Читать книгу Die Frechheit nehm ich mir! - Albrecht Mäzen - Страница 10
Оглавление5. Bettelkunst
„Ich will erst etwas zu essen kriegen!“, sagte Zeta.
„Wie oft“, ging Peter auf die nach zig Begegnungen zwischen den beiden eingespielte Kommunikation ein, „soll ich darauf reinfallen, dich mit Imbissfraß gesprächiger machen zu können?“
„Vielleicht will ich nichts von mir erzählen.“
„Dein Alter tickt da für gewöhnlich anders. Nun, wenn nicht von dir, dann vielleicht von jemand anderem? Kennst du die Seelsorgerin Dolores?“
„Wen?“, fragte Zeta.
„Die Dolores“, erklärte Peter, „trägt Unmengen Kleidungsstücke, schichtweise übereinander, sogar eine Schwimmbrille, zur Vorbeugung von Bindehautentzündung. Oft steht sie im Gebläseausgang des Innenstadt-Kaufhauses. Zwiebelfrau wird sie auch genannt. Kennst du sie?“
„Ach, die Zwiwwelfrau meinst du, sag das doch gleich! Was ist mir ihr?“
„Ach nichts, Urgestein eines kirchlichen Wohlfahrtsverbands war sie und ein Unikat von Streetworkerin. Mit Zusammenlegung der Verbände hat sie die Arbeit beendet.“
Zeta entsann sich eines vergangenen Gesprächs.
„Ich“, sagte Zeta, „erinnere mich nur an Wortfetzen zu Schwüren auf eine Ordnung, die sie niemals abzulegen bereit wäre.“
„Mehr nicht?“, fragte Peter.
„Kennst du das Gebläse? Gekoppelt mit alternden Ohren erlaubt das kein Gespräch. Was interessiert die dich, bist du in sie verschossen?“
„Nein“, antwortete Peter, „das nicht, nur umfasst mein Job alle wohnungslosen Schäfchen. Apropos: Deine Skills sind grottig, heute paukst du das Einmaleins des Bettelns!“
„Hmpf“, äußerte Zeta.
„Keine Widerworte, was darf’s sein?“
„Meinetwegen, Dönerteller!“
*
Zeta setzte sich gesättigt auf seine Pappkartons. Gegen die Wand seiner Unterführung gelehnt, plapperte er das soeben Eingetrichterte nach: „1. Segmentieren: den Markt in Teilbereiche untergliedern, 2. Targetieren: auswählen bestimmter Teilbereiche, 3. Positionieren: der getroffenen Auswahl passende Angebote unterbreiten.“ Dabei begutachtete er die vorbeiziehenden Städter.
Als ein Mann mit in Großbuchstaben auf seinem T-Shirt aufgedrucktem „I want to believe“ -Schriftzug die Unterführung passierte, startete Zeta sein Programm.
„Erstens“, sagte er und zog durch direkte Ansprache die Aufmerksamkeit des Mannes auf sich.
„Zweitens“, sagte Zeta, diesmal ohne Blickkontakt zum Mann und nur zu sich selbst gesprochen.
„Drittens“, nahm Zeta den Blickkontakt zum Mann wieder auf.
Zeta fing wieder mit „Erstens“ an – diesmal ohne Blickkontakt zum T-Shirt-Träger – und fuhr so weiter fort.
Der Mann näherte sich vorsichtig Zeta und ging vor ihm in die Hocke: „Ist mit Ihnen alles in Ordnung? Benötigen Sie Hilfe?“
Zeta riss die Augen auf und teilte dem Mann seine Nöte mit: „Junger Herr, können Sie sich das vorstellen! Grüne Marsmännchen – ganz in grün – haben mir meine nigelnagelneue 20-Euro-Note geklaut. Gestern, als ich hier im Schlafe lag! Können Sie sich das vorstellen?“
Der Mann zog sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche. Er schaute in das Scheinfach.
„20 Euro dürfte knapp werden. So, da ist noch ein kleiner Grüner. Den brauche ich.“
Er öffnete das Münzfach und zählte daraus in seine Handfläche ab.
„Ein Euro, zwei Euro, vier, sechs, sechs fünfzig, sieben Euro fünfzig.“
Der Mann stand auf und überlegte: „Warte mal!“
Er durchkramte eine vordere Hosentasche und zog daraus einen zerknitterten 10-Euro-Schein hervor.
„Die andere auch!“, zeigte Zeta mit seinem hervorgezückten Becher in der Hand an. Der Mann betastete von außen die andere Hosentasche.
„Da ist nichts! Mehr ist nicht drin!“
Der Mann gab die 17,50 Euro in den Becher.
„Die andere auch!“, wiederholte Zeta forsch.
„Da ist nichts“, wehrte der Mann ab, „da mache ich nie was rein!“
„Willst du mich schauen lassen“, drängte Zeta, „oder lieber selbst schauen?“
Der Mann fingerte tief in der anderen Vordertasche.
„Wahnsinn!“, rief er aus. „Die haben sich in Sicherheit gebeamt! Hier, schauen Sie!“, womit er Münzen hervorbrachte.
Begeistert zählte der Mann gemeinsam mit Zeta den Zufallsfund Münze um Münze zum Vorbetrag in den Becher hinzu.
„17,70 Euro, 18,20 Euro, 18,30 … 35 … 36!“, jubelten sie zusammen.
„Saustark!“, gratulierte der Mann. „18 Euro 36 Cent! Passen Sie gut darauf auf!“
„Schon gut, schon gut“, sagte Zeta. „Ich werde sie verstecken, die finden sie nicht.“
Der Mann ging.
„Der hat keine Tassen mehr im Schrank“, grunzte Zeta zufrieden und steckte das Bechergeld flugs in die eigene Tasche. Ohne Zeit zu verlieren, verabschiedete sich Zeta von der Unterführung Richtung Bahnhofsviertel.
*
Aufgerundet 19 Minuten später näherten sich schwerfällige Schritte der Unterführung, die sich träge verlangsamten. Mit dem Aussetzen der Schritte war ein angestrengtes Ausatmen vernehmbar, das seinen Abschluss in einem scheppernden Aufprall fand. Mit Schnauflauten verziert löste ein unregelmäßiges, lustlos schabendes Bürsten von Hartplastik auf Asphalt die vorherigen Geräusche ab. Unter Ächzen hob Glas ab. Prustender Atem, rhythmisch mit Klirren versetzt, drang unter Hallentwicklung torkeligen Schritts in die Unterführung ein. Am anderen Ende der Unterführung stoppte der gekrümmt laufende Zeta mit explosivem Ausatmen und klirrendem Aufprall. Der Getränkekasten war herbeigeschafft. Zeta positionierte seinen Pappsitz zum Kasten um und sank nieder. Mit ausgestreckten Beinen und am Hinterkopf aufeinander anliegenden Handinnenflächen, schmiegte sich Zeta an die erfrischende Wand. So in Gesellschaft verblieb er bis zur Normalisierung seines Pulses.
Mit jetzt ruhigem Atem wechselte Zeta in eine bequemere Position, träge auf die Gleisbetten in der Ferne starrend. Linkshändig griff er in den Kasten zu seiner Rechten, um die nächststehende Bierflasche herauszunehmen. Er setzte den überstehenden Kronkorkenverschluss behutsam auf dem Rand des Bierkastens auf und richtete den Flaschenkörper leicht angewinkelt von dem Kasten ab. Mit der Unterseite seiner zur Faust geballten Schlaghand schlug er von oben auf den Kopf der Flasche. Der abgesprengte Kronkorken flog unter einem Zischen seitlich weg und verlor sich klimpernd im Bierkasten. Die abgesackte Glasflasche schäumte unfreundlich auf, doch Zeta nahm die Flasche flink zum Mund. Geübt trank er den Schaum ab, bis der Flascheninhalt gezähmt war und er sie ohne Aufsicht zu seiner Linken abstellen konnte.
Mit beherzten Griffen in den Bierkasten beendete er den Unterschlupf von zwei Büchern. Zuerst war ein kartoniertes Bändchen dran, das zwischen Kastenrand und erster Flaschenreihe senkrecht aufgestellt Platz gefunden hatte. Dann ein wuchtiger Taschenbuchwälzer, der waagrecht gebettet auf Hälsen über den Kastenrand hervorlugte.
Beides zu sich auf die Pappfläche gelegt, beugte sich Zeta mit Adlerblick über den Bierkasten. Er griff scheinbar zur Entnahme einer Flasche hinein. Es war eine Finte zum Auflesen des fortgesprungenen Kronkorkens. Um Ordnung bemüht stand Zeta auf. Am gegenüberliegenden Metallgeländer schnippte er den Kronkorken über das Geländer hinweg und kehrte zum Pappthron zurück. Zeta saß und gab – nach reichlichem Abwägen seiner Optionen – das dünne Bändchen dem Kasten zurück. So blieb ihm nichts weiter übrig, als sich auf den Wälzer zu stürzen. Er las ihn nicht an, vielmehr fraß er sich Schluck für Schluck in das Buch hinein. Dabei kicherte er hin und wieder und blätterte die Seiten zeitvergessen um.
Eine Kastenreihe Bier im Buch vorangekommen, trat er bereits das zweite Mal aus. Er ging wie gewohnt in den Busch um die Ecke in der Böschung. Linksseitig von seiner Unterführung in der Böschung, lief vorerst alles in gewohnten Bahnen. Wohlgemut summte er eine improvisierte Melodie, als ihn unvermittelt am Hinterkopf ein Gegenstand traf. Mehr aus Erschrecken als aus Schmerz stieß Zeta ein hastiges „Aua!“ aus. Da der Strahl versiegt war, packte er schnell das Gröbste ein und raschelte sich durch die Büsche auf den Asphaltweg. Auf dem Weg angekommen, schaute Zeta in die Unterführung.
„Wer war das!“, schrie er ins Nichts. Umgedreht und geblendet von der Sonne, blinzelte er sich die Umrisse eines Pimpfs zurecht, der bucklig in die Fahrradpedale davontrat. Zeta machte einen vom Gepäckträger aufsteigenden Wimpelmast aus. Der Wimpel, der chaotisch am Zipfel des flexiblen Masts umherflatterte, zeigte auf schwarzem Tuch einen weißen Totenschädel mit einseitiger Augenklappe, unter dem in der Form eines liegenden X überkreuzte Oberarmknochen ruhten. In dem Versuch, mehr Details des Angreifers zu erhaschen, kniff Zeta die Augen zu einem Schlitz zusammen und hielt zum Sonnenschutz eine Hand vor sie. Vom Spähen nicht schlauer, rieb er mit der Hand den Hinterkopf und verließ den Asphalt in die Böschung, wo er verschwand. Raschelnd durchforstete er jene Stelle, an der er hinterrücks getroffen worden war. Das Rascheln pausierte.
„Na, da haben wir dich! Aber wer schmeißt derart Brauchbares weg?“
Zeta trat aus dem Dickicht hervor und begab sich zum Schneidersitz auf seinen Platz neben dem Bierkasten am Anfang der Unterführung. Er öffnete die Handflächen seiner auf den Oberschenkeln abgestützen Unterarme, in denen er jeweils ein Bruchstück weißer Malkreide begutachtete. Wiederholt setzte er sie an den Bruchstellen an- und auseinander. Schließlich legte er sie zu sich auf den Pappboden und konsultierte eine Bierflasche. In einem launigen Einfall nahm er die Stücke am unversehrten Ende in die Hand und stand auf.
Vom Wandansatz der Unterführung zog er einen geraden Strich quer über den Asphalt bis zum gegenüberliegenden Geländer. Genauso verfuhr er am anderen Ende der Unterführung. Mehrfach überstrich er zur Sichtbarmachung die bereits gezogenen Linien. So bemerkte Zeta nicht, wie zwei Jugendliche ihn verstohlen tuschelnd aus einiger Entfernung beobachteten. Einer der beiden zückte sein Handy und filmte ihn heimlich beim Stricheziehen.
Fertig mit Malen legte Zeta die Kreide ab und ging zurück zum Sitzplatz. Gerade noch die Hände vom Kreidestaub abwischend, bemerkte er die filmenden Jugendlichen.
„Aufhören!“, raunzte Zeta sie an. „Auf der Stelle!“
Zeta näherte sich der Crew und stellte eine neue Forderung: „Das ist meine Behausung. Wollt ihr sie durchqueren, ist Wegzoll fällig! Zwei Euro pro Person. Nicht mehr. Nicht weniger.“
Die Jugendlichen hielten die Stellung und grinsten Zeta herausfordernd an. Zeta scannte sie abfällig, verschanzte sich hinter seiner Linie am Anfangsbereich der Unterführung. In Gedanken schritt er sie auf und ab. Gerichtet an die Jugendlichen sagte er: „Der ärmste Mann darf in seiner Hütte trotzen der gesamten Streitmacht der Krone. Seine Hütte mag wackelig sein – das Dach löchrig – der Wind mag die Hütte durchwehen – der Sturm möge eintreten – der Regen möge eintreten –, aber der König von England kann nicht eintreten – mit all seiner Macht wagt er es nicht, die Schwelle der ruinierten Behausung zu übertreten.“
Diese Passage aus einer der Reden von Pitt the Elder aus dem Jahr 1763 rezitierte Zeta den Jugendlichen erhobenen Hauptes, mit stolzer Statur, seine gezogene Linie gemächlich abschreitend.
„Das poste ich auf meinem Kanal!“, würdigte der Filmer seinen Dreherfolg.
„Du krumme Kartoffel!“, schleuderte Zeta dem Filmer entgegen. „4 Euro macht das!“
„Wie nennst du meinen Kollegen?“, fuhr der Mitstreiter Zeta aus der Distanz an.
„4 Euro, du krumme Kartoffel!“
„Beleidigst du mich, Penner?“
„4 Euro!“
„Ich hau dir gleich 4 Euro in die Fresse!“
„Ja, mach doch!“
Der Angesprochene stapfte, der Film nahm Fahrt auf, zu Zetas Linie. Hinter ihr nahm Zeta Kampfhaltung ein.
„Ich zerreib’ dir die Fresse an der Wand!“, intonierte der Jugendliche in einer unglaubwürdigen Drohhaltung.
Durch die Unentschlossenheit seines Gegenübers geneigt, die Sache ohne Auswüchse zu beenden, ahmte Zeta bedrohlich eine Kampfbewegung der grünen Männchen nach, sein Gesicht versteinert. Sein Blick meißelte auf den Halbstarken ein.
Merkbar gereizt, doch unschlüssig über seinen Eskalationsgewinn, ließ der Jugendliche seine Drohhaltung kollabieren. Er zögerte und schritt linientreu zum Bierkasten. Dort angekommen, kippte er Zetas angebrochene Bierflasche mit der Fußspitze um. Aufgeschäumtes Bier suppte in Wellen auf den Asphalt.
„Ups!“, heuchelte der Jugendliche und warf Zeta einen provozierenden Blick zu.
Zeta drängte sich ihm bis zum Aufeinandertreffen ihres Atems über der Demarkationslinie auf.
„Aufhören!“, rief eine Zeta bekannte Stimme.
Es folgte Peter, der locker joggend eintraf. Die Kontrahenten hielten inne und schauten auf den Herannahenden. Vom Ausruf hinter sich unbeirrt, richtete der Filmdreher weiter das Handy auf die beiden. Auf Höhe des Clip-Drehers angekommen, schnappte Peter ihm das Smartphone aus der Hand. Der Jugendliche blieb überrumpelt stehen und Peter drängte sich zwischen die Kontrahenten.
„Misch dich bloß nicht ein“, zischte der Jugendliche Peter an, „sonst hole ich meine Kollegen!“
„Nur zu!“, erwiderte Peter freundlich und stoppte die Videoaufnahme des Handys.
Peter zog seinen Dienstausweis hervor und hielt ihn dem Jugendlichen vor die Nase.
Der Jugendliche nahm die Plastikkarte an sich: „Peter Hof, Sozialarbeiter, Magistrat der Stadt Frankfurt am Main, Dienstausweis Nummer 0690.“ Vom Ausweisstudium verfiel er unversehens in ein debiles Gekichere, während Peter sich am Handy zu schaffen machte. Der Jugendliche fand seine Fassung wieder.
„Jetzt“, triumphierte er, „kenne ich deinen Namen!“
„Und ich“, schoss Peter zurück, „habe mir die Kontakte deines Kollegen zugeschickt!“
„Du Wichser!“, rief der Jugendliche.
„So“, grinste Peter, „der Clip ist gelöscht. Gib mir den Ausweis, dann kriegste das Handy!“
Der Freche gehorchte und gab Peter den Ausweis. Er hielt Peter seine ausgestreckte Hand entgegen.
„Eins noch“, verzögerte Peter die Rückgabe. „Belästigt ihr mir den Mann erneut, besiegele ich euer Versauern in intensiv-pädagogischen Maßnahmen vom Jugendamt!“
„Nee, lass stecken!“, wiegelte der Jugendliche ab.
Nach abgeschlossenem Tausch reichte er das Handy seinem Freund weiter.
„Merke dir, Penner“, drohte Zetas Sparringspartner in spe, „beim nächsten Mal bist du dran!“
Er rempelte seinen Kumpel an und wies ihn an zu gehen, der alte Spacko sei es eh nicht wert.
Die ersten Schritte über die Außengrenze gaben dem Filmer den Mut, sich umzudrehen.
„Streetworker“, schlenderte er im Rückwärtsgang, „lern mal löschen! Das Video lade ich hoch!“, posaunte er, untermalt vom höhnischen Gelächter des anderen.
„Drecksbälger!“, rief Peter als Antwort und steckte den Ausweis zurück ins Portemonnaie.
„Sorry, Zeta“, sagte er, „ich hätte es einkassieren sollen.“
„Egal“, sagte Zeta abwesend, den Blick auf den Jugendlichen.
„Die Jugend, bedeppert wie eh und je!“, gab Zeta seine Sicht kund und zog sich auf seinen Pappthron zurück.
Im Sitzen fragte er Peter: „Wohin so eilig?“
„Was machst du für Sachen?“, wandte sich Peter ihm zu.
Er blickte auf sein Smartphone: „Die S-Bahn zum ‚Mach flott den Schrott‘-Platz wollte ich erwischen.“
Er zeigte auf Zetas Bierkasten: „Du hast dir einen Kasten Pils geholt?“
„Nein“, antwortete Zeta, „das ist hochbekömmliches, nahezu wohltuendes alkoholfreies Bier.“
Zeta sah Peters Mimik beim Anblick der Bierpfütze: „Es ist das Verdienst deiner Vorgängerin. Erst nach Einwilligung zu alkoholfreiem Bier ließ sie von mir ab. Ihr zu Ehren bin ich dabei geblieben.“
„Das ist gut“, meinte Peter, „gehe es ruhig an.“
Zeta nahm den Wälzer vom Pappsitz auf. Er klappte die letzte Seite vor dem Buchumschlag auf und zog daraus ein zusammengefaltetes Blatt Papier.
„Hier hast du was: mein betagtes Widerspruchsschreiben an den Beitragsservice!“
Peter nahm das Schreiben entgegen. Er blickte Zeta nachdenklich an.
„Ich weiß, es ist schwer vorstellbar, aber es hat sich da ein Grüppchen zusammengewürfelt. Wir planen eigene Beiträge für den RöR-Tag. Subversive Beiträge.“
„Subversion zum Rundfunk-im-öffentlichen-Raum-Tag?“, fragte Zeta. „Aus dem Alter bin ich raus. Außerdem fühle ich mich hier wohl, ob du es glaubst oder nicht.“
„Na gut“, zeigte sich Peter enttäuscht, um geschäftsmäßig fortzufahren: „Als dein Sozialarbeiter biete ich dir an, bei den neuen kommunalen Zuverdienstmöglichkeiten mitzumachen. Dem ‚Mach flott den Schrott‘-Angebot, wo handwerkliches Interesse von Vorteil ist. Oder dem ‚Mach sauber die Stadt‘-Angebot, da sammelst du hauptsächlich Müll auf.“
Zeta schaute skeptisch zum Sozialarbeiter auf.
„Anbieten, mehr mache ich nicht! Empfehlen kann ich das ‚Mach flott den Schrott‘-Projekt. Da bin ich Leiter.“
Zeta blieb reserviert.
„Komm schon, die Struktur wird dir guttun!“
„Hmm“, sinnierte Zeta, „Struktur?“
„Ja“, animierte ihn Peter, „Struktur ist von Vorteil! Du hast mehr Potenzial als Straßenkünstler! Komm zum Schrottplatz, da finden Gleichgesinnte zusammen!“
„Hmpf!“, räusperte sich Zeta.
„Na ja, wie du willst“, vergewisserte sich Peter der Uhrzeit. „So, noch eine Bahn lass ich nicht ohne mich abdampfen.“
Peter machte sich auf und Zeta bebrütete alleine seine Gedanken.
*
Zeta hatte in seinem Wälzer den Leserhythmus wieder gefunden, da trat ein junger Mann von hühnenhafter Statur, geflankt von einer jungen Frau ungleich zierlicherer Gestalt, in die Unterführung. Die Frau trug Schwarz. Eine Haarsträhne in Pink gab ihr Farbe. Ebenso ein Kopfhörer in knalligen Plastiktönen. Sie hörte Musik, zu der sie mitsummte. Der Mann trug eine Schultertasche und nietenversehene Lederkluft, die in Kontrast zu seinen gutmütigen Gesichtszügen stand. Pfeilgerade zielten sie auf den Leser.
„Zeta! Zahltag!“, rief der Mann.
Zeta sah auf und zuckte beim Anblick der Ankömmlinge auf.
„Pocke und Pinky“, grummelte er. Er klappte sein Buch zu und legte es neben sich ab.
„Ihr Drecksgesindel“, rief er ihnen im Sitzen zu, „um Tage zu früh seid ihr!“
„Zeta“, forderte Pocke auf, „du kennst den Drill! Und bloß keine Anstalten!“
Zeta stand auf: „Lasst mir ja meine Sachen in Ruhe, ihr Schweinebacken!“
„Okey-dokey!“, nickte Pocke und Zeta zog ab.
Kaum dass Zeta um die Ecke die Böschung hinauf abgebogen war, krallte sich Pocke ein Bier und öffnete es mit derselben Technik wie Zeta. Er trank einen Schluck.
„Ganz okay“, sagte er laut zu Pinky, „willst du?“
Pinky schüttelte den Kopf. Stattdessen hob sie Zetas Wälzer auf und las belustigt dessen Buchtitel vor: „Die Marschierdirne – Abenteuer zu hoher See – Doppelband 31 / 32 – Stürmisches aus der Kombüse / Getöse in der Fritteuse.“
„Passt schon“, sagte Pocke desinteressiert.
Pinky tauschte den Wälzer gegen das Büchlein: „Tractatus logicus-philosophicus! In Latein! Der alte Angeber!“
Pocke nippte in bequemer Pose mit dem Rücken gegen die Wand der Unterführung gelehnt am Bier. An Pocke angelehnt freundete sich Pinky halbherzig mit dem Wälzer an.
„Was ich nicht verstehe“, sagte Pocke, „ist, wie wir den halten konnten.“
„Ich höre nichts“, sagte Pinky, die an ihm lehnte, in den Händen den aufgeschlagenen Wälzer.
Pockes freie Hand langte an eine Ohrmuschel von Pinkys Kopfhörer und setzte sie sachte über ihrem Ohr ab.
„Ich verstehe nicht, wie wir den halten. Ich meine, er kann froh sein, dass wir ihn geclaimt haben! Seine Passage ist gut frequentiert, zentral gelegen, nicht zu exponiert, der Zuglärm akzeptabel. Zur Rushhour Passanten, in der Nacht ruhig. Revierstreitigkeiten? Nichts dergleichen. Er ist und bleibt unsere Top – äh – Melkkuh.“
„Du kennst die Regeln der Straße“, setzte Pocke nach, „hätten wir uns nicht um ihn gekümmert, hätten ihn andere –“
„Komm mir jetzt nicht mit dem Gesetz der Straße“, unterbrach Pinky sein Räsonieren. „Den halten zu können, verstehe ich so wenig wie du. Selbst für Faker: Solidarität sieht anders aus.“
„Du und deine Bedenken“, sagte Pocke. „Alles, was ich sagen wollte, ist: Es hätte ihn schlimmer treffen können. Wir melken ihn sanft, sozusagen.“
„Das hast du jetzt so gesagt“, verkniff sich Pinky ein Grinsen. „Schau, da kommt er!“
Pinky legte das Buch ab und setzte den Kopfhörer zurück aufs Ohr. Pocke exte den Bierrest und stellte die leere Flasche in den Kasten. Nebeneinander postiert passten sie Zeta ab.
„So, hier habt ihr’s!“, übergab Zeta ein Scheinebündel.
„Ich hoffe“, fügte Zeta sarkastisch hinzu, „den Herrschaften sagt die Stückelung zu.“ Und in einer anderen Tonlage raunzte Zeta die beiden an: „Und jetzt verzieht euch, mehr gibt der Automat nicht her! Und mehr verscheißen könnt ihr es euch bei mir nicht mehr!“
„Nö, du Pisser“, antwortete Pocke, dem Provozieren zugeneigt. „Ich hätte da noch ein Anliegen!“
Er klappte seine Ledertasche auf, griff ein erstes Bier aus dem Kasten und steckte es in die Tasche. Zeta stürzte sich auf Pocke. Dieser packte Zeta einhändig und presste ihn gegen die Wand. Pinky wandte sich ab und trällerte den einsetzenden „Where Do Ya Draw the Line“ -Refrain ihres Punk-Lieds mit.
An die Wand getackert platzte Zeta der Kragen: „Dumme Göre, sind wir hier etwa in der SBZ?“, schrie er Pinky an.
Pinky drehte sich um und nahm gereizt die Kopfhörer ab.
„Was ist dein Problem, Opa?“
„Hier ist keine Sonderbeschallungszone, Stinky. Verstanden?“
„Hast du ’ne Meise? Gleich fängst du dir eine!“
„Zu Befehl, Stinky-Pinky!“, sagte Zeta und salutierte ihr unbehände.
Pinky verdrehte die Augen: „Los, Pocke“, trabte sie ab, „lass uns gehen!“
„Eins noch“, klappte Pocke die ausgebeulte Ledertasche einhändig zu, „Reiseproviant!“, und krallte sich eine letzte Flasche aus dem Kasten. Er lockerte den Griff und schubste Zeta entlang der Wand von sich weg.
„Wir sehen uns, Bonzensau!“, rief Pinky im Davongehen zu Zeta. Sie hob zum Abschied ihren rechten Arm und streckte ihm den Mittelfinger aus.
„Raus hier, blödes Gesocks!“, schrie Zeta, der sich die von Pocke gegriffene Stelle rieb.
Auch Pocke drehte ab und folgte Pinkys Fußstapfen.
„Du Depp“, rief ihm Zeta hinterher, „Alkoholfreies hast du dir gestohlen!“
„Umso besser“, konterte Pocke, „Durstlöscher!“, und hob die zuletzt ergriffene Flasche zum Abschied hoch über die Schulter.
Übelgelaunt kickte Zeta gegen den Bierkasten und ein Kronkorken klimperte sich darin zugrunde.
„Immer diese Unordnung!“, kreischte Zeta den beiden nach.
Er suchte im Kasten und fischte den Übeltäter hervor.
Aufgerichtet nahm er Anlauf und schmiss den Kronkorken auf Pocke. Doch die Punks waren schon weit über Zetas imaginäre Türschwelle getreten und Zetas Geschoss fiel trefferlos zu Boden.