Читать книгу Ein mörderisches Sabbatjahr - Albrecht Gralle - Страница 7

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Am nächsten Morgen stand ich voller Tatendrang schon um sechs Uhr auf. Ich war vor dem Weckerklingeln hellwach und verzichtete auf einen morgendlichen Erotikmoment mit Adelheid. Aber ich fühlte, dass ich da an einer Sache dran war, die meinem Leben einen neuen Sinn geben konnte. Ich meine damit nicht, dass Erotik nicht auch irgendwie sinnvoll wäre, aber jetzt schob sich ein dringenderer innerer Auftrag dazwischen: Ich war auserwählt worden, der göttlichen Gerechtigkeit zu dienen und „Halbohr“ zu suchen und zu finden, denn ohne, dass man etwas sucht, findet man es ja auch nicht, wie es so schön in der Bergpredigt heißt.

Adelheid war positiv überrascht, als sie zwanzig Minuten später im Bademantel unsere gemütliche Wohnküche betrat und sah, dass ich das Frühstück schon bereitet hatte. Wir küssten uns etwas länger und ich verstand wieder einmal, dass die Bibel recht an, wenn es heißt: Wer die Gerechtigkeit Gottes an die erste Stelle setzt, bekommt alles andere auch noch dazu.

„Wie kommt es, dass du so früh aufgestanden bist?“, fragte meine Frau und löste sich aus der Umarmung.

In knappen Worten erzählte ich ihr von meinem Vorhaben, den Mann mit dem halben Ohr zu suchen.

„Halbohr läuft da draußen irgendwo herum“, erklärte ich ihr begeistert.

„Na, da kann ich nur hoffen, dass deine Überlegungen nicht ins Leere laufen, Dankwart“, sagte sie mit einem Lächeln.

„Weißt du“, erwiderte ich, „es ist komisch, aber ich weiß einfach, dass das der richtige Weg ist. Das fühle ich ganz tief in mir.“

„Gut. Dann weck ich mal die Kinder.“

Kurze Zeit später frühstückten wir. Als Friedrich und Frieda zur Schule gegangen waren – ich wollte nicht in ihrem Beisein von Halbohr erzählen – stellte Adelheid eine Frage, die irgendwie wegweisend klang: „Wie willst du es anstellen, Halbohr zu finden?“

„Eine gute Frage“, sagte ich, goss mir noch etwas Kaffee nach und blickte sinnend nach draußen in die erwachende Natur.

„Es wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als durch die Straßen unserer Stadt zu gehen, vielleicht mit einer Tasche in der Hand, die Beschäftigung vortäuscht, und die Augen offen zu halten.“

„Hm“, sagte Adelheid, „aber es kann doch sein, dass Halbohr inzwischen in einer ganz anderen Stadt ist.“

„Du hast natürlich recht, aber irgendwo muss ich ja anfangen. Ich kann ja schlecht eine Anzeige starten mit den Worten: ‚Fehlt auch Ihnen ein Stück Ohr? Dann melden Sie sich bei mir, Adresse und so weiter.‘“

„Aber deine Ohren sind doch noch intakt.“

„Klar, aber das weiß ja Halbohr nicht. Er denkt vielleicht, ich sei der Leiter einer Selbsthilfegruppe von Menschen, denen ein Stück Ohr fehlt. Er kommt und ich schnappe ihn mir.“

Ich schmierte mir noch schnell ein Honigbrot. Ich hatte nämlich mal in einer Esoterik-Zeitschrift gelesen, dass im Honig die Suchenergien der Bienen drinstecken und dass deshalb ein Honigbrot einem helfen kann, Dinge und Menschen zu finden.

„Wie gesagt, ich werde erst mal hier losgehen. Es wird doch immer wieder gesagt, dass es den Verbrecher an den Ort seines Verbrechens zurückzieht …“

„Dann bin ich also heute mit dem Kochen dran“, stellte Adelheid nüchtern fest. Ja, so ist sie nun mal. Sie hat die Gabe, immer gleich die praktischen Bezüge zu sehen. Gemeinsam räumten wir den Tisch ab, dann suchte ich mir bequeme Sportschuhe, weil ich heute wohl einige Kilometer zu Fuß zurücklegen würde.

Als ich das Haus schließlich verließ, dankte ich Gott im Stillen, dass es draußen warm war und die Leute nicht mit Mützen herum liefen und damit ihre Ohren bedeckten. Außerdem freute ich mich, dass ich durch meine Sabbatzeit so schön flexibel war. So griff ein Ereignis ins andere. Ich konnte nur staunen, wie Gott alles vorbereitet hatte, damit ich meinen ersten Mordfall lösen konnte.

Zunächst würde ich unauffällig den Tatort umkreisen und wenn ich Halbohr nicht traf, hatte ich mir vorgenommen, mit dem Bus in die Innenstadt zu fahren.

Also umkreiste ich mein Viertel, aber von Halbohr keine Spur. Das wäre ja auch zu schön gewesen. Mit meiner Wochenkarte fuhr ich dann in die Innenstadt. Von meinem Fensterplatz aus verschaffte ich mir schon mal einen Überblick über die Passanten auf der Straße. Als ich mich wieder den Leuten im Bus zuwandte, blieb mein Blick auf dem Gesicht eines älteren Mannes hängen, der halblange, graue Haare trug. Gerade so lang, dass sie die Ohren bedeckten. Das kam mir verdächtig vor. Aber wie könnte ich ihn dazu kriegen, die Haare zur Seite zu streichen? Er schaute in meine Richtung und ich lächelte ihn an, weil ich dachte: Gewinne das Vertrauen des Mannes, das kann nicht schaden. Ich merkte, dass er zunächst verwirrt war, aber mir dann doch ein Lächeln schenkte. Ich zwinkerte ihm zu und strich mehrmals meine Haare über die Ohren nach hinten in der Hoffnung, dass ihn diese Geste zur Nachahmung anregen würde, aber stattdessen zwinkerte er mir auch zu. Ich nahm mir vor, beim Aussteigen ins Torkeln zu geraten und rein zufällig seine Haare wegzustreifen.

Der Bus fuhr langsamer, ich stand auf und hielt mich an der Stange fest. Als der Bus dann schließlich bremste, tat ich so, als ob ich nach Halt suchte und verlor scheinbar mein Gleichgewicht. Ich torkelte gegen den grauhaarigen Mann, entschuldigte mich und ließ meine Hände über seine Ohren streifen. Ein Blick genügte und ich wusste, dass es nicht Halbohr war. Der Mann schaute mich seltsam an, und als ich ausstieg, kam er hinter mir her.

Mein Gott, er verfolgt mich. Was mach ich nur? Warum verfolgt er mich? Ich muss ihn loswerden!

Bei der nächst besten Gelegenheit verschwand ich in einem Kaufhaus und suchte nach einem guten Versteck. Lange Mäntel auf breiten Kleiderbügeln schienen mir ideal. Ich huschte nach rechts, dann nach links, tauchte in der Sportabteilung unter, schlug mich auf Umwegen wieder zur Mantelabteilung zurück, stellte mich unauffällig zwischen die Mäntel und Anzüge und konnte von da aus wunderbar alle beobachten, ohne selbst gesehen zu werden. Tatsächlich kam der Ganzohrmann vorbei und suchte mich augenscheinlich. Was wollte er bloß von mir?

Endlich ging er wieder, doch plötzlich tippte mir jemand auf die Schulter. Erschrocken drehte ich mich um.

„Guten Morgen, ich bin der Hausdetektiv“, sagte ein Herr und lächelte mir zu. Er war so groß wie ich, trug Jeans und einen Pulli, hatte sehr kurz geschnittene Haare und auf seiner Nase saß eine riesige schwarze Brille. Ich war zu verblüfft, um etwas zu sagen. Er fuhr fort: „Ich hab Sie zwar nicht dabei erwischt, wie Sie etwas gestohlen haben, aber irgendwie kommen Sie mir verdächtig vor.“

„Ja“, flüsterte ich, „ich kann Sie verstehen. Wenn ich Ihren Job hätte, wäre ich jetzt auch hier bei der Mantelabteilung und würde mit mir sprechen. Aber glauben Sie mir, ich habe nichts gestohlen, ich hab mich nur versteckt, weil mich ein Mann mit zwei vollkommen intakten Ohren verfolgt hat.“

„Ich versteh zwar nicht, was Sie damit meinen, aber ich möchte Sie bitten, die Abteilung jetzt zu verlassen, außer natürlich Sie kaufen etwas.“

„Nein, nein. Ich will nichts kaufen. Wie gesagt, ich habe mich nur versteckt, weil ein Mann …“

„… mit zwei intakten Ohren, ich weiß.“

„Ich geh schon“, sagte ich.

So schnell wie möglich ließ ich die Mäntel zurück und verließ das Kaufhaus. Im Grunde konnte ich es dem Hausdetektiv nicht verübeln, dass er den komplizierten Zusammenhang nicht gleich verstand. Ich hätte mich selbst auch nicht verstanden, wenn ich der Detektiv gewesen wäre.

Wohin sollte ich gehen? Und was wäre, wenn der Kerl aus dem Bus wieder auftauchte? Ich musste mich irgendwie unkenntlich machen. Wenn ich nur einen Hut hätte! Einen Hut, das war’s!

Ich drehte auf dem Absatz um, kehrte zurück ins Kaufhaus, winkte dem unsichtbaren Detektiv fröhlich zu, der mich bestimmt auf seinem Monitor verfolgte, und bog zur Hutabteilung ab. Irgendeinen Hut mit breiter Krempe brauchte ich und entdeckte einen wunderbaren Humphry-Bogard-Hut. Leider kostete er sechsundfünfzig Euro. Ich zögerte kurz, dann zuckte ich mit den Schultern. Schließlich war das eine Lebensanschaffung und diente einem guten Zweck, dann durfte er auch etwas mehr kosten.

Wenn ich jetzt noch einen dazu passenden Popeline-Mantel hätte, wäre mein Outfit perfekt gewesen. Doch ich wollte nicht schon wieder in die Mantelabteilung, das würde meinen Freund, den Hausdetektiv, vielleicht provozieren. Also entschloss ich mich kurzfristig gegen den Mantel und verließ das Kaufhaus. Als ich durch die Tür hinaustrat, fing es plötzlich an zu piepen. Merkwürdig. Eine Verkäuferin kam hinter mir her und sagte in leicht ärgerlichem Ton. „Sie haben etwas mitgenommen und nicht bezahlt.“

Ich erschrak. Natürlich, der Hut!

„Das tut mir schrecklich Leid, aber ich hatte den Hut vollkommen vergessen …“

„Ja, das sagen alle“, schnaubte sie. Wir gingen in das Kaufhaus zurück. Die Leute starrten mich an, als sei ich ein Schwerverbrecher.

Der Hausdetektiv mit seiner monströsen Brille wartete bereits grinsend auf mich.

„Wir kennen uns doch“, sagte er sarkastisch. „Wie sagten Sie so schön: Ich wollte mich nur verstecken …“

„Hören Sie“, allmählich verlor ich die Geduld, „ich bin Pfarrer und habe mein Lebtag noch nichts gestohlen. Ich widme mich der göttlichen Gerechtigkeit und suche einen Mörder. Dass ich den Hut mitgenommen habe, WAR AUS VERSEHEN!!! ICH BRAUCHTE DIESEN HUT, WEIL ICH VERFOLGT WERDE UND ZWAR …“

„… von einem Mann mit zwei völlig intakten Ohren. Ja, das kennen wir schon. Haben Sie einen Ausweis, der belegt, dass Sie Pastor sind? Oder wohnen Sie vielleicht in der Psychiatrie?“

„Es gibt keinen Ausweis, in dem steht, dass ich Pastor bin, aber ich habe zu Hause meine Ordinationsurkunde und …“

Der Detektiv hob die Hand. Ich schwieg.

„Ich muss mal kurz nachdenken“, sagte er. Und während er dachte, warteten wir: Die Verkäuferin, der Detektiv und ich. Dieses Warten, weil jemand nachdenkt, machte auf mich einen starken Eindruck und ich nahm mir vor, wenn ich überhaupt je wieder predigen sollte, mitten in der Predigt auch diesen Satz zu sagen: Ich denke mal kurz nach.

Der Detektiv räusperte sich und sagte: „Würden Sie den Hut bezahlen?“

„Selbstverständlich“, sagte ich und griff nach meinem Portemonnaie.

„Also irgendwie passen Sie nicht so richtig in ein Täterprofil“, sagte Schwarzbrille schließlich nachdenklich und kratzte sich an seinem Dreitagebart. „Ich werde aus Ihnen nicht so richtig schlau. Für einen Pastor sind Sie irgendwie genügend weltfremd, das passt. Aber dieser Hut und der Verfolgungswahn passt wieder nicht. Zwischendurch reden Sie ganz vernünftig. Ich denke, wir lassen es dabei, wenn Sie den Hut bezahlen. Alles andere wird mir zu kompliziert.“

Mit hochrotem Kopf stand ich schließlich an der Kasse. Natürlich hatten die meisten Kunden meinen kleinen Auftritt mitbekommen. Ich zahlte, setzte den Hut auf, zog ihn tief ins Gesicht und entfernte mich so unauffällig wie möglich.

Ein mörderisches Sabbatjahr

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