Читать книгу Ein mörderisches Sabbatjahr - Albrecht Gralle - Страница 8

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Es ist erstaunlich, wie Leute reagieren, wenn man ihnen auf der Straße direkt in die Augen schaut und in meinem Fall natürlich auf die Ohren. Manche lächelten mich an, andere zogen misstrauisch die Augenbrauen zusammen. Wieder andere griffen nach ihren Ohren, als ob sie befürchteten, da hinge irgendetwas dran, was da nicht hingehört.

Überall kamen mir Leute mit völlig intakten Ohrmuscheln entgegen und ich stellte fest, wie unterschiedlich der Schöpfer die Ohren geschaffen hatte. Einige ältere Männer trugen riesige Exemplare spazieren. Das wäre mir sonst nie aufgefallen. Manchmal stellte ich mich extra irgendwo an, um meine Ohrstudien noch intensiver gestalten zu können. Dabei kam mir ein furchtbarer Gedanke: Was wäre, wenn Halbohr sich das fehlende Stück aus Plastik angeklebt hätte? Eine Ohrprothese? Von weitem hätte ich das nicht erkennen können.

Gerade stand ich in einer Schlange, die sich vor einer Eisbude gebildet hatte. Vor mir sah ich eine füllige Frau mit Kurzhaarschnitt um die sechzig. Ich blickte routinemäßig auf ihre Ohren und stutzte. Das rechte Ohr sah an einer Stelle etwas heller aus als der Rest des Ohrknorpels.

Das Honigbrot vom Morgen tat nun seine Wirkung.

Ich war bisher still schweigend davon ausgegangen, dass Halbohr ein Mann war, aber genau wusste ich es ja nicht. Auch Frauen können zu Mörderinnen werden, wenn man ihnen zum Beispiel ihre Handtasche klaut. Eine Handtasche ist ja für eine Frau viel mehr als nur ein Stück ausgebeultes Leder, in das man alltägliche Dinge hineintut. Das habe ich von Adelheid und ihren Freundinnen gelernt. Jedenfalls, dieses helle Ohrteil musste getestet werden. Aber wie? Ich konnte ja schlecht das helle Stück Ohr packen und daran ziehen. Das hätte man als gefährliche Sexismusattacke auslegen können. Heutzutage muss man als Mann ja vorsichtig sein. Auf keinen Fall durfte man beispielsweise einer Frau auf ihr Dekolleté starren, außer, wenn sie das will, aber das weiß man ja vorher nicht. Jedenfalls musste ich bei den Ohren sensibel vorgehen, denn man weiß ja aus Filmen, wie erotisch Ohren sein können.

Auf der anderen Seite aber irgendwie auch wieder nicht, wenn ich zum Beispiel an die Ohren von Opa Emil denke, aus deren Innerem riesige Haarbüschel heraus wuchsen. Die waren eher nicht erotisch.

Da kam mir ein genialer Gedanke. Ich kaufte mir eine Tüte Eis und folgte der Frau mit dem Plastikohr. Dann setzte ich wieder meine effektive Stolperattacke ein und ließ meine Eistüte gegen das Plastikohr der Frau klatschen.

Erschrocken drehte sie sich um und starrte mich an.

„Oh“, sagte ich völlig aufgelöst, „entschuldigen Sie, ich bin gestolpert. Ich mach das schnell weg.“

Und bevor die Weißhaarige etwas unternehmen konnte, griff ich nach der Eiscreme an ihrem Ohr und zog herzhaft an dem helleren Stück. Aber das Plastikteil, wenn es überhaupt Plastik war, hielt. Nur das Eis tropfte auf den Boden.

„Hören Sie sofort auf, an meinem Ohr zu ziehen, Sie Flegel!“, empörte sich die Dame und holte mit ihrer Handtasche aus, die mich in voller Breite traf.

Ich duckte mich zu spät, murmelte eine Entschuldigung und entfernte mich unauffällig. Aber eines hatte ich erreicht: Das hellere Stück Ohr bestand nicht aus Plastik, sondern war offenbar echt.


In einem dunklen Hauseingang leckte ich die letzten Eisreste aus meiner Waffel. Man muss bei diesem Auftrag eben Opfer bringen.

Es war zwar richtig, dass Halbohr theoretisch auch eine Frau sein könnte, aber ich verwarf den Gedanken sofort wieder. Das würde ja bedeuten, dass alle langhaarigen Frauen potenzielle Mörderinnen waren. Ich beschloss also, mich nur auf Männer zu konzentrieren. Intuitiv wusste ich einfach, dass Halbohr ein Mann war – Halbohrin hörte sich auch einfach nicht so gut an.

Ich schlenderte weiter durch die Fußgängerzone und hielt meine Augen offen, bis ich plötzlich hellwach wurde. Mir kam gerade ein junger Mann entgegen, der irgendwie arabisch aussah. Ich hatte damals in meinem ersten Sabbatjahr, als ich in Casablanca einen Zwischenstopp einlegte, gute Erfahrungen mit solchen Leuten gemacht und erinnerte mich an einen von ihnen, der ständig auf einem Teppich gekniet und unter der Bank etwas gesucht hatte, aber man weiß nie. Ich dachte an New York und an die Twintowers. Was mich bei dem Mann stutzig machte, waren seine riesigen Kopfhörer, die er trug. Die meisten Leute haben doch heutzutage eher so einen Knopf im Ohr und tragen schon lange nicht mehr diese Monsterhörer. Das war schon mal verdächtig.

Diesmal – so dachte ich zumindest – würde es einfach sein, an seine Ohren zu gelangen. Ich musste ihn nur anhalten und leise etwas sagen, dann würde er von selbst die Kopfhörer abnehmen.

Also drehte ich mich um, ging hinter ihm her, tippte ihm auf die Schulter und fragte ihn leise nach dem Bahnhof. Tatsächlich hielt er an und drehte sich auch zu mir um, aber er lüftete leider nur die rechte Seite seines Kopfhörers.

Während er mir den Weg zum Bahnhof zeigte, erkannte ich, dass zumindest dieses Ohr völlig intakt war! Wie aber konnte ich an sein linkes Ohr gelangen? Mist! Hätte er nicht einfach den ganzen Kopfhörer abnehmen können? Hektisch suchte ich nach einer Lösung. Die Eismethode fiel aus, denn das hatte ich ja aufgegessen, das Torkeln ging auch nicht, denn ich fuhr ja nicht im Bus, also blieb mir nur eins übrig.

„Ach, Sie meinten diesen Weg?“, rief ich und hob dazu schwungvoll meinen Arm, um in die angedeutete Richtung zu zeigen, dabei versetzte ich dem Mann einen Haken, der leider etwas härter ausfiel, als ich das gedacht hatte (man macht so was ja auch nicht jeden Tag) und leider fiel nicht nur der Kopfhörer zu Boden, sondern der nette Araber gleich mit.

Warum müssen Menschen immer gleich losschreien, wenn so etwas passiert? Seine arabischen Beschimpfungen konnte ich leider nicht verstehen, als er mühsam wieder aufstand, sein Kinn rieb und mir seinen kaputten Kopfhörer unter die Nase hielt. Aber als ich ihm einen fünfzig Euroschein zusteckte und mein Bedauern beteuerte, registrierte ich zumindest mit Zufriedenheit, dass auch sein linkes Ohr völlig intakt war.

Genau besehen sind arabisch aussehende Leute im Grunde Menschen wie du und ich, sagte ich mir. Und stammte nicht die Märchensammlung Tausendundeine Nacht aus den arabischen Ländern? Auch die Gitarre hatte sich aus dem arabisch beeinflussten Spanien verbreitet. Wir verdanken den Arabern den Mokka, die Wasserpfeife, die Arabesken und die arabischen Pferde, wahrscheinlich auch das Adjektiv rabiat. Meine Güte, der junge Mann, der völlig intakte Ohren hatte, konnte doch nichts dafür, dass ein paar Verrückte durch die Twintowers geflogen waren. Im Grunde sah Jesus, als er die Sache auf der Erde durchgezogen hat, auch eher wie ein Araber aus als wie jemand aus Leer, Duisburg oder München.

Jedenfalls bedankte ich mich noch einmal überschwänglich bei ihm und schlug dann schnellstens den Weg zum Bahnhof ein. Nach einer Weile drehte ich mich jedoch wieder um und kehrte in die Altstadt zurück. Mir wurde warm unter meinem Hut. Ich griff danach und lüftete ihn. Ein Fehler, wie sich herausstellen sollte.

„Hallo! Da bist du ja!“, rief eine Stimme und jemand legte mir eine Hand auf die Schulter.

Ich drehte mich um und erstarrte: Vor mir stand der Mann aus dem Bus, dem ich zugezwinkert hatte und vor dem ich geflohen war. Was wollte der bloß von mir?

„Mit Hut hätte ich dich gar nicht erkannt“, sagte er irgendwie verwegen und fügte dann hinzu, „ich finde dich auch ohne gut!“.

Wahrscheinlich war er lediglich einsam und suchte Kontakt. Vermutlich fuhr er den ganzen Tag im Bus hin und her, ohne dass jemand ihn bemerkte und dann kam ich und hatte ihn angelächelt. Das muss für ihn so schön gewesen sein, dass er einfach in meiner Nähe sein wollte. Was sollte ich tun? Sollte ich so einen armen Mann zurückstoßen? Nein! Das wollte ich nicht. Er brauchte die Gesellschaft eines freundlichen, aufgeschlossenen Mannes, jemanden wie mich.

„Ich lade Sie zu einer Tasse Kaffee ein. Wollen Sie?“

Er nickte begeistert. Wir suchten ein Café, setzten uns an einen freien Tisch und bestellten die Getränke.

Er erzählte von zu Hause, dass er ein Einzelkind sei und eine wunderbare Mutter gehabt habe. Seinen Vater habe er leider kaum gesehen. Er sei schon früh weggezogen.

Er, also mein Ganzohrmann, hatte dann geheiratet, aber er konnte auf Dauer mit seiner Frau nichts anfangen und hatte sich wieder scheiden lassen.

„Dann haben Sie wohl sehr lange allein gelebt?“

„O nein“, sagte er, „ich habe mich immer in Männer-WGs wohlgefühlt.“ Dabei zwinkerte er wieder mit einem Auge. Wahrscheinlich ein nervöser Tick, dachte ich.

„Ich habe mich so gefreut, dich im Bus zu treffen“, sagte er plötzlich, „und dann warst du plötzlich verschwunden.“

Seltsam, dachte ich, ich kann mich gar nicht erinnern, ihm das Du angeboten zu haben. Mir wurde unbehaglich zumute. Und als er einfach nicht mit dem Zwinkern aufhören wollte, stand ich eilends auf und sagte: „Leider muss ich jetzt dringend los! Man sieht sich.“ Ich legte zehn Euro auf den Tisch und verließ fluchtartig das Café.

Verduzt starrte Ganzohr mir nach und blieb mit offenem Mund sitzen, was ehrlich gesagt etwas bescheuert aussah. Ich erwischte gerade noch den richtigen Bus und fuhr nach Hause.

Abends erzählte ich dann Adelheid alles, besonders das merkwürdige Verhalten von Ganzohr.

Adelheid sah mich an und meinte nur: „Dankwart, der Mann war schwul und du hast ihn im Bus angemacht. Er dachte, dass du etwas mit ihm anfangen wolltest.“

„Was?“

„Ja, natürlich. Du hast ihn angelächelt, ihm zugezwinkert und ihm dann beim Stolpern über sein Ohr gestrichen. Deutlichere Signale gibt es nicht.“

Ich war geplättet. Aber es war die Lösung des Rätsels. Jetzt passte alles zusammen. Ich bewunderte Adelheid für ihren Scharfblick. Zwar hatte ich an diesem Tag nicht viel erreicht, aber viel erlebt. Morgen würde ich systematischer vorgehen, nahm ich mir vor, und bei Männern würde ich mich etwas vorsichtiger verhalten und bei Frauen auch – in schmerzhafter Erinnerung an die Handtasche der Eisfrau.

Dass der nächste Tag völlig anders verlaufen sollte, hätte ich nie gedacht.

Ein mörderisches Sabbatjahr

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