir hinter der Mauer ein akzeptables Leben ermöglichen? Der Mensch muss sich zwischen Introspektion und Extrospektion entscheiden. Mit „Introspektion“ verändert sich der Mensch und passt sich an. Mit „Extrospektion“ verändert der Mensch sein Umfeld und schafft sich eine ihm genehme Welt. Wer wie die Hominiden sein Umfeld als Heimat erfährt, mit der, in der und von der er lebt, wird seine Entscheidung auf Gefahrenerkennung und Gefahrenvermeidung ausrichten. Was immer er entscheidet ist an ihn selbst gerichtet und verändert die Person. Wer sich, wie der Sapiens-Mensch in eine gedankliche Innenwelt zurückzieht entfernt sich aus der realen Welt und macht sie zum gedanklichen Objekt seiner Spekulation. Er verändert, schafft um sich Kultur und ein auf ihn zugeschnittenes Umfeld. In der bio-logischen Evolution passt sich ein evolutionärer Akteur seinem Umfeld an, so er überleben will. Mit dem kognitiven Sapiens-Erbe aber hat sich diese Selbst-verständlichkeit verändert. Auch der moderne Mensch kann sich zwar noch für „Introspektion“ und Selbst-anpassung entscheiden, ein Gewissen formen und sein in der Welt Sein stärken. Er kann aber auch durch „Extro-spektion“ das Umfeld verändern, sich die Welt gefügig gestalten und das Umfeld menschlichen Wünschen und Vorstellungen anpassen.
Dialektik als Stimulans und Entfremdung als Warnung.
Wie entsteht aus dem Zusammenwirken eines doppelten mentalen Erbes die menschliche Kultur? Sprache als erweiterte Form von Kommunikation und schließlich die Schrift sind vom neuen Menschen entwickelte Werkzeuge und machen Kultur möglich. Sprache und Schrift allein aber können die Entwicklung von Kultur oder den kulturellen Fortschritt noch nicht erklären. Sie sind die Mittel, mit welchen Kultur kommuniziert wird. Wer weiter kommen will braucht einen Wandel der Gedanken, braucht ein Stimulans, welches das Denken auslöst, bewegt und weiterbringt. Dieser Stimulans ist das geistige Prinzip der Dialektik.
Tatsächlich ist Dialektik eine Erfindung der biologischen Evolution. Dialektik ist ein „Bewegungsgesetz des Lebens“. Evolution ist ein dialektisches Spiel aus einer Reproduktion des Gleichen und aus Distanzierung oder Veränderung. Die Einpassung in ein gegebenes Umfeld ist dann der Kompromiss als Resultat dieses dialektischen Spiels. Nur der Kompromiss wird in der Evolution überleben. Dialektik ist zwar ein Gesetz der Evolution, doch taucht sie in der Kultur als rationale Dialektik wieder auf. Wenn Dialektik eine dem Denken implizite Eigenschaft ist oder wenn der „Widerspruchsgeist jedem Menschen innewohnt“, wie Hegel sich ausdrückt, so muss ein evolutionäres Erbe auch die rationale Dialektik erklären. Tatsächlich ist das Zusammenspiel zweier Seelen des Menschen die Ursache einer rationalen- oder besser mentalen Dialektik: Gefühle und Stimmungen sind ein frühes Erbe des Menschen und nehmen Einfluss auf das spätere Erbe des menschlichen Denkens. Wird ein Mensch gestört oder gar bedroht, so wird seine Grundstimmung düster, grau und pessimistisch und äußert sich in Gefühlen wie Angst, Scham oder Hilflosigkeit. Werden wir von wohltuenden oder Freude spendenden Erfahrungen überrascht, so entstehen Heiterkeit und Optimismus mit Gefühlen wie Zufriedenheit, Glück und Hoffnung. Diese Gefühle beeinflussen das menschliche Denken. Wer im Zustand des Glücks eine These äußert wird sehr schnell von einem weniger glücklichen Gesprächspartner eine Gegenthese zu hören bekommen. Auf diese Weise entstehen im Gespräch Thesen und Gegenthesen. Auch Individuen unterliegen Stimmungsschwankungen, die auf unser Denken Einfluss gewinnen. Die Dialektik als implizite Eigenschaft des Denkens bekommt so eine neuro-physiologische Begründung: Gedankliche Thesen hängen von unseren Stimmungen ab, entwickeln ein Denken in Alternativen und entwickeln so Kultur. Diese biologische Erklärung allein macht Dialektik, auch die rationale Dialektik des Denkens, zu einem alle menschlichen Kulturen übergreifenden Phänomen.
Dialektik ist eine Erfindung der biologischen Evolution und macht aus dem Zusammenspiel von emotionaler- und kognitiver Intelligenz eine mentale Dialektik menschlichen Verhaltens. Kommt dieses Zusammenspiel unseres doppelten mentalen Erbes nicht zustande, weil Kognition allein in Form von Ideologien oder religiösen Forderungen das Leben des Menschen gestalten will, entsteht Entfremdung. Entfremdung ist das Warnsignal, wenn der Mensch eines seiner beiden mentalen Erben vernach-lässigt. Entfremdung ist ein von Religion, Philosophie und Soziologie usurpierter Begriff, vor allem aber ist Entfremdung ein Produkt des doppelten mentalen Erbes des Menschen. Entfremdung ist „ein individueller oder ein gesellschaftlicher Zustand, indem eine ursprünglich natürliche Beziehung...aufgehoben, verkehrt, gestört oder zerstört wird“57. Seit Jahrtausenden verwendet umschreibt „Entfremdung“ einen wahrgenommenen Verlust von Heimat, Heimat als Ort von psychologischen Beziehungen zu etwas und zu jemand. Wohnung, Intimität, Zugehörig-keit, aber auch Autonomie, sind grundsätzliche Bedürfnisse des Menschen und in der mentalen Evolution des Menschen entstanden. Sie müssen erfüllt werden, wenn Entfremdung vermieden werden soll.
Wer sich als „entfremdet“ erfährt muss eine Vorstellung oder ein Gefühl von seiner wahren Natur haben, sagt der Existenz-philosoph Heidegger in „Sein und Zeit“58: Der Mensch realisiert, wovon er sich entfernt. Für Heidegger ist die „Seinsvergessenheit“ von Religion oder idealistischer Philosophie die Ursache für „Entfremdung“. Beide machten aus dem „Existential“ des Seins das „Existential“ Geist und Spiritualität. Der menschliche Anfang wurde vergessen. Für den französischen Soziologen Durkheim59 ist der „Verlust von gesellschaft-licher und religiöser Tradition“ eine Entfremdungsursache. Horkheimer und Adorno60sehen in einer gesellschaftlichen Verstrickung des Menschen mit Verlust an Autonomie, mit weniger Offenheit und einer Verleugnung eigener Gefühle und Bedürfnisse die Ursache für Entfremdung. Schließlich beschreibt Hartmut Rosa in unseren Tagen Entfremdung als ein „Negativ des guten Lebens“61 und erklärt, was für ihn ein „gutes Leben“ ist. Für Rosa ist die moderne „Beschleunigung“ die Ursache von Entfremdung des Menschen. Eine Rückkehr in ein „gutes Leben“ muss „Entschleunigung“ bedeuten.
Diese Analyse von Entfremdungstheorien in Religion, in Philosophie und in Soziologie macht „Entfremdung“ zu einem Phänomen von Gesellschaften. Der entscheidende Akteur einer Gesellschaft aber ist das Individuum. „Entfremdung“ erfährt das Individuum über seine Bedürfnisse und Gefühle. Es fühlt sich irritiert und unsicher, entwickelt Ängste oder sieht sich ausge-schlossen, wenn wichtige Bedürfnisse nicht mehr zufrieden gestellt werden. Das gesellschaftliche Zusammenleben hängt von der Befriedigung von Bedürfnissen und Gefühlen ab, die in Individuen entstehen. In allen Theorien wird Entfremdung als ein Verlust von bisher Gewohntem, von über lange Zeit Erfahrenem erklärt. In einer sich entfremdenden Gesellschaft bewegen sich die Menschen von etwas weg, das ursprünglich mit „natürlicher Beziehung“, mit „Heimat“ oder einem „guten Leben“ umschrieben wird. Dieses Bedürfnis nach Beziehung und Heimat ist im genetischen Erbe des Menschen früh angelegt worden. Der Mensch will zugehören und auch autonom entscheiden können. Eine Kultur, welche dieses Erbe vernachlässigt, wird irritieren und Entfremdung aufkommen lassen. Was immer von Soziologie oder Philosophie als Inhalt eines erstrebten oder „guten Lebens“ genannt wird, ist offenbar eine vergangene-, eine verloren gegangene Realität. Religion und Idealismus haben uns vergessen lassen, dass Spiritualität und Denkfähigkeit späte Erwerbungen des Menschen sind und dass ihnen ein langes Sein des Handelns, der Teilhabe und des Fühlens vorausgeht. Kontemplation und Gefühle bedürfen einer Ent-schleunigung des Lebens, wenn daraus ein „gutes Leben“ werden soll. Eine störende Beschleunigung erlebten die Menschen offenbar schon zur Zeit der „zivilisatorischen Wende“ vor 10 000 Jahren. Sie reagierten darauf mit gedanklichen Entwürfen in China, in Indien und im Vorderen Orient durch welche sie aufgetretenen Entfremdungen entkommen und ein „gutes Leben“ erreichen wollten.
Der Januskopf mentaler Erwerbungen.
Aus jedem positiven Erbe kann durch Entwicklung ein weniger positives- oder gar Schaden bringendes Verhalten werden. Nicht selten entwickeln erworbene Funktionen eine Janusköpfigkeit: Aus früherem Nutzen wird später ein Schaden. Dies gilt auch für das frühe, von Hominiden stammende mentale Erbe des Menschen. Die Hominiden profitieren vom Zusammenhalt in der Gruppe und entwickeln dafür ihre Gefühle. Positive Gefühle festigen den Zusammenhalt in der Gruppe. Fremd und bedrohlich aber wird ihnen eine Gruppe, die das gleiche Gebiet zum Jagen und Sammeln beansprucht. Diese negativen Gefühle gegenüber einem Konkurrenten im Wettbewerb fördern zwar noch einmal den Zusammenhalt der eigenen Gruppe. Doch werden sie gegen eine fremde Gruppe instrument-alisierbar. Dieses frühe mentale Erbe der Hominiden steckt noch immer in unseren Genen. Fremdes und Ungewohntes macht uns unsicher und oft sogar ängstlich. Die Angst vor Fremdem hat früher die Hominiden-gruppen oder die Clans der Steinzeitmenschen stabilisiert und ist noch immer in unserem Erbe enthalten. Bis heute anhaltend wird diese Angst religiös, ideologisch oder politisch instrumentalisiert. Heutige Fremdenfeindlichkeit ist die bitterste Hinterlassenschaft in unserem frühen von den Steinzeitmenschen stammenden Erbe. Ein intro-spektiver Gebrauch von Rationalität sollte diese Angst vor Fremdem überwinden. Es ist uns bis heute nicht gelungen.
Eine Doppelgesichtigkeit entwickelt auch unser zweites, vom Homo sapiens stammendes Erbe. Positiv ist dieses Erbe: Es schenkt uns eine Denkfähigkeit, die Planung ermöglicht, Fortschritt schafft und Grenzen überwindet. Eine neue Entdeckerfreude erschließt uns Menschen die Erde in kürzester Zeit. Gebirge und Klimazonen werden überwunden. Wenn Hitze oder Kälte die Überwindung von Landstrichen blockieren werden sie durch handwerkliche Neuschöpfungen überwindbar gemacht. Wenn Nahrungs-mittel knapp werden wird man zum Bauer oder zum Tierzüchter. Die Sprache übernimmt die Kommunikation und die Schrift vermittelt Kultur. Aus einem früheren Stillstand des ewig Gleichen wird Fortschritt, durch den der Mensch sich sein Umfeld zu einer persönlichen Heimstätte macht. Schneller, weiter und höher machen aus der Zielfixierung einen Selbstläufer. „Permanente Beschleunigung“ ist uns heute zum Problem geworden und demonstriert die Doppelgesichtigkeit jeder neuen genetischen Funktion. Wo der menschliche Verstand eingesetzt wird werden Umfeld und Heimat verändert. Erfinder und Nutzer entwickeln Produkte, die uns nicht selten überfordern. Aus Teilhabenden werden schließlich Getriebene. „Beschleunigung führt in ihrer gegenwärtigen „totalitären“ Form zu schwerwiegenden und beobachtbaren Formen der sozialen Entfremdung“, hat uns aus einem „guten Leben“ vertrieben und frühere Eigenschaften wie Zufriedenheit oder eine Mäßigung von Bedürfnissen sind uns verloren gegangen. Unsere Vor-fahren oder Hominiden jagten, sammelten, teilten und feierten am Lagerfeuer. Sie lebten von dem was das Umfeld ihnen bot. Diese Selbst-bescheidung gelingt uns nicht mehr und wird das gesellschaftliche Leben weiterhin „beschleunigen“, uns aber auch dem Leben entfremden.
Offene Fragen.
Ein doppeltes mentales Erbe ist die Basis für menschliches Verhalten. Ein doppeltes Erbe gibt dem Menschen die Freiheit, beide gegeneinander abzugrenzen, sie zu bewerten und sie in philosophischen- oder religiösen Entwürfen unterschiedlich zu gewichten. Emotionale- und kognitive Intelligenz sollen sich ergänzen, können aber auch gegeneinander ausgespielt werden. Die Individual-entwicklung des modernen Menschen ist bereits ein Kompromiss aus einer früh entstehenden emotionalen Intelligenz und einer später aufkommenden kognitiven Intelligenz und führt zu Entwicklungsstufen mit sehr unterschiedlicher Bedeutung von Emotion oder Kognition. Diese modernen Menschen werden nach dem Ver-schwinden des Neandertalmenschen zur alleinigen menschlichen Spezies auf der Erde. Sie werden mit ihrem Verhalten die menschliche Geschichte bestimmen. Fragen kommen auf:
1 Welchen Einfluss haben Emotion und Kognition auf die menschliche Geschichte? Ist menschliche Geschichte eine Kulturgeschichte, die sich v.a. an der schöpferischen Fähigkeit des menschlichen Geistes orientiert oder ist menschliche Geschichte eine Mentalgeschichte, die sich am menschlichen Verhalten orientiert?
2 Welches mentale Erbe des Menschen wird in frühen magischen Kosmogonien oder in frühhistorischen philosophischen- oder religiösen Entwürfen der von Jaspers angesprochenen „Achsenzeit“ diskutiert? Wie werden emotionale- und kognitive Intelligenz bewertet?
3 Wird schon in den frühesten geistigen Entwürfen der Menschheit ein Konflikt zwischen introspektiver Selbstverpflichtung des Menschen und einer extrospektiv ausgerichteten Weltveränderung gesehen?
4 Wie wird in der später aufkommenden monotheistischen christlichen Religion das doppelte genetische Erbe des Menschen gesehen?
Auf diese Fragen suche ich in den philosophischen- oder religiösen Entwürfen der Menschheit nach Antwort und möchte erfahren, welche Auswirkungen unser evolutionäres mentales Erbe auf die weitere Geschichte hatten. Eine kleine Mentalgeschichte des menschlichen Verhaltens zu erzählen ist das Ziel.