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Selten wurde ein Garten so sorgfältig durchsucht wie meiner und der meiner Nachbarn.

Außer zwei menschlichen Backenzähnen fanden sie allerdings keine Leichenteile mehr, wobei ich mich fragte, wo eigentlich das zweite Auge des Toten geblieben war. Ich hoffte, dass es nicht irgendwo in einer anderen Astgabel hing und nun in den Himmel oder schlimmer in meinen Garten hinein starrte.

Also: keine Leichenteile mehr. Zumindest vorerst nicht. Wie gesagt, ich habe Sie gewarnt, es könnte ein kleines bisschen eklig werden.

Allerdings fanden die Männer in den weißen Plastikanzügen etwas anderes, das geradezu spektakulär war: einen kleinen, schwarzen Stein, einen Meteoriten, wie sich später herausstellte, so groß wie eine Kinderfaust. Ich habe ihn natürlich betrachtet, als die Männer mich fragten, ob ich diesen Stein schon einmal gesehen hätte und weil Friedrich, mein Sohn, aus dem ersten Stock alles beobachtete, rief ich ihn herunter, dass er mit seinem Handy ein paar Bilder machen sollte. Der Stein war ungewöhnlich. Mir fiel zum Beispiel auf, dass es kleine metallene Einsprengsel gab – wie Rosinen in einem dunklen Teig. Oder wie bei einem Kirschkuchen.

Ich sagte zu den Plastikleuten: „Kann mich nicht erinnern, den Stein hier vorher schon einmal gesehen zu haben, aber man sieht ja viele Steine am Tag, nicht?“

„Wie meinen Sie das?“, fragte einer der Männer, der mit seiner riesigen Hakennase aussah wie ein Raubvogel.

„Na ja“, sagte ich, „die Straße besteht aus Kopfsteinpflaster, das sind mehrere tausend Steine, die ich jeden Tag sehe, wenn ich raus gehe. Oder denken Sie nur an den Kiesweg bei meinem Nachbarn. Wenn man annimmt, dass auf einem Quadratzentimeter, sagen wir mal, zwanzig Steine liegen, dann sind das …“

„Ist gut, Herr Pfarrer, ich habe verstanden“, unterbrach mich der Mann, „ich wollte nur wissen, ob Sie diesen besonderen Stein schon einmal irgendwo gesehen haben.“

„Nein.“

Raubvogel ließ den Stein in eine Plastiktüte fallen, bedankte sich und wollte gehen.

„Haben Sie denn auch schon in der Dachrinne nachgeschaut?“, fragte ich. „Wenn etwas durch die Luft fliegt, könnte es auf dem Dach landen und dann in die Dachrinne rollen.“

Das Raubvogelgesicht stutzte und sah seinen Kollegen fragend an. Wortlos holten sie eine Leiter und suchten Dach und Dachrinne ab. Und spätestens da ahnte ich, dass in mir verborgene Fähigkeiten steckten. Wenn ich auf Dinge komme, auf die ausgebildete Polizisten nicht kommen, dann macht einen das nachdenklich. Sie fanden dort oben übrigens das zweite Auge, das in einer grünen Schlammschicht steckte und die Welt aus einer Art grüner Sicht betrachtet haben musste.

Ich erwartete zwar keinen Dank, aber doch immerhin ein anerkennendes Nicken. Aber Raubvogel und Schildkröte (der Mann zog den Kopf immer so seltsam ein), taten so, als hätten sie mir einen Gefallen getan, denn nun war wenigstens meine Dachrinne sauber. Wie auch immer, ich nahm mir vor, das nächste Mal, wenn Wurmsen sich meldete, diese Sache mit der Dachrinne so ganz nebenbei zu erwähnen.


Irgendwann in der Nacht schreckte ich auf. Hatte mich ein Geräusch geweckt? Nein, es war ein Gedanke, der mir im Schlaf gekommen war. Wie heißt es doch so schön in den Psalmen? Den Seinen gibt’ s der Herr im Schlaf. Aufgeregt verbrachte ich die letzten Stunden bis zum Morgengrauen.

Gleich um neun am nächsten Morgen rief ich Wurmsen an.

„Ja? Hier Hauptkommissar Wurmsen.“

„Hallo, ich bin’s, der Pfarrer, der kein Alibi hat. Sie erinnern sich?“

„Oh ja. Sehr gut sogar.“

„Ich rufe Sie an, weil mir heute Nacht etwas eingefallen ist.“

„So?“

Er schien etwas kurz angebunden zu sein.

„Ja, Folgendes: Haben Sie das Ohr aus meinem Garten untersucht, ich meine mit Ihren DNS-Dings-Apparaten.“

„Ja, wir haben unsere DNA-Dings-Apparate aus dem Dings-Schrank herausholt und alle Weichteile untersucht“, brummte Wurmsen.

„Und dieses Knorpelstück? Haben Sie das auch …?“

„Herr Pfarrer, Sie wollen sicher wissen, ob Ohr und Knorpel von der gleichen Person stammen, oder?“

„Genau.“ In diesem Augenblick bewunderte ich Wurmsen für seinen Scharfsinn.

„Wissen Sie“, fuhr ich fort, „das ist mir heute Nacht aufgefallen. Es könnte doch sein, dass die Teile von zwei verschiedenen Menschen stammten, das sah irgendwie nicht passend aus und …“

„Und sehen Sie, Herr Pfarrer, diese Idee hatten wir eben auch! Aber ich darf Ihnen keine Informationen weitergeben, solange die Ermittlungen laufen. Vielen Dank, dass Sie sich innerlich so stark engagieren.“

„Aber“, sagte ich, „das ist schließlich mein Ohr, es ist in meinem Garten gefunden worden und deshalb würde ich gerne wissen …“

„Das Ohr gehört nicht Ihnen persönlich, Herr Pfarrer.“

Ich merkte, dass er mich nicht leiden konnte. Vielleicht hatte er in der Kindheit eine schreckliche Mutter gehabt, die ihn zum Gottesdienstbesuch gezwungen und ihm mit dem Schraubenzieher Löcher in seine Waden gebohrt hatte, wenn er sich weigerte. Und nun hat er einen Hass auf alles Kirchliche entwickelt und auch gegen Schrauben. Könnte ja sein. Es wäre sogar verständlich. Er war jedenfalls gegen mich eingestellt und wollte so eine harmlose Information einfach nicht weitergeben, um mich zu ärgern. Also bohrte ich nicht weiter nach und wechselte schnell zu einem anderen Thema: „Wussten Sie eigentlich, Herr Hauptkommissar, dass es allein meiner Weitsicht zu verdanken ist, dass Ihre Männer das zweite Auge gefunden haben? Ich hatte nämlich den Herren den Tipp mit der Dachrinne gegeben.“

„Aha! Vielen Dank, das wusste ich noch nicht …“

„… dann könnten Sie mir doch als Gegenleistung verraten, ob das Knorpelstück …“

„Tut mir Leid, aber das darf ich nicht. Da bin ich ganz strikt. Sie wissen vielleicht, dass Sie immer noch unter einem leichten Verdacht stehen. Es fehlt ein stichhaltiges Alibi. Ich würde mich an Ihrer Stelle zurückhalten. Lassen Sie uns unsere Arbeit tun und gehen Sie der Ihren nach – Ihr Liegestuhl wartet bestimmt auf Sie.“

„Stammt das Knorpelstück von dem gleichen Kopf oder nicht?“ Ich überhörte den Sarkasmus in seiner Stimme und blieb hartnäckig. „Es könnte entweder ein Stück des zweiten Ohres sein oder ein Stück eines fremden Ohres …?“

„Herr Pfarrer, bitte! Ich werde dazu nichts sagen. Auf Wiederhören!“ Er legte auf.

Erst fünf Minuten später dämmerte mir, was das bedeutete und ich musste unwillkürlich lächeln, was ich sonst selten tue, wenn ich allein bin. Es war doch sonnenklar: Wenn Wurmsen sich so zierte, mir diese einfache Frage zu beantworten, dann steckte etwas Wichtiges dahinter.

Wäre das Knorpelstück vom selben Kopf gewesen, also vom zweiten Ohr, dann hätte er es doch zugeben können. Aber weil er nicht mit der Wahrheit herausrücken wollte, blieb doch nur die andere Möglichkeit: Das war kein Unfall gewesen, wie Wurmsen mir weismachen wollte, sondern eben doch ein Verbrechen und der Knorpel musste von einem der Mörder stammen – von seinem Ohr. Vielleicht gab es vor der Sprengung einen kleinen Kampf und der Ermordete hatte, bevor er starb, dem Mörder ein Stück Ohr abgebissen. Jetzt kam es also darauf an, einen Mann zu finden, dem ein Stück Ohr fehlte.

So einfach war das. Ich fühlte eine neue Kraft in mir aufsteigen.

Ich könnte vielleicht der Mann sein, der den Mörder entdeckte und sah schon die Schlagzeilen vor mir: „Pfarrer entlarvt Bombenmann – Pfarrer W., der gerade wieder ein neues Sabbatjahr begonnen hatte, ist es gelungen, den Mörder von Hendrik Hilberg zu fassen. Mit seinem ungewöhnlichen Scharfblick …“ und so weiter.

Wurmsen konnte noch so viel auf seinen Unfall beharren, für mich war es sonnenklar, dass ein feiger Mord dahintersteckte. Davon ließ ich mich nicht mehr abbringen.

Zwei Tage später erfuhr ich durch die Zeitung, dass mein kleiner, harmloser Stein ein Meteorit war. Und ich fragte mich und auch Adelheid während des Frühstücks, wie wohl der Meteorit in meinen Garten gelangen konnte – rätselhaft.

Ein mörderisches Sabbatjahr

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