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ОглавлениеKAPITEL 2
VOM GEDANKEN ZUR IDEE
oder
VON DER „ZIVILISATORISCHEN WENDE“ ZU
KOSMOGONIE ODER THEOGONIE?
Wie „magisches Denken“ eine erste
Ideengeschichte beschreibt
„Wie wir wurden was wir sind“ ist ein uraltes Problem des Menschen. Der Mensch will wissen, wie er zu jener Person wurde, die er zum Zeitpunkt seines Fragens in sich erkennt. Er denkt darüber nach wie gesellschaftliche Gruppierungen, wie Kulturen oder Nationen entstehen und spekuliert seit Beginn der Geschichte bis heute über die Entstehung der Welt. Wo immer Neues aufkommt wird der Anfang bedacht, dann erzählt, schließlich analysiert und aufgeschrieben. Die Faszination des Anfangs bleibt.
1. „Zivilisatorische Wende“.
Nach mehreren Millionen Jahren einer mentalen Evolution und Bereitstellung eines doppelten Erbes aus emotionaler und kognitiver Intelligenz beginnt die Geschichte des Homo sapiens vor etwa 100 000 Jahren mit einer „zivilisatorische Wende“. Sie ist Konsequenz einer ersten handwerklich ausgerichteten Intelligenz des Menschen, indem der Mensch im Umgang mit Objekten Gedanken entwickelt und sein Umfeld nicht mehr nur akzeptiert sondern verändert und manipuliert. Die zivilisatorische Wende demonstriert in der menschlichen Geschichte jenes Verhalten des Menschen, das in der Individualentwicklung unsere frühen Kindheitsjahre bestimmt und neben Gefühlen auch einen ersten gedanklichen Umgang mit Objekten offenbart.
Mit Geistesblitzen unbekannter Künstler entstehen in den letzten 50 000 Jahren vor der Zeitenwende erste Kunstwerke, die uns als Höhlenmalereien in Erstaunen versetzen. Abstrakte Bilder entstehen, die einige Jahrtausende später mit Lauten in Verbindung gebracht werden und eine Buchstabenschrift entstehen lassen. Beobachtungsgabe, gepaart mit besonderer Aufmerksam-keit, machen aus Sammlern Landwirte, die Hirse oder Hafer anbauen, und aus einem Mitleid empfindenden Jäger den Besitzer einer ersten Ziege und den Begründer von Tierhaltung oder Viehzucht. Die neue Neugier einiger Weniger überwindet die Angst vor Fremdheit und erschließt sich in nur 50 000 Jahren die Erde.
Künstlerische Geistesblitze, Aufmerksamkeit, Neugier, die Fähigkeit neue Zusammenhänge zu erkennen, schließlich auch die Kunst zu abstrahieren sind Voraussetzungen einer neuen-, einer gedanklichen schöpferischen Intelligenz des Homo sapiens. Die Gedanken sprudeln, wenn Objekte benutzt und Hilfe bedeuten. Diese neue- und am Umfeld und an Sachen sich orientierende Intelligenz wird allerdings auch erkennen, wie sehr die Domestikation von Tieren und Pflanzen das Leben der Jäger und Sammler verändert: Aus Jägern und Sammlern werden sesshafte Bauern oder Tierhalter. Aus freiem Umgang mit Natur und Umfeld entsteht ein Besitz von Ackerland oder Vieh-weiden, der bewacht werden muss. Besitzende und Besitzlose, Befehlende und Gehorchende, Bestimmende und Abhängige entstehen. Neid und Gewalt stellen sich ein. An Stelle der Vielfalt des Gesammelten und Gejagten wird der Haferbrei zur täglichen Kost. Neue Krankheiten tauchen auf: der regelmäßige und enge Kontakt mit Tieren und eine ungesunde Ernährung machen die Menschen anfällig. Die Lebenserwartung der Menschen sinkt mit der zivilisatorischen Wende. Der vielgelobte und vielbeachtete Fortschritt der „zivilisatorischen Wende“ hat das Leben der Menschen verändert. Veränderung und Wandel machen nachdenklich. Diese neue Nachdenklichkeit wird schließlich zu gedanklichen Entwürfen, für die der Philosoph Karl Jaspers den Begriff der „Achsenzeit“ prägt36. Diese „Achsenzeit“ bedeutet nach der eher technologisch ausgerichteten „zivilisatorischen Wende“ einen ersten mentalen Wendepunkt in der frühen menschlichen Geschichte und wird deren Fortgang prägen.
2. Magie und Mythos erklären die Entstehung der Welt.
Nach der handwerklichen Phase im Umgang mit Objekten beginnt in der menschlichen Individualentwicklung als nächster Entwicklungsschritt ein Rückzug ins Denken mit der Produktion von Ideen. Ideen unterscheiden sich von Gedanken durch ihren oft fehlenden Bezug: Gedanken entstehen im Umgang mit Sachen und Personen. Ideen sind das Produkt eines Rückzugs des Menschen aus der Welt in eine Innerlichkeit und eine Nachdenklichkeit. Phantasien werden produziert, die nicht selten den Bezug zur Welt vermissen lassen. Sie offenbaren erste „Welt nach Geist-Intentionen“. Der Mensch entwickelt Phantasie. Stand bisher das handwerkliche Operieren im Vorder-grund, so werden den Objekten jetzt phantastische- oder magisch anmutende Kräfte zugeschrieben. In Analogie zur Phantasie spielender Kinder entstehen in der frühen menschlichen Geschichte zwischen ca. 10 000 bis 5000 Jahren v. Chr. erstmals magisch anmutende Kosmogonien und Theogonien. Sie sind ein evolutives Produkt der Integration von emotionaler- und kognitiver Intelligenz des Sapiens-Menschen, markieren aber auch das erstmalige Aufkommen von Ideen, die mehr sind als im Umgang mit Sachen und Dingen entstandene Gedanken. Die Entwicklung von Ideen beginnt als Phantasie und ermöglicht Abstraktion: Schließlich verbindet ein unbekanntes Genie die Laute seiner Sprache mit Bildern der Keilschrift zusammen und macht sie zu Buchstaben. Die Buchstabenschrift entsteht und gibt den Menschen die Möglichkeit, eine unendliche Zahl von Worten und Schriften zu schaffen.
Entstehungsmythen oder Kosmogonien und Theogonien sind Erzählungen, die von Mensch zu Mensch, von Generation zu Generation weiter gegeben werden. Wer erzählt schmückt seine Darstellung mit persönlichen- und oft auch phantastisch anmutenden Motiven. Diese jedem Erzählen innewohnende Tendenz macht aus Erzähltem eine Mischung aus Fiktion und Gehörtem. Aus diesem Gemisch entstehen Mythen und muss jener Hintergrund erschlossen werden, der sich in Sagen und Legenden verbirgt und ein Stück Wahrheit enthält. Mythischen Wahrheiten nach zu spüren ist dann die Aufgabe des Historikers. Er vergleicht sie, erkennt deren Psychologie und den Zeitgeist, der sie leitet. Wer menschliche Entwicklung verstehen will muss in Mythen die Psychologie erkennen, die sie bedeutsam macht. Nicht alle mythologischen Aussagen sind für uns heutige Menschen begreifbar, die wir durch historische- oder biologisch-physikalische Forschung wissend wurden. Der psycho-logisch geschulte Historiker aber muss in den frühen Erzählungen erkennen, welche Bedeutung sie für die Menschen der Frühgeschichte hatten. Nur so wird aus Mythos und Magie eine historische Wahrheit. Aus Mythen lernen wir „verstehen, wie unsere frühhistorischen Vorfahren dachten“ schreibt Sedlacek62.
Dies gilt in besonderer Weise für die aus vor- oder früh-
geschichtlicher Zeit stammenden Entstehungsmythen oder in frühen Epen formulierten Vorstellungen zum Werden der Welt und des Menschen. Sie schaffen eine erste „kollektive Erinnerung“ der Menschheit. In vor- und frühgeschichtlicher Zeit wird nicht Erklärbares mit „Göttern“ personalisiert. Götter symbolisieren alle für die damalige Zeit geheimnisvollen und nicht erklärbaren Kräfte der Natur und des Menschen. Im Handeln der Götter offenbaren sich Ideen welche den bisherigen gedanklichen Umgang mit Objekten ergänzen. Das erste Denken übt sich in Phantasie, die bisherige Erfahrungen ergänzen. Götter werden zu Machern und Gestaltern. Zwei Formen von Mythen entstehen, in welchen der Mensch über den Ursprung der Welt und die Stellung des Menschen in der Welt spekuliert: In „Kosmogonien“ wird versucht, die Weltentwicklung zu beschreiben. In „Theogonien“ wird Gott zum Weltenschöpfer. Beide entspringen einem magischen Denken, das den Übergang von emotionaler- zu kognitiver Intelligenz begleitet und in der Individualentwicklung des Menschen jene „Latenz-phase“ des kindlichen Träumens und Phantasierens bestimmt. In der Individualentwicklung des Menschen und auch in der Menschheitsgeschichte beginnt Nachdenklich-keit mit magischen Ideen. „Zuerst erklärten Mythen und Religionen den Menschen die Welt, die im Grunde die gleichen Fragen stellten wie wir heute; inzwischen hat die Wissenschaft diese Rolle übernommen“, schreibt Thomas Sedlacek in „Die Ökonomie von Gut und Böse“62. Wissen wir heute mehr oder glauben wir nur mehr zu wissen? Ist für uns naturwissenschaftlich gebildete Menschen die Entstehung des Urknalls vor etwa 13,7 Milliarden Jahren besser vorstellbar als das Auftauchen des Gottes Atun aus einem formlosen Chaos für die frühen Ägypter? Ist der wissenschaftlich begründete „Urknall“ nicht auch ein Bild, vergleichbar jenen Bildern, mit welchen sich früh-historische Menschen das Entstehen der Welt erklärten?
Entstehungsmythen, eine Auswahl.
Aus dem frühhistorischen China sind zwei Erzählungen überliefert: Eine Erzählung schildert die Entstehung der Welt und eine zweite macht aus einem „Ungeschiedenen“ einen neuen Menschen mit Bewusstsein. Im „Pangu-Mythos“, aus dem 4. bis 2. Jahrtausend v. Chr. stammend, entspringt der Riese Pangu einem kosmischen Ei: Aus Pangus Kopf werden Sonne und Mond, aus seinem Blut werden Flüsse und Meere, seine Stimme erzeugt Donner und sein Atem wird zum Wind. Was im Mythos noch der Riese Pangu ist wird zu einer sichtbar und erfahrbar gewordenen Welt aus toten oder leblosen Objekten und einem entstehenden Leben. In allen Weltentstehungs-mythen steht der Mensch am Ende dieser Entwicklung. Dass auch der Mensch eine Entwicklung haben könnte, dass er erst werden musste was er ist wird in einem weiteren Mythos erzählt. Im „Hundun-Mythos“ aus China wird die Entwicklung der menschlichen Mentalität beschrieben: Hundun ist der „Ungeschiedene“, ein noch selbstvergessener Mensch. Ihm werden von zwei „Herrschern der Meere“, vom „Herrscher des Südmeeres“ und vom „Herrscher des Nordmeeres“ sieben Öffnungen gebohrt, welche das Sehen und Hören, das Essen und Atmen ermöglichen. Die geschenkten Sinne machen aus dem „Ungeschiedenen“ einen neuen Menschen, der wahrnehmen und erfahren und im Leben bestehen kann. Das Sein des „Ungeschiedenen“ ist beendet. Ein Mensch mit Sinnen und Verstand ist geboren. Im Hundun-Mythos symbolisieren die „Herrscher des Südmeeres“ und die „Herrscher des Nordmeeres“ zwei Kräfte welche dem „Ungeschiedenen“ Bewusstsein schaffen. „Südmeer“ und „Nordmeer“ sind jene polaren Gestaltungskräfte, die im ersten Jahrtausend v. Chr. in China diskutiert werden. Sie symbolisieren bereits in diesen frühen Entstehungs-mythen das chinatypische- polare Gestaltungsprinzip. Yin-Qi ist die Nordseite des Berges mit Schatten, Dunkelheit und Regen. Yang-Qi ist die Südseite des Berges mit Helligkeit, Licht und Sonne. Beide sind für Wachstum notwendig. Nur zusammen können sie entwickeln und gestalten.
Im Hundun-Mythos aus China wird aus einem „Ungeschiedenen“ ein mit Sinnen ausgestatteter Mensch. Im Gilgamesch-Epos48,49 aus Mesopotamien wird beschrieben wie aus einem „Urmenschen“ Enkidu und dem wissenden Gilgamesch ein moderner Mensch wird. Das Gilgamesch-Epos aus Mesopotamien stammt aus dem 3.bis 5. Jahrtausend vor Chr. und wird in altbabylonischer Sprache zum Ausgang des zweiten Jahrtausends v.Chr. auf Tontafeln geritzt. In diesem Epos ist „Enkidu“ ein „Ur-Mensch“ (I 185), der „das Leben noch nicht kennt“ und so beschrieben wird:
„In der Steppe erschuf sie (die Göttin Aruru) Enkidu den
Helden, den Sprössling der Stille (I104)“.
„Dicht behaart ist er am ganzen Leib“ (I 105),
„Frisst mit Gazellen Gras“ (I 110).
„Mit Herdentieren drängt er sich an der Wasserstelle“
(I112).
„Mit wilden Tieren labt er sich am Wasser“ (I 113).
„Im Lande ist er der Stärkste, Kräfte hat er“ (I124).
„Auf den Bergen wandert er den ganzen Tag umher“
(I 153).
„Er lässt die von Menschenhand gefangene Herde der
wilden Tiere der Steppe entkommen“ (I 132).
Dieser Enkidu trifft auf „Gilgamesch“ einen Menschen, der
„die Wege kannte, der, dem alles bewusst“ (I 2).
„Allumfassende Weisheit besaß er in allen Dingen“ (I 6),
„die Mauer von Uruk erbaute“ (I 11) und
„die Stadt, Gartenland, Aue und Tempel“ (I22-25).
„die Ufer der Welt erforschte, den fernen Uta-napischti
erreichte, Kultstätten errichtete und Riten festsetzte“
(I 41-44).
Enkidu und Gilgamesch treffen sich und werden Brüder, nachdem der Urmensch Enkidu „mit den Künsten des Weibes“ in einen Menschen verwandelt wird: „Wissend war (nun) sein Herz, doch (mit einem Male) besaß er Verstand und tief war seine Einsicht“. Im Miteinander von Enkidu und Gilgamesch wird im Epos eine Evolutions-geschichte beschrieben. Kein Psychologe könnte den Wandel vom frühen Hominiden zum Sapiens-Menschen oder auch vom Kind zum jungen Erwachsenen besser oder treffender schildern.
Vor dem Gilgamesch-Epos entsteht ebenfalls in Mesopotamien das Atramchasis-Epos63 und liefert die Vorlage für die Sintfluterzählung im Gilgamesch-Epos und im 1. Buch Mose des Alten Testamentes. Im Gilgamesch-Epos wird der Wandel vom „Urmenschen Enkidu“ zum nach Unsterblichkeit strebenden und mit „allumfassender Weisheit“ ausgestatteten Gilgamesch beschrieben. Im Atramchasis-Epos wird in der Götterversammlung über die Bedeutung und die Entstehung des Menschen entschieden. Weil unterschiedliche Heimsuchungen das Erstarken und die Vermehrung der Menschen nicht verhindern konnten, wird der Mensch durch eine List der Weisheitsgöttin Ea in ein sterbliches Wesen verwandelt: Das Epos beginnt in einer Ur- oder vormenschlichen-, nur von Göttern bevölkerten Welt mit der Zeile: „Zu der Zeit, da die Götter Menschen waren“. Es gliedert die Existenz des Menschen „in eine vorsintflutliche Zeit und in die immer noch andauernde Zeit nach der Flut“: In der „Vorzeit, als nur Götter die Erde bevölkerten“ und unsterblich waren lenkten die führenden Götter Annunaki das Weltgeschehen und werden von den arbeitenden- und Kanäle bauenden Göttern Igigu versorgt und ernährt. „Der Tragkorb der Götter war groß, denn gewaltig war die Arbeit und mannigfach die Mühsal“. Die Igigu revoltieren gegen diese Mühsal und stürmen den Palast des Götter-königs Enlil. Dieser sieht seine göttliche Ordnung gestört und will seine Macht an den Anführer des Götterstreikes übergeben. Eine Welt des Aufbegehrens wird befürchtet. Der „Gott der Weisheit“ Ea beschließt deshalb ein neues Wesen zu erschaffen, das die Götter entlasten soll. Er bittet die Muttergöttin Nintu den Menschen zu erschaffen. Zusammen mit Enki macht diese „aus Lehm“ das Wesen „Widimmu“ oder Mensch und begießt diesen mit dem Blut des Anführers der göttlichen Revolte. „Aus dem Fleisch des Gottes wurde (des Menschen) Geist“! Der Gott der Weisheit Ea verfügt: „Den Tragkorb der Götter soll schleppen der Mensch“ und die Muttergöttin Nintu beklagt: „Einen Tragkorb lud ich den Menschen auf. Aber das lärmende Geschrei habt ihr der Menschheit über-tragen“. Als die Menschen immer zahlreicher wurden und mit ihrem Geschrei die Götter störten –„Unerträglich ist mir das Geschrei des Menschen“- schickt ihnen der Götterkönig Enlil das „Frostfieber“. Weil die Menschen fortfahren ihn zu stören schickt er eine Trockenheit und schließlich eine Hungersnot. Weil auch dies allenfalls vorüber-gehend zu einem Umdenken des Menschen führt beschließt der Göttervater Enlil den Menschen endgültig durch eine „Sintflut“ zu vernichten. Allein der Gott der Weisheit Ea widersetzt sich. Er beauftragt Atramchasis eine rettende Arche zu bauen. Als nur Atramchasis die Sintflut überlebt erschrecken die Götter. Nun erst erkennen sie, dass ihnen die Menschen fehlen, sie zu versorgen. Ea sagt zu Enlil: „Statt dass du die Sintflut sandest, hätte der Löwe sich erheben sollen, um die Menschen klein zu halten“. Ea fordert: An Stelle einer vernichtenden Flut sollen die Menschen mit einem vorzeitigen Tod gestraft werden. „Der Tod wird so für alle Zukunft zu einem Garanten für die Stabilität der Gemein-schaft von Mensch und Göttern“. Das Epos endet: „Die Sintflut habe ich besungen, für alle Menschen, horchet hin!“
In Griechenland beschreibt Hesiods „Theogonie“64, etwa 700 vor Chr., die dortigen Vorstellungen zur Weltent-stehung. Er verbindet das Werden der Welt mit einer Genealogie von Göttern. Sie beginnt mit dem Urgott „Chaos“, aus welchem die Kinder Gaia, Tartaros, Eros, Erebos und Nyx hervorgehen und anfangen die Welt oder das Chaos zu strukturieren: Aus der Verbindung von Gaia und Eros entstehen „Uranos“ oder der Himmel, entstehen „Ourea“ oder die Berge und „Pontas“ oder das Meer. Die „Chaoskinder“ Nyx und Erebos gebären „Aither“ oder die Luft und „Hemera“ oder den Tag. Als die Mutter Gaia sich mit dem Sohn Uranos verbindet und dieser der Mutter die Kinder weg nimmt verbindet sich Gaia mit Kronos. Er entmannt den „Uranos“ oder den Himmel und wird zum Herrscher. Weitere Genealogien folgen, die dem Urvater „Chaos“ alle Ehre machen bis schließlich Zeus der Gott-vater in den Epen Homers auftaucht und den Weltenlauf und das menschliche Schicksal regelt. Homers Odyssee und Ilias sind etwa zur gleichen Zeit wie Hesiods Theogonie entstanden. Gottvater Zeus wird nun unter-stützt von „Apollo“ und „Helios“, die für Licht und Sonne sorgen, von „Poseidon“, dem Herrscher der Meere, von „Thanatos“, der die Unterwelt organisiert und von „Athene“, die Weisheit und Verstand verkörpert und Odysseus nach langer Irrfahrt in die Heimat zurück bringt. Hesiods Theogonie und die Götterwelt Homers beschreiben im Bild einer Genealogie von Göttern eine Kosmogonie: Himmel, Berge, Meer, Tag und Nacht etc. sind in vielen Schritten, von immer wieder neuen Göttern symbolisiert, entstanden. Hesiod nennt seine Schrift „Theogonie“, obwohl seine Götter die Welt nicht schaffen, sondern deren Entwicklung symbolisieren. Hesiods „Theogonie“ ist eine Kosmogonie. In ähnlicher Weise sieht dies etwas später auch Aristoteles (384-322 vor Chr.): Im Wissen seiner Zeit beschreibt er eine „Scala naturae“, die mit dem Menschen endet, doch wird die „Lebenskraft“ fortwirken und Entwicklung fortsetzen.
In den indischen Veden werden Weltentstehung und göttliches Schöpfertum miteinander verbunden. Maha-Visnu ist als früheste Instanz eine „Schattenenergie“. Mit ihr manifestiert sich die materielle Welt „ankhara“, bestehend aus fünf „mahabutos“ wie Raum, Luft, Feuer, Wasser und Erde. Aus ankhara wird „avytar“, eine Wesenhaftigkeit der materiellen Welt, wird „buddhi“ oder Intelligenz und wird schließlich „mana“ oder Geist. In der Weltentstehung der Veden steht am Anfang eine materielle Welt deren Herkunft eine unerklärbare „Schattenwelt“ ist. Aus der materiellen Welt wird Intelligenz, die allen Wesen eigen ist, und schließlich „mana“ der Geist.
Im manu-samhita der indischen Veden wird die o.g. Weltentstehung variiert und mit „Brahma“ einem Schöpfer ergänzt: Der im Reich der „Schattenenergie“ oder im „Ozean der Ursachen“ ruhende Maha Visnu ergießt seinen Samen in das ihn umgebende Umfeld. Aus dem Samen wird ein Ei, das mit materieller- und spiritueller Energie befruchtet wird. Aus diesem Ei entspringt „Brahma“, der selbst nicht weiß wer er ist oder wo er sich auf diesem Ozean der Ursachen befindet. „Brahma“ wendet sich an „Maha-Visnu, an das höchste Wesen im Reich der Schattenenergie welches er im Inneren seines Herzens erkennen konnte und für ihn die Welt sichtbar machte. So schafft „Brahma“ in „einhundert herrlichen Jahren“ der Einkehr und der Meditation „tapas“ oder Disziplin und teilt die Welt in eine untere Welt aus höllischen Planeten, in eine mittlere Welt der Erde und eine obere Welt himmlischer Planeten. Der höchste Planet Satyloha ist Brahmas Residenz. Von dort aus wird er zum Schöpfer indem er Pflanzen und Tiere mit seinem Geist erfüllt. Aus sich selbst macht Brahma zwei menschliche Wesen: Als Mann und als Frau beginnt die menschliche Entwicklung. In den indischen Veden wird die Weltentstehung unterschiedlich erzählt. Weltentstehung ist einmal eine unergründbare Manifestation materieller Elemente, ist aber auch eine Schöpfung Brahmas.
Ägyptische Schöpfungsmythen sind eine Verbindung aus „Kosmogonie oder Weltentstehungslehren“ und aus „Kosmopoiien oder Weltschöpfungslehren“, so der Ägyptologe Jan Assmann65, dessen Analyse ich folge. In der Schöpfungslehre von „Heliopolis“ beginnt die Welt mit einem ersten Sonnenaufgang, in welchem der „von selbst entstandene Sonnengott aus dem Urwasser auftaucht und seine Strahlen in eine noch raumlose Welt hinausschickt“. Was wir heute als Urknall bezeichnen war für die frühen Ägypter das Auftauchen eines nicht beschreibbaren Sonnengottes. Wie schon im griechischen Mythos wird die Weltentstehung in Bildern von Göttern und deren Genealogie symbolisiert. Die Genealogie der Götter Ägyptens beginnt mit „Atum“, einem Wesen, das „noch nicht ist“ und in „lichtlosem- (kuk), in endlosem- (huh) oder formlosem (tenem) Chaos“ bewusstlos dahintreibt. Kuk bedeutet Finsternis, Huh ist Endlosigkeit und Tenem ist Form- oder Weglosigkeit. Aus einem Urschlamm oder Chaos erhebt sich der selbstentstandene- oder „prä-existente“ Urgott Atum, wird zur Sonne und bringt Licht und Helligkeit in die noch ungeformte Welt. Aus Atum wird Sehu als Gott der Luft und Tefnet als Gott des Feuers. Die Dreiheit aus Atum, Sehu und Tefnet markieren eine erste Weltentstehung als „Selbstentfaltung“ einer Atmosphäre aus Licht, Luft und Feuer. Eine Atmosphäre braucht Gestaltung: Sie beginnt mit der nächsten Genealogie, den Kindern von Sehu (Luft) und Tefnet (Feuer): „Geb“ (Erde) und „Nut“ (Himmel) differenzieren den kosmischen Raum oder die kosmische Atmosphäre in Erde und Himmel. Die Götter „geb“ und „Nut“ vollenden das Wirken der selbstentstandenen Götter Atun, Sehu und Tefnet, indem sie den atmosphärischen Raum zu Himmel (Nut) und Erde (Geb) formen und so Platz schaffen für Pflanzen, Tiere und Menschen. Schließlich werden in vierter Generation von Geb und Nut die Götter Osiris und Isis, Seth und Nephthys gezeugt und von Osiris und Isis im Inzest Gott Horus geboren. Alle fünf symbolisieren die menschliche Geschichte. Sie werden Rivalen, entwickeln Konflikte und bestimmen das Leben in Ägypten. Seth ermordet seinen Bruder Osiris und schafft für diesen eine Unterwelt als Platz für die Toten. Mit Atun, Geb und Nut entsteht die Welt als Sonne, Licht und Feuer. Die fünf Nachkommen Osiris, Isis, Seth, Nephthys und Horus teilen die Welt in einen Himmel als Platz für die Götter, in die Erde als Platz für alles was lebt und in eine Unterwelt als Platz für die Toten. Alle drei symbolisieren für die Ägypter, so Assmann, „das Fortwirken der kosmogonischen Energie“, ohne jemals ans Ende zu kommen. Die „schein-bare Bewegung der Sonne um die Erde, die Zyklen von Tag und Nacht“, von Leben und Tod, von Geboren-werden und Sterben sind Auswirkungen jener Energie, welche die Welt erschaffen hat und fortwirkend, das Chaos abwendend, eine Ordnung schafft. Der frühe Ägypter sieht sich als Teil dieser kosmogonen Energie.
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Zwei aus dem Vorderen Orient stammende Entstehungs-mythen sind im Gegensatz zu den bisherigen Kosmogonien echte Theogonien. Im Zoroastrismus des Zarathustra66 ist „Ahura Mazda“ der Schöpfer und Erhalter der Welt und des Menschen. An seiner Seite steht der Teufel Angra Mainyu, dessen zerstörerisches Treiben schließlich der hochgelobte Ahura Mazda oder Ahriman beenden wird. Erstmalig erscheint ein Satan als Gegenspieler des hoch-gelobten Schöpfers der Welt. Begründer des Zoroastrismus ist der altiranische Prophet Zarathustra (630 – 553v. Chr.), der mit 30 Jahren seine Berufung durch „Ahura Mazda“ erfährt und dessen Lob in 16 Gesängen beschreibt. Seine Gesänge bilden zusammen mit Kommentaren die „Avesta“, die Heilige Schrift des Zoroastrismus der Sassaniden und Parsen.
Die für das Abend- und Morgenland wichtigste Schöpfungsgeschichte oder Theogonie steht im ersten Buch Mose der Tora oder des Alten Testamentes der christlichen Bibel. Die frühesten Schriften zur mosaischen Schöpfungsgeschichte stammen aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. Die Schöpfungsgeschichte in der jüdischen Tora im 1. Mose-Buch67 dokumentiert vor allem einen Beginn der jüdischen Geschichte. Sie ist Vorspiel zur folgenden Geschichte von der Sintflut: „Aus einem Erdenkloß“ erschafft Gott den Menschen, weist ihn, weil er Früchte „vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen“ nascht, aus dem Paradies und bestraft ihn mit der Sintflut. Allein Noah überlebt und wird zur Urgestalt einer jüdischen Geschichte vor dem Exodus aus Ägypten.
Mit dem Aufkommen der christlichen Religion wird das Alte Testament und v.a. die Schöpfungsgeschichte zu einem Buch menschlicher Geschichte, wie im 1. Buch Mose beschrieben: Die Erde und schließlich der Mensch werden in 6 Tagen durch einen einmaligen Akt Gottes erschaffen. Gott schafft zuerst „Himmel und Erde“, dann das „Licht“ gegen die „Finsternis“ und den „Himmel“ über die „Feste“. Die „Feste“ wird zu „Erde“ und „Meer“ und bringt „Gras“, „Kraut“, „Bäume“ und „Früchte „ hervor. „Da ward aus Abend und Morgen der dritte Tag“ (1. Mose 1, 13). Am 4. Tag bringt Gott zwei große „Lichter an die Feste des Himmels“: „Ein großes Licht, das den Tag regiere und ein kleines Licht, das die Nacht regiere, dazu Sterne“. Am 5. Tag „erregt“ Gott das Wasser mit „großen Walfischen und allerlei Getier..., ein jegliches nach seiner Art“. Am 6. Tag spricht Gott schließlich: „Lasset uns Menschen machen, ein Bild, das uns gleich sei, die da herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über die ganze Erde und über alles Gewürm, das auf der Erde kriecht. Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib“ (1. Mose 1, 26-27). Dieser Schöpfungsbericht wird in 1. Mose 2, 7 ergänzt: Dort steht: „Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele“. Im 1. Mose 2, 16 und 17 gebietet Gott den Menschen: „Du sollst essen von allerlei Bäumen im Garten, aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen; denn welches Tages du davon issest, wirst du des Todes sterben“. Danach erst spricht Gott in 1. Mose 2, 18: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Gehilfin machen, die um ihn sei“. „Und Gott der Herr baute ein Weib aus der Rippe, die er von dem Menschen nahm und brachte sie zu ihm... man wird sie Männin heißen, darum dass sie vom Manne genommen ist“ (1. Mose 2, 22 und 23). Die angesprochenen Unterschiede in der mosaischen Schöpfungsgeschichte sind entstanden, weil sie offenbar von zwei Autoren stammen.
Entstehungsmythen benutzen reale menschliche Erfahrungen.
Kosmogonien oder Theogonien sind in oral kommunizierenden Gesellschaften entstanden. Sie werden über Jahrhunderte von Generation zu Generation weiter erzählt und nach der Erfindung der Schrift auch für die Nachwelt erhalten. Sie offenbaren den Zeitgeist einer frühen Periode des modernen- oder Sapiens- Menschen im Übergang. Es ist ein Übergang des Menschen aus einer Welt der Erfahrung in eine jetzt auch vorgestellte- oder erdachte Welt. Kinder erträumen sich die Kraft eines Riesen, den Wagemut von Piraten oder die Kühnheit von Rittern bevor aus diesen Träumen Wissen wird. Warum sollte dies in der Entwicklung des Sapiens-Menschen anders sein? Wenn der Mensch zu denken beginnt träumt er und entwickelt Phantasien. Später erst werden diese von Erfahrungen korrigiert. Aus dem magischen Zauberer wird ein Wissender auf Zeit. Diese Abfolge ist auch kein Phänomen nur früher Geschichte. Was wir heute als Mythos mit magischen Vorstellungen erklären war früher die Vorstellung der Wissenden und Gelehrten und was heute Wissen ist mag sich morgen schon in eine seltsame-, in eine nicht mehr glaubwürdige-, gar in eine magisch anmutende Vorstellung verwandeln.
Magie ist auch kein nur historisches Phänomen, denn „es kommt nicht darauf an was die Dinge von sich aus, für sich oder an sich sind, sondern welche Beziehung wir zu ihnen einnehmen“, so Hartmut Böhme. In seinem umfangreichen Werk „Fetisch und Kultur“68 beschreibt er wie Fetischismus oder Magie auch in unserer heutigen Gesellschaft noch immer verbreitet sind. Sind das Hufeisen an der Tür oder eine Auferstehung von den Toten oder Himmelfahrt nicht auch Magie?
Entstehungsmythen sind in Bildern erzählte Dokumente, in welchen das Unerklärbare des Anfangs mit Erfahrungen aus dem Alltag der Menschen verglichen wird und die Akteure des Handelns zu bewunderten Gestalten mit magischen Kräften und schließlich zu Göttern werden. In den Entstehungsmythen begegnen wir Erfahrungen, welche Menschen fortwährend machen: Nicht selten wird das Ei zum Symbol eines Übergangs: Wer beobachtet, wie aus Eiern lebendige Küken werden, wird sich nicht über Weltentstehungsmythen wundern, in welchen das Ei eine wichtige Rolle spielt. Im chinesischen Mythos ent-springt der Riese Pangu einem Ei, bevor aus ihm Sonne und Mond, Flüsse und Meere, Donner und Wind werden. In den indischen Veden wird der in den „Ozean der Ursachen“ verspritzte Samen des Maha Visnu zu einem Ei, aus dem Brahma heraustritt und in „einhundert herrlichen Jahren“ der Meditation die bisherige „Schattenenergie“ in eine obere-, eine mittlere und eine untere Welt strukturiert. Er haucht diesen Welten „Wesenhaftigkeit“, Zwecke, Werte und Ziele ein, erfüllt Pflanzen und Tiere mit Geist und setzt eine Entwicklung der Menschheit in Gang, indem er aus sich selbst einen Mann und eine Frau werden lässt. Das „Ei“ wird in Weltentstehungsmythen zum Symbol eines Beginns.
Das Ei wird auch zum Ausgangspunkt einer „Metamorphose“ welche Menschen regelmäßig in der Natur beobachten können. Aus einem Ei wird eine Henne als Landtier oder ein fliegender Vogel. Nicht nur das Aussehen, auch ein anderes Verhalten und neue Möglichkeiten des In der Welt Seins entstehen, wenn wir in der Biologie von „Metamorphose“ sprechen. Aus einem im Wasser lebenden Tier wird ein Landtier mit neuem Lebensumfeld. Die Metamorphose ist Symbol eines Übergangs. Wenn aus einer Raupe ein Schmetterling wird, so ändert sich nicht nur die Gestalt. Auch das Verhalten ändert sich und neue Fähigkeiten entstehen: Der Schmetterling kann fliegen. Er ist nicht mehr an einen Ort gebunden wie die Raupe. Sein Erkundungsfeld ist größer geworden. Wenn eine Kaulquappe zum Frosch wird verändert sich nicht nur die Form, die Größe und das Aussehen. Metamorphosen und deren erkennbare Folgen waren für die Menschen der Frühzeit eine Erfahrung. Im Mythos von Pangu oder von Brahma werden Meta-morphosen geschildert. Aus einem ruhenden und kugeligen Ei entwickeln sich nicht nur neue Strukturen, sondern neue Wesen mit neuartiger Wirksamkeit. Das Ausgangswesen stirbt oder verschwindet und ein neues Wesen mit neuen Fähigkeiten und Möglichkeiten entsteht. Im „Hundun-Mythos“ wird aus einem „Ungeschiedenen“ oder nicht-menschlichen Primaten ein bewusst werdender Mensch oder Hominide. Metamorphosen sind Beispiele für die Entwicklung neuer Möglichkeiten des in der Welt Seins, damals schon und auch noch heute. Ist der Wandel vom Kind zum Adoleszenten nicht auch eine mentale Metamorphose?
Immer unternimmt der Mensch in seinen Weltent-stehungsmythen den Versuch hinter einen Vorhang des Sichtbaren, des Erlebbaren, des Verstehbaren zu schauen. Man spekuliert, wie alles entstanden sein könnte und entwickelt dafür Bilder. Ausgangspunkt ist in den meisten Kosmogonien eine kaum beschreibbare Welt als unstrukturierte Masse. In der griechischen Mythologie spricht man von einem Gott „Chaos“, der diese Vorwelt oder „präexistente“ Welt symbolisiert. Im Mythos der indischen Veden entsteigt Maha Visnu einer „Schatten-energie“ oder einem „Ozean der Ursachen“. In der ägyptischen Schöpfungslehre von Heliopolis taucht der von selbst entstandene-, lichtlose-, formlose-, bewusstlose- und präexistente „Atun“ aus einem Urschlamm auf, wird zur Sonne und schafft eine erste, noch ungeformte Atmosphäre aus Licht, Luft und Feuer. Weitere Götter-generationen erschaffen die Erde und den Himmel, dann Pflanzen, Tiere und Menschen, bis schließlich fünf ägyptische Göttergestalten Osiris, Isis, Setha, Nephtys und Horus das menschliche Handeln lenken. Chaos, Schatten-energie, Urschlamm sind menschliche Vorstellungen für Materialien ohne Struktur. Was Menschen schaffen und formen ist strukturiert und wird aus strukturlosen Materialien gewonnen. Was also liegt näher als diese Erfahrung auch auf das Entstehen der Welt zu übertragen.
Wer die Welt aus einer unstrukturierten Masse, aus einem „Ozean von Ursachen“, aus einem „Urschlamm“ hervor-gehen lässt benutzt natürliche Erfahrungen. Er hat beobachtet, wie in einem unstrukturierten Sumpf aus Wasser und Erde plötzlich Leben sich entfaltet, wie Pflanzen sprießen, Mücken und Schmetterlinge auftauchen oder Würmer und Frösche sich im Schlamm wohlfühlen. Wer in vorgeschichtlicher Zeit sich vorzustellen versucht, wie alles begann, benutzt Beobachtungen und Erfahrungen für seine Erklärung.
In den Weltentstehungsmythen oder Kosmogonien wird das präexistente Chaos oder der „Urschlamm“ durch eine „kosmogene Energie“ strukturiert und mit Wesen erfüllt. Analoge Ideen wirken bis heute fort. Die moderne Physik spricht von einem „Urknall“, dessen Alter wir heute festlegen können. Hinter ihn zu schauen aber bleibt Spekulation. Der Urknall hat jene „kosmogene Energie“ freigesetzt, die noch immer das Weltall verändert und strukturiert. Für den Chinesen Laozi ist diese „kosmogene Energie“ das „Dao“. In den indischen Veden wird kosmogene Energie zu einer „Schattenenergie“ und in Griechenland zur „Lebenskraft“. Sie werden das Chaos strukturieren und den Strukturen eine Seele geben. Eine „causa movens“ des Griechen Aristoteles (384-322 v. Chr.) bewirkt die fortwährende Veränderung seiner „scala naturae“. Weitere Ähnlichkeiten ergeben sich zwischen frühen Vorstellungen und heutigen Erklärungen. Im frühen chinesischen Denken wird die „kosmogene Energie“ des „Dao“ von den polaren Kräften yin und yang strukturiert. In der Darwinschen Evolution spricht man von einem dialektischen Spiel von Veränderung und Einpassung und in der Physik von Schwerkraft und Fliehkraft. Die Spekulation bleibt, die Namen ändern sich.
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Auch die Menschen der Frühzeit wissen, dass jede Aktion ausgelöst ist und eine Ursache hat. Ursachensuche ist eine frühe, schon eine präkognitive Eigenschaft des Menschen. Was mit Erfahrungen nicht zu klären ist wird für die Menschen der Frühzeit zu einem Werk der „Götter“. Diese Götter der menschlichen Frühgeschichte im Gilgamesch-Epos, im Atramchasis-Epos oder in den Epen Homers sind dem hebräischen Jahwe vergleichbar. Sie unterscheiden sich aber vom monotheistischen- und transzendenten Gott des christlichen Abendlandes. Die Götter früher Kosmo-logien tragen menschliche Züge. „Wie kam es nur soweit, dass du in der Götterversammlung standest?“ (XI 7) fragt Gilgamesch den göttlichen Uta-napischti. „Deine Glieder sind gar nicht anders..., genau wie ich bist auch du!“ (XI 3). Götter symbolisieren für die damalige Zeit die geheimnis-vollen-, nicht erklärbaren-, auch magischen Kräfte der Natur und entspringen menschlichem Fühlen und Denken. Nichts Menschliches ist den Göttern fremd: Sie sind tugendhaft aber auch schlau und gierig. Mit Mitteln der Betörung durch Schönheit suchen sie die Gesellschaft der Menschen, nicht selten auch mit List und Intrige. Götter sind auch nicht allmächtig. Sie haben Zuständigkeiten. Im ersten Gesang der Odyssee diskutieren sie miteinander in der Götterversammlung. Diese ist hierarchisch strukturiert: Die Götterväter Enlil im Gilgamesch-Epos und im Atramchasis-Epos oder Zeus bei den Griechen regeln den Weltenlauf. Sie haben Helfer, die spezielle Aufgaben erfüllen. Apollo und Helios sind bei den Griechen für Licht und Sonne zuständig. Poseidon ist Herrscher der Meere und Thanatos organisiert die Unterwelt. In Göttern werden menschliche Wünsche symbolisiert: Kinder offenbaren ihre Wünsche, indem sie sich mit dem Wagemut oder Heldentum von Rittern und Piraten identifizieren. Für die frühen Griechen sind Apollo oder Athene die Gestalten ihrer Wünsche und Sehnsüchte. Im Gilgamesch-Epos ist Ischtar die Göttin der Liebe und Ea ein Gott der Weisheit während bei Homer die Pallas Athene Weisheit, Vernunft und Verstand bedeutet. Ihr Geisthauch bestimmt in der Odyssee das Verhalten des Odysseus, seines Sohnes Telemach und seiner Gemahlin Penelope. Der Geist von Pallas Athene ist jene „Innerlichkeit“ im Kopf des Odysseus welche ihn gesund nach langer Irrfahrt in seine Heimat zurückbringt.
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In den Weltentstehungs- oder Schöpfungsmythen ist der Mensch immer das letzte Glied einer Entwicklung: In 1. Mose 2, 7 bläst Gott dem aus einem Erdenkloß gemachten Menschen „den lebendigen Odem in seine Nase. Und also ward der Mensch eine lebendige Seele“. Er ist ein göttliches Geschöpf. Im Atramchasis-Epos beauftragt die Göttergemeinschaft die Muttergöttin Nintu zur Erschaffung des Menschen. Sie formt ihn aus Lehm und macht ihn zum Geistmenschen indem sie den unfertigen Lehmmenschen mit dem Blut des Anführers des Götter-streiks vermengt. Im chinesischen Hundun Mythos ist der Mensch Konsequenz einer bipolaren Energie und wird auch zu deren Träger: Im „Hundun-Mythos“ der Chinesen bohren zwei „Herrscher der Meere“ dem „Unge-schiedenen“ oder „selbstvergessenen Hundun“ Öffnungen für das Sehen, das Hören, Essen und Atmen in den Körper, wobei Essen und Atmen auch für Schmecken und Riechen stehen. Der „Ungeschiedene“ oder selbstvergessene Hundun stirbt. Aus ihm wird ein menschliches Wesen, das sich mit allen Sinnen seinem Umfeld gegenüber öffnet und dieses wahrnimmt. Von der Psychologie wissen wir, dass aus einem Zusammenspiel sensorischer Wahrnehmung beim Menschen eine Erfahrung wird die sich als Emotion zu erkennen gibt und schließlich zu bewussten Gefühlen führt.
Schließlich liefern die älteste Dichtung der Menschheit, das Gilgamesch-Epos und der chinesische Mythos um „Hundun“ auch erste Hinweise auf die Herkunft des Menschen aus biologischen Vorfahren: In Entstehungs-mythen wird zu beschreiben versucht, woher wir Menschen kommen. Der „Ur-Mensch“ Enkidu gewinnt in einem siebentägigen sexuellen Rausch mit der Dirne Schamchat Verstand und Einsicht. Er muss dann allerdings auch erfahren, wie sich Tiere und Natur von ihm abwenden und für ihn zu Objekten werden. Das neue Bewusstsein entfremdet Enkidu von seinem bisherigen Leben und er erschrickt. Im chinesischen Mythos um „Hundun“ wacht der „Ungeschiedene“ mit Bewusstsein auf nachdem ihm Löcher für sinnliche Erfahrungen in seinen „selbstvergessenen“ und durch „Außenablenkung durch Sinne ungeschiedenen“ Körper gebohrt werden. Aus dem „Ungeschiedenen“ ist ein Mensch mit sinnlichen Er-fahrungen und Bewusstsein geworden. In beiden Mythen wird der moderne Mensch mit früheren Entwicklungs-stufen des Menschen in Verbindung gebracht. Erste Ahnungen einer biologischen Evolution sind erkennbar.
Vergleicht man den Hundun-Mythos mit dem Wissen über die anthropologische Evolution, so wird in diesem Mythos die Entwicklung der Hominiden aus ihrer Ursprungs-gruppe nichtmenschlicher Primaten thematisiert. Jene „Metamorphose“ wird mythologisch gedeutet, die sich vor zwei bis drei Millionen Jahren abspielte, den Australo-pithecus sterben ließ und einen Hominiden hervor brachte. Er entwickelte Emotionen und Gefühle und schuf eine neue-, eine bewusste Art des in der Welt Seins. Im Gilgamesch-Epos aus Mesopotamien ist der „Urmensch“ Enkidu ein Hominide, welcher „das (neue) Leben noch nicht kennt“ und „mit den Künsten des Weibes“ von der Dirne Samchat verwandelt wird: „Wissend war nun sein Herz... und tief war seine Einsicht“. Dieser „Urmensch“ Enkidu wird zum Bruder des göttergleichen und nach Unsterblichkeit strebenden Gilgamesch. In diesem frühen Gilgamesch-Epos wird aus einem noch unwissenden-, von Gefühlen gelenkten Kind in Pubertät und Adoleszenz „mit den Künsten des Weibes“ ein wissender- oder erwachsener Mensch, denn „tief war seine Einsicht“. Im Gilgamesch-Mythos wird der Übergang von Enkidu zu Gilgamesch vollzogen. Dieser Mythos des Gilgamesch-Epos offenbart bereits ein frühes Erahnen der Menschen, dass sich in der Individualentwicklung des Menschen eine mentale Evolution zu erkennen gibt. In der Philosophie wird diese Ahnung Wirklichkeit: Der Grieche Aristoteles beschreibt diese Evolution im Denken seiner Zeit als eine „Scala naturae“, als eine Stufenfolge der Natur: Sie beginnt mit Erde und Wasser, führt über Insekten, Würmer, Fische, Vögel bis zu Säugetieren und endet beim Menschen und seinen Göttern. Auch diese sind Teil dieser Natur, sind Produkte einer „Lebenskraft“, oder im Duktus der frühen Chinesen eines „Dao“. Beide schaffen aus einfachsten Anfängen den Menschen und seine Götter.
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Menschliche Erfahrungen werden auch deutlich, wenn Götter zum Schöpfer des Menschen werden: Nicht selten sind es weibliche Göttinnen, die den Menschen erschaffen. Im Gilgamesch-Epos wird Enkidu von der Göttin Aruru erschaffen: „In der Steppe erschuf sie Enkidu, den Helden, den Sprößling der Stille (I, 104)“. Die Göttin Ischtar erzeugt den Gilgamesch und macht Enkidu zu dessen Bruder im Geiste. Noch älter als das Gilgamesch-Epos ist das Atramchasis-Epos aus Mesopotamien und beschreibt neben dem Sintflutgeschehen in der 1. Tafel („als die Götter Menschen waren“) wie die Muttergöttin Nintu die Menschen schuf: „Du Nintu bist der Mutterleib, der die Menschen erschafft; erschaffe den Urmenschen, dass er das Joch (der Arbeit) auf sich nehme“. Wer erlebt wie Frauen oder Mütter ihre Kinder gebären ist versucht auch für die Erschaffung des Menschen weibliche Göttinnen anzunehmen.
Von Magie zur Abstraktion oder von Kosmogonie zu Theogonie.
Entstehungsmythen sind erste oder früheste geistige Produkte von Menschen aus vor- oder frühhistorischer Zeit. In ihnen spielen vom Menschen gemachte Erfahrungen eine wichtige Rolle und Ideen werden in Bildern mit magischem Inhalt vermittelt. Magische Bilder von Urwesen oder „Göttern“ werden zu kraft-vollen Gestaltern. Immer aber bleibt ein Mensch mit seinen Erfahrungen und Gefühlen deren Produzent und macht sie zu Akteuren oder Vermittlern der Vergangenheit.
Mit Moses Schöpfungsbericht beginnt eine neue Sicht auf die Entstehung der Welt. Seine Schöpfungsgeschichte ist eine „Theogonie“, in welcher ein Gott die Macht vieler Götter in sich vereinigt, zum Weltenschöpfer wird aber bei Mose noch ein durchaus „menschliches“ Wesen bleibt. Der aus Moses „menschlichem“ Gott hervorgehende transzendente Schöpfergott des christlichen Abendlandes ist zwar auch noch ein gedankliches Produkt, ein vom Denken gestaltetes Geschöpf doch wird dieses Geschöpf in ein Wesen verwandelt, das mit sinnlichen Erfahrungen des Menschen nichts mehr zu tun hat. Der transzendente Schöpfergott ist zu einem Produkt menschlicher Abstraktion geworden.
Vergleicht man den Inhalt der angesprochenen Kosmo-gonien und deren Aussagen zum Menschen mit der Schöpfungsgeschichte in 1. Mose 1, so wird Moses Aussage zu einem Sonderfall: Die griechischen-, ägyptischen-, chinesischen- und indischen Kosmogonien sind in Bildern beschriebene Ideen zur Entstehung der Welt. Sie ver-arbeiten Kenntnisse aus der Natur oder Erfahrungen mit Donner und Blitz. Das Unerklärbare wird magischen Gestalten oder Göttern zugeschrieben, welche das Unbekannte bewältigen und die Veränderungen symbolisieren. Sie sind noch immer ein Teil dieser Welt. Dies gilt auch für Moses Gott JHWE. Er ist eine Kopie des ägyptischen Sonnengottes Aton und vereinigt in sich die Macht vieler polytheistischer Götter. Moses Gott ist ein von Mose instrumentalisierter-, ein machtvoller- aber „menschlicher“ Gott.
Wer, wie ich, mit dem christlichen Gott des Alten Testamentes aufwuchs, hat Schwierigkeiten den jüdischen YHWE vom christlichen Gott abzugrenzen. YHWE hat jedoch für die Juden eine ganz andere emotionale Bedeutung als Gott für die Christen. Aus Moses Gott wird im christlichen Abendland im Zusammenspiel von Platons Philosophie und dem jüdischen YHWE ein transzendenter Gott. Er ist ein jenseits von Welt, Natur und Mensch existierendes-, vom Menschen nicht begreifbares-, allenfalls beschreibbares-, weil abstraktes Wesen. Der mosaische Schöpfungsbericht der christlichen Bibel ist eine einzige Hymne an den Schöpfer. Für die Juden ist YHWE der allmächtige Lenker jüdischer Geschichte und antwortet mit Geboten und Verboten. In Moses Schöpfungsgeschichte im Alten Testament der christlichen Bibel wird ein absoluter Unterschied zwischen Gott und Welt, zwischen Gott und Mensch und schließlich auch noch zwischen Mensch und Natur beschrieben. Es sind diese Dualismen, die an Stelle von Abhängigkeit, von Zusammen-arbeit und Verantwortung eine hierarchische Ordnung und ein System von Herrschaft begründen und das Gehorchen zur Pflicht macht. In Kosmogonien sind „Götter“ ein Teil dieser Welt und YHWE ist ein Teil der jüdischen Welt. Die Götter arbeiten an der Weltentstehung und am Welt-geschehen mit. In der „Götterversammlung“ beraten sie wie es weiter gehen soll. Das Handeln dieser Götter ist mit Eltern vergleichbar, die Aufgaben erledigen, zu welchen die Kinder noch nicht in der Lage sind. In Moses Schöpfungsgeschichte des christlichen Alten Testamentes steht der Welt und den Menschen erstmalig ein Welten-schöpfer, ein Weltenlenker und mehr noch ein Welten-herrscher gegenüber, der alle Menschen zu Abhängigen macht, die gehorchen- oder sich abwenden müssen. Wer gehorcht ist angenommen, wer sich abwendet wird verworfen und aus dem Paradies vertrieben. Erstmalig in der Menschheitsgeschichte wird ein Absolutheits-anspruch formuliert, der Nachahmer finden wird. In der Schöpfungsgeschichte des Alten Testamentes der Christen werden jene belohnt, die gehorchen: Ihnen wird gesagt: „Füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über alles Getier, das auf Erden kriecht“ (1.Mose 1, 28). Ein erstes Schisma zwischen immanenter- und transzendenter Welterklärung wird bereits in den frühesten von Menschen entworfenen Kosmo-gonien und Theogonien erkennbar. Wo YHWE ein allein jüdischer Gott ist wird im christlichen Verständnis der Schöpfungs-geschichte erstmalig für die menschliche Historie ein duales Weltbild zwischen Gott und Welt oder Gott und Mensch initiiert mit vielen Folgen. Sie werden uns im zweiten Teil dieses Buches beschäftigen.
Der Verzicht auf Entwicklung und auf Geschichte in Moses Theogonie ist nicht der einzige Unterschied zu den genannten Kosmogonien. Wichtiger noch ist in Moses Schöpfungsgeschichte der christlichen Bibel die Entschiedenheit und die Selbstgewissheit, mit welcher er den göttlichen Schöpfungsakt verkündet. Wo Kosmogonien ihr noch fehlendes Wissen in Bildern verbergen wie „Chaos“, in ihrer Unsicherheit von einer „Schattenwelt“ sprechen oder ihre zum Menschen gehörigen Skrupel durch „endlose-oder formlose Wesen“ ausdrücken die „noch nicht sind“ endet Moses Schöpfungs-geschichte am sechsten Tag mit einer nicht hinterfrag-baren Ankündigung: „Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte; und siehe da, es war sehr gut“. Zweifel und Unsicherheit durften nicht aufkommen. Mose verkündet eine „Wahrheit“, während in Kosmogonien ein Agnostizismus mit schwammigen Formulierungen offengelegt wird. Wahr und Falsch als Unterscheidungs-merkmal beginnt bereits mit Moses Schöpfungsgeschichte des christlichen Alten Testamentes.
Dies wird deutlich beim Vergleich der mosaischen Theogonie mit dem Gilgamesch-Epos oder dem Atramchasis-Epos. Was über die Sintflut, über die Schlange oder über Sexualität erzählt wird taucht erstmalig im Atramchasis-Epos und im Gilgamesch-Epos auf und wird in den mosaischen Schöpfungsbericht mit neuer und konträrer Interpretation übernommen. Mose, Gilgamesch und Atramchasis sind mythische Gestalten mit bis heute nicht geklärtem-, aber möglicherweise realem Hintergrund. Ihre Erzählungen wurden lange schon weiter gegeben bis sie schließlich zu geschriebenen Dokumenten wurden. In geschriebener Form entsteht das Atramchasis-Epos um 1800 v. Chr., das Gilgamesch-Epos im 11. Jahr-hundert v.Chr. Die Mose-Bücher sind das Werk mehrere Autoren. Die frühesten Schriften stammen aus dem 15. Jahrhundert v.Chr. Um 500 v.Chr. erhalten die Fünf Bücher Mose, das Pentateuch, ihre endgültige Form. Auch wenn die leibliche Existenz von Mose, von Atramchasis oder Gilgamesch weiterhin ungeklärt bleiben sollte, ihre Bedeutung als literarische Verkünder von Zeitgeist-strömungen um die Zeitenwende bleibt. Für Mose bleibt die Bedeutung eines Religionsstifters. Für die Juden begründet er die jüdische Religion. Für die Christen spricht Mose für die gesamte Welt.
Polytheistische Gesellschaften, wie im Atramchasis-Epos oder im Gilgamesch-Epos beschrieben, richten ihre Aufmerksamkeit an den Menschen. Regeln des Zusammen-lebens sind wichtig. Wer viele Götter oder unterschied-liche Weisheiten kennt wird mehrere Wahrheiten akzeptieren, sie hinterfragen und in sein Denken integrieren. Wahr und Falsch sind dann Möglichkeiten, die ausgeleuchtet und interpretiert werden oder als persönliche, wenn auch unterschiedliche Wahrheiten toleriert werden. Wichtiger als „wahr und falsch“ ist in polytheistischen Gesellschaften ein „sowohl als auch“. Monotheistische Religionen lenken ihre Aufmerksamkeit auf Gott. Er entscheidet. Der Mensch ist ein allein auf Gott ausgerichtetes Wesen, das Gebote und Verbote zu erfüllen hat und Gott bestimmt, was wahr oder falsch ist.
Der mosaische Monotheismus führt zu einem neuen Menschenbild. Wie grundsätzlich sich schon das Menschenbild im Gilgamesch-Epos vom Menschenbild der Mose-Bücher der christlichen Bibel unterscheidet zeigt sich beispielhaft an der Schilderung des Sintflutge-schehens, zeigt sich im Schlangensymbol und nochmals in der Bedeutung, welche der Sexualität zugeschrieben wird, Phänomene, die sowohl im Gilgamesch-Epos wie in den Mose-Büchern erwähnt werden:
Die Sintfluterzählung des Uta-napischti im Gilgamesch-Epos nennt keine Ursache für eine Flut welche irgendwann zu vorhistorischer Zeit die mesopotamische Region um Euphrat und Tigris heimsuchte. Die Sintflut wird von den Göttern geschickt –„danach verlangte den großen Göttern ihr Herz“ (11, Vers 14)-, ohne dass ein Grund genannt wird. Als die Sintflut dann 7 Tage lang über die Menschen herein bricht, „packte selbst die Götter vor der Sintflut die Angst“ (11, Vers 114). Auch im Atramchasis-Epos denken die Götter darüber nach den sie störenden Menschen durch eine Sintflut zu vernichten. Der Weisheitsgott Ea aber weiß sie von diesem Beschluss abzubringen, indem er die Menschen nicht vernichtet, sondern sie zu sterblichen Wesen macht. Wer sterblich ist wird sich daran erinnern, dass ein menschliches Begehren von Unsterblichkeit eine unzulässige Hybris bedeutet. In den Mose-Büchern findet die Sintflut in der Zeit der hebräischen Gründerväter statt und wird von Gott wegen der Sündhaftigkeit der Menschen veranlasst: „Da der Herr sah, dass der Menschen Bosheit groß ... und das Trachten ihres Herzens nur böse war“, „will ich die Menschen vertilgen von der Erde“ (1. Mose 6, 5 und 7). Ein neues Machtgefälle zwischen Gott und Mensch wird deutlich.
Die Schlange hat im Gilgamesch-Epos und in den Mose-Büchern eine sehr unterschiedliche Funktion. Im Gilgamesch-Epos nennt Uta-napischti dem nach Unsterblichkeit verlangenden Gilgamesch eine „Pflanze“, mit welcher er seine „Jugend wiederfinden könne“. Gilgamesch findet diese „Pflanze des Herzschlags“ in der Tiefe des Meeres, doch wird sie ihm von der Schlange entrissen. Gilgamesch weint und realisiert, dass ewige Jugendlichkeit sein Ziel nicht mehr sein kann. Er kehrt zurück in die Heimat nach Uruk. Die Schlange hat ihn auf einen menschlichen Weg des Kompromisses und der Abfindung mit den Tücken des Lebens gebracht. Tiere und Menschen brauchen einander. In den Mose-Büchern ist die Schlange eine Verführerin, die Eva zum „Essen vom Baum der Erkenntnis“ rät. Und weil sie dazu verführt, vom Baum der Erkenntnis zu essen, wird sie zu einem Tier, welches den Tod bringt: „Da sandte der Herr feurige Schlangen unter das Volk, die bissen das Volk, dass viel Volks in Israel starb“ (4. Mose 21, 6). Auf diese Weise werden Menschen und Tiere zu Feinden: Die Schlange wird zertreten. Der Mensch wird gebissen.
Noch unterschiedlicher wird die Sexualität im Gilgamesch-Epos und in den Mose-Büchern beschrieben. In der Geschichte um Lots Töchter wird Sexualität mit Verführung und Inzest in Verbindung gebracht. Und als Adam und Eva nach dem Naschen vom Baum der Erkenntnis „gewahr wurden, dass sie nackt waren“, schämten sie sich „und flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schürzen“ und sie versteckten sich. Ganz anders im Gilgamesch-Epos. Enkidu wird sechs Tage und Nächte lang von der Dirne Schamchat verführt, doch tritt er danach „wie ein Gott ein ins Sein“ und besitzt hinfort „Verstand und tief war seine Einsicht“. Im Gilgamesch-Epos hat Sexualität einen Bewusstsein schaffenden Effekt. Sexualität ist ein wichtiger Initiationsschritt in das Bewusstsein eines erwachsen werdenden Menschen. In den Mose-Büchern wird dieser Akt schamhaft um-schrieben und Genitalien werden hinter Feigenblättern verborgen. Sexualität wird zu einem Zuchtinstrument Gottes.
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In Moses Schöpfungsbericht wird aus Prinzipien wie „Lebenskraft“ oder „Dao“ ein „Schöpfergott“. Er ist bis zu Lamarck im beginnenden 19. Jahrhundert in Europa die schöpferische Kraft welche die Erde und den Menschen als Krönung erschaffen hat. Im Schöpfungsmythos der Mose-Bücher wird eine Zugehörigkeit des Menschen zur biologischen Natur ausgespart: „Aus einem Erdenkloß“ (1.Mose 2,Vers 7) erschafft Gott den Menschen –„ein Bild, das uns gleich sei“ (1. Mose 1, Vers 26) -, prüft ihn mit einem Verbot –„vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen sollst du nicht essen“ (1. Mose 2, Vers 17) – und „wies ihn aus dem Garten Eden“ (1. Mose 3,Vers 23). Der Mensch beginnt sich auf der Erde fremd zu fühlen und wird schließlich mit einem „ewigen Leben“ im Himmel getröstet.
Das magische Denken in Kosmogonien oder Theogonien ist nach der „zivilisatorischen Wende“ eine zweite Etappe in der Mentalgeschichte des Menschen. Nach einem gedanklichen Umgang mit unserem Umfeld in der zivilisatorischen Wende tauchen erstmalig Ideen auf in Form von Mythen oder Magie. In Kosmogonien wird die Welt noch mit gemachten Erfahrungen erklärt. In Theogonien aber wird die Welt verzaubert und verändert. Ein erster Schritt in die Transzendenz wird vollzogen. Wo menschliche Introspektion in den Kosmogonien die Welt erklärt wird von Moses Schöpfergott der christlichen Bibel eine menschliche Idee extrospektiv nach außen gerichtet und Transzendenz erfunden. Der Mensch soll die Welt nicht erklären und genießen. Er soll sie verändern, beherrschen und in ein Gottesreich verändern.