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Niklas blinzelte gegen die Sonne, als er den Zweig zu sich herüberzog. Tatsächlich! Er hatte sich nicht getäuscht. Es war ein Maikäfer. Jahrelang hatte er keine Maikäfer mehr gesehen. Er musste unwillkürlich lächeln, als er sah, wie der Käfer, der wohl die Bewegung gespürt hatte, sich bemühte fortzukrabbeln. Plötzlich hielt er inne und Niklas beobachtete, wie er die eingeklappten Flügel rhythmisch bewegte.

»Gleich fliegt er weg«, murmelte er und er erinnerte sich an warme Maiabende, an denen er mit dem Federballschläger Maikäfer zu Boden geschlagen hatte, um sie hinterher einzusammeln und in einen Schuhkarton zu stecken, einen Schuhkarton mit Luftlöchern und frischen Kirschbaumblättern.

Es waren seine Maikäfer, die er mit sich herumtrug und mit den Käfern seiner Freunde verglich, die ebenfalls einen Maikäferzoo angelegt hatten. Und wie es in dem Karton summte und brummte. Herrlich!

Ab und zu entwischte einer der Käfer und mit der Zeit begann es, in dem Zoo aus Pappe zu stinken. Dann öffnete er die Schachtel und beobachtete, wie die Käfer in die Freiheit krabbelten und schwerfällig durch die Mailuft torkelten, als hätten sie ein paar Fingerhüte zu viel Maibowle getrunken. Es waren liebenswerte Burschen gewesen, gutmütig, etwas plump, aber doch irgendwie stylisch, mit ihren braunweißen Zacken am Unterleib. In den folgenden Jahren waren sie dann irgendwie alle verschwunden und existierten nur noch in seiner Erinnerung.

Jetzt war einer wieder da. Und es war wie ein Willkommensgruß, als würde der Maikäfer brummen: »He! Wieder zurück in Deutschland, was? Wir haben dich vermisst und deine guten Kirschbaumblätter …«

»Was machst du da eigentlich, Niklas?« Die Stimme seiner Schwester. Er blickte in ihre Richtung und sah ihr Gesicht im Dachfenster wie in einem Bilderrahmen.

»Du stehst so da und starrst in die Weite! Hast du Heimweh nach Kanada?«

»Ich beobachte einen Maikäfer.«

»Maikäfer? Es gibt Maikäfer?«

»Ja. Soll ich dir einen fangen?«

»Nein! Lass ihn! Ich hab sie schon als Kind nie gemocht und deine Maikäfersammlung damals war eklig. Kannst du mir mal mit dem Notebook helfen? Ich komme einfach nicht ins Internet!«

Niklas nickte: »Ich komme.«

Es war ungewohnt, nach so vielen Jahren wieder den großen Bruder zu spielen, obwohl sie beide erwachsen waren. Und erst seine Nichten! Irgendwie süß. Bis jetzt jedenfalls. Noch waren sie im Kindergarten.

Er ging über die Terrasse durchs Wohnzimmer und roch aus der offenen Küche, was es zum Mittagessen gab: Königsberger Klopse. Diese Duftmischung aus Kapern, saurer Sahne und gekochtem Hack! Er hatte versucht, das Gericht selbst zu kochen, während seiner Zeit in Vancouver, aber ganz war ihm der Geschmack, den er aus der Kinderzeit kannte, nicht geglückt.

Im Zimmer seiner Schwester hatte die Frühlingssonne schon eine gewisse Stärke entwickelt, obwohl das Dachfenster gekippt war.

»Mann! Hier oben ist es richtig schwül«, bemerkte Niklas.

»Das fühlt sich nur so an, weil du die Treppen hochgerannt bist.«

»Lass mal sehen«, sagte er und klickte sich durch die Einstellungen, »ah, hier haben wir den Fehler.«

Er tippte ein paar Tasten, drückte auf Okay und meinte: »Jetzt müsste es gehen.«

Der Browser öffnete sich.

»Wunderbar, wenn man einen großen Bruder mit Ahnung hat«, sagte Merit und drückte ihrem großen Bruder einen Kuss auf die Stirn.

»Na ja, dein Ben hätte es wahrscheinlich auch hingekriegt.«

»Kann sein, aber mein Ben ist jetzt nicht da.«

Niklas wollte schon gehen, da sah er aus den Augenwinkeln was für eine Homepage Merit öffnete und blieb verdutzt stehen.

»Du willst doch nicht im Ernst für mich …«, hob er an und starrte auf die Seite einer Partnervermittlung.

»Warum nicht? Heh! Ein Mann in deinem Alter braucht eine feste Beziehung. Das ist doch klar.«

»Wie du weißt, habe ich gerade eine hinter mir und brauche alles andere als eine neue. Ich brauche Abstand.«

»Ja, klar, aber es ist doch immer interessant zu wissen, wie dein Marktwert so ist, oder? Du bist ein Mann in den besten Jahren, die Frauen werden verrückt nach dir sein. Außerdem ist es völlig unverbindlich. Du musst dich ja nicht gleich mit einer dieser Damen treffen. Zumindest könntest du – völlig unverbindlich – ihre Profile mal ansehen.«

»Merit!« Niklas schüttelte mit gespielter Verzweiflung den Kopf. »Du kannst es nicht lassen.«

Sie drehte sich auf ihrem Stuhl herum und betrachtete ihren großen Bruder: sein markantes Profil und seine Schläfen, die sich schon grau färbten.

»Es wäre ein Verbrechen, dich unbeweibt zu lassen und wie du mit deinen Nichten umgegangen bist – der geborene Vater. Man sollte nicht zu lange warten!«

»Ach was! Deine Töchter sind ja auch leicht zu beeindrucken. Eine kleine, witzige Geschichte und sie hängen einem an den Lippen.«

»Aber auf die kleine witzige Geschichte muss man erst mal kommen.«

Sie drehte sich wieder zum Bildschirm. »Hier!«, rief sie. »Wie findest du die?«

»Lass mal sehen. Hm, dunkelhaarige Schönheit, Ende zwanzig. Kommunikationsdesign, spielt Klarinette, liest gerne Biographien, schwärmt für mediterrane Landschaften, Kinderwunsch nicht ausgeschlossen. Der Mann sollte verständnisvoll sein, Humor haben, eigene Ziele …«

»Also kein langweiliger Ja-Sager«, warf Merit dazwischen.

»… etwas sportlich.«

»Also keinen Hängebauch.«

»Musik mögen…«, fuhr er fort.

»Du spielst Klavier, dann könntest du sie begleiten, wenn sie Klarinette …«

»Legt Wert auf Treue.«

»Passt absolut. Du bist nicht der Casanova-Typ, der mit der nächstbesten …«

»Merit, bitte! Vielleicht kannst du das nicht verstehen, aber ich bin im Augenblick absolut nicht unglücklich darüber, allein zu sein, nicht alles abstimmen zu müssen, in Ruhe meine Einrichtung auszusuchen, nachts um zwei nach Hause zu kommen, ohne etwas erklären zu müssen. Oder an einem Sommerabend auf dem Balkon zu übernachten …«

»… und sich die Spinnen über das Gesicht krabbeln zu lassen?«

»Ja, oder sich die Spinnen übers Gesicht krabbeln zu lassen. Sie sind nicht giftig. Oder durch den Wald zu streifen … «

»Ja, ja, du bist in deinem Herzen ein Indianer geblieben. Der einsame Jäger auf der Jagd nach …«

»…Büffeln.«

»… Frauenherzen.«

»Quatsch!«

»Irgendwo gibt es doch noch dein Faschingskostüm, das Lederhemd mit den Fransen.«

»Und meinen selbst gebastelten Federschmuck!«

»Lang ist’s her. Und du genießt dein Alleinsein wirklich?«

»Wirklich.«

»Für mich wäre das der Alptraum. Ich glaube, ich würde eine Panikbeziehung anfangen, wenn ich allein wäre. Und was ist mit Erotik, Sex?«

Niklas blickte seine Schwester an und schüttelte den Kopf. »Meine Güte, ich bin kein Hirsch in der Brunftzeit, der rein Pheromon gesteuert ist! Es geht eine Zeit lang auch mal ohne!«

Von unten erklang ein regelmäßiger Piepton.

»Die Klopse sind fertig.«

Merit stand auf, ließ aber das Notebook auf und sagte: »Sublimierung klappt nicht immer. Schau dir nur unseren Pfarrer Anselm an.« Sie wandte sich lachend zur Tür: »Ich mach mich an die Kartoffeln. Könntest du deine Nichten vom Kindergarten abholen?«

»Klar! Kann ich. Soll ich sie auch abholen?«

»Merit blieb stehen. »Aber das hab ich dich doch gerade gefragt!«

»Du hast mich nur gefragt, ob ich das könnte, ob ich dazu in der Lage bin. Und ich sagte: Ja, ich bin dazu in der Lage.« Er grinste.

»Please, bring them to my house!«, befahl Merit und lächelte ebenfalls.

»Okay. Bis gleich.«

Als Merit gegangen war, blieb Niklas noch stehen und sah sich eine andere Anzeige auf dem leuchtenden Bildschirm an. Auch an dieser Frau war im Grunde nichts auszusetzen: gut aussehend, diesmal blond, breite Interessen, gebildet, finanziell unabhängig … aber sie brauchte einen Partner für ihr vielfältiges Freizeitprogramm. Ein Mann zur Unterhaltung, mit dem sie sich zeigen lassen konnte.

»Im Grunde«, murmelte Niklas, »braucht sie keinen Mann, das kann sie auch alles mit einer Freundin machen.«

Er seufzte und verließ den Raum. Unten im Flur griff er nach dem Autoschlüssel und ging zum Carport.

Mag Mediterrane Landschaften, kein Ja-Sager, Kinderwunsch nicht ausgeschlossen, sportlich, musikalisch …

»Man kommt sich vor wie auf einem Viehmarkt«, brummelte er und startete den Golf.

Der Kindergarten lag fünf Autominuten vom Haus seiner Schwester entfernt. Als er ankam, stauten sich schon die Wagen. Ein roter Toyota fuhr eben los, und Niklas schob sich in die Parklücke.

Von überall her kamen ihm Erwachsene mit Kindern entgegen. Vergeblich schaute er sich nach seinen Nichten um.

»Wen suchen Sie denn?«, fragte eine der Erzieherinnen, die sich in einem Sommerkleid und bunter Ringelstrumpf-Leggins präsentierte. Eine zu groß geratene Pippi Langstrumpf, aber irgendwie niedlich.

»Kaja und Emma.«

Sie stutzte kurz. »Sie sind aber nicht der Vater, oder?«

»Nein, ich bin der Onkel, der Bruder der Mutter.«

Sie bedachte Niklas mit einem zweiten Blick und lächelte. Niklas grinste sie an.

»Ich glaube«, sagte sie, »dass sie noch draußen sind. Ich komm mal mit.«

»Nicht nötig, ich werd wohl meine eigenen Nichten erkennen«, meinte Niklas.

»Ach wissen Sie, ich möchte sicher sein, dass Ihre Nichten Sie auch erkennen. Wir haben unsere Anweisungen. Könnte ja jeder sagen: Ich bin der Onkel.«

»Ach so« Niklas nickte. »Verstehe!«

»Da sind sie«, sagte Ringelstrumpf und rief: »Kaja, Emma!«

Die Mädchen, die noch auf der Wippe saßen, blickten auf, erkannten Niklas und liefen begeistert auf ihn zu: »Onkel Niklas!«

»Na, dann ist ja alles klar, Onkel Niklas«, lachte die Erzieherin, »bis morgen!«

»Mal sehen!« Er versuchte einen Blick auf die Hände von Ringelstrumpf zu erhaschen. Soweit er erkennen konnte, trug sie keinen Ring. Obwohl das ja nichts zu sagen hatte.

Wie war das noch? Ich brauche Abstand und bin an keiner Beziehung interessiert?

Als er Kaja und Emma in ihren Sitzen verstaut und angeschnallt hatte, warf er noch einmal einen Blick zum Kindergarten hinüber. War das dort am Fenster nicht eben Ringelstrumpf gewesen, die nette Erzieherin? Sie hatte sich abrupt vom Fenster abgewandt, so, als wollte sie nicht, dass er sie bemerkt.

»Wie heißt denn die Frau mit den Ringelstrümpfen?«, fragte Niklas.

»Nora! Das weiß doch jeder«, sagte Emma. »Was gibt’s denn zum Mittagessen?«

»Königsberger Klopse.«

»Klopse, komischer Name«, meinte Kaja, »hört sich an wie bekloppt.«

»Schmeckt aber gut. Das ist mein Lieblingsessen!« Niklas startete und fuhr los.

Es schmeckte tatsächlich wie früher. Seine Schwester war eine gute Köchin.

Kaja aß aufreizend langsam. »Das schmeckt komisch faulig und sauer.«

Merit seufzte. »Das sind Kapern.«

»Meinst du die kleinen verfaulten Erbsen?«

»Das sind keine Erbsen, das sind …«

»… Kapern, ich weiß.«

»Los! Eine Kartoffel noch, den Rest …«

»Den Rest isst Niklas«, sagte Niklas, »ich hab mich in Kanada nach dem Zeug gesehnt.«

Merit blickte ihn zweifelnd an: »Aber da gibt’s doch auch Deutsche Küche, oder? Bei den vielen deutschen Auswanderern?«

»Die haben entweder süddeutsche Gerichte drauf, also Klöße und Sauerkraut, Weißwurst, Brezeln oder aber norddeutsches Essen, aber nicht das hier.«

»Armer Niklas.«

»Warum ist denn Tante Angela nicht da?« Emma blickte von ihrem Teller auf.

»Wie das klingt: Tante Angela und Onkel Niklas«, sagte Niklas kopfschüttelnd. »Hast du ihnen das beigebracht, Merit?«

»Sie haben mich gefragt, was du genau bist und da hab ich gesagt, dass du ihr Onkel bist.«

»Was ist denn nun mit Tante Angela?«

»Was soll sein?«, antwortete Niklas. »Wir waren verheiratet und haben uns irgendwann nicht mehr verstanden und uns nur angenervt und dann haben wir uns getrennt.«

»Aber Mama und Papa nerven sich auch manchmal an.«

»Emma!« Merits strenger Blick fixierte ihre Tochter.

Niklas grinste: »Interessant.«

»Das ist etwas ganz Anderes!« Merits Stimme war dünn. »Ja, wir nerven uns manchmal, aber lieben uns trotzdem und bei Niklas und Angela war es eben anders.«

»Aber nerven tut ihr euch doch.« Emma blickte ihre Mutter herausfordernd an.

»Du nervst mich auch«, sagte Merit, »und trotzdem jage ich dich nicht aus dem Haus.«

»Hat denn Tante Angela Onkel Niklas aus dem Haus…?«

»Lass doch dieses blöde Tante und Onkel weg«, unterbrach Niklas sie, »niemand hat irgendjemand aus dem Haus gejagt. Ich erklär’s euch später mal genauer. Und – was eure Mutter gesagt hat, stimmt. Wenn sich eure Eltern mal nerven, ist das ein ganz anderes Nerven. Es gibt nämlich mindestens … ähm … vier verschiedene Nervarten.«

»Wirklich?«

Merit und Emma blickten Niklas gleichzeitig so interessiert an, dass Niklas lachen musste.

»Nervstufe eins: Deine Stimme geht mir auf die Nerven. Kannst du mal fünf Minuten still sein? Nervstufe zwei: Du hörst mir gar nicht mehr zu! Dann sag doch gleich, dass ich dich anöde. Nervstufe drei: Noch ein Wort in dieser Angelegenheit und ich schreie. Nervstufe vier: Ich will dich eine Zeit lang nicht mehr sehen

»Und welche Stufe sind Mama und Papa?«, fragte Emma.

»Na ja, ich war ja beim Nerven nicht dabei, aber so wie ich eure Mutter kenne …«

»Pass auf, was du jetzt sagst«, unterbrach ihn Merit.

»Also, so, wie ich eure Mutter kenne ist das Nervstufe eins Komma fünf.«

»Und Ta … Angela und du?«

»Wir waren bei zehn!«

»Es gibt Nachtisch«, sagte Merit, bevor die Mädchen weiter nachbohren konnten, »räumt die Teller zusammen.«

»Was gibt’s denn?«

»Geröstete Maikäfer mit Blätterschleim«, erwiderte Niklas.

Seine Nichten drehten gemeinsam ihre Augen nach oben. »Ha ha«, sagte Kaja.

»Was sind denn Maikäfer?«, wollte Emma wissen.

»Die sind ganz niedlich, ein bisschen größer als Marienkäfer und braunweiß. Als Kinder haben wir die immer gefangen.«

»Es gibt Apfelmus mit Schlagsahne«, würgte Merit ihn ab.

Geraubtes Herz

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