Читать книгу Die Frechheit nehm ich mir! - Albrecht Mäzen - Страница 8

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3. Lebensereignisse

Zeta wohnte nicht Zeit seines Lebens auf der Straße. Er hatte Familie, war glücklich verheiratet gewesen und hatte zusammen mit seiner Frau Thea einen Sohn erfolgreich großgezogen. Für seine Erziehung hatten Herr Zeta und seine Gemahlin Thea gemeinsam einen ehernen Grundsatz erarbeitet, aus dem sich alles andere auf natürlichste Weise ergab: keinerlei Radio- und Fernsehapparaturen als Indoktrinationskanäle im Haushalt!

Zeit seines Berufslebens war Herr Zeta in Leitungsposition am Lehrstuhl für sozialistische Soziologie erwerbstätig. Zuletzt verbrachte er sein Beamtendasein nicht am Lehrstuhl, sondern daheim in Telearbeit.

Ihm fiel die Entscheidung für Telearbeit leicht. Nachdem seine verehrten Fachgrößen der Frankfurter Schule, Adorno und Horkheimer, bereits lange ausschließlich in Zitaten fortlebten, sah er den kritischen Geist der Frankfurter Schule schwinden. Jahre vergingen und ein verbitterter Herr Zeta stellte fest: Der Wind hatte sich gedreht. Obwohl Kollegen mit dem kritischen Geist kokettierten, schlug die generelle Geistesausrichtung um. Mit Auftragsforschung, empirisch und quantitativ, hielt man sich über Wasser. Herrn Zeta wurde infolgedessen erst behutsam, dann mit Vehemenz nahegelegt, seinen Lehrstuhl umzubenennen und sich auf statistische Soziologie zu fokussieren. Der widerstrebende Herr Zeta wollte nicht. Unbeirrt lehrte er weiter wie gehabt.

Herr Zeta, anfangs belächelt, wurde im universitären Betrieb zur Randfigur. Dann hieß es zum Zustand seines Lehrgebäudes, es stehe damit nicht zum Besten, und die Belegschaft des Turms habe umzuziehen. Weil ihm der neue IG-Farben-Standort zu protzig und vergangenheitsverseucht erschien, lehnte er den Umzug kategorisch ab. Aufforderungen, sein Büro umzusiedeln, ließ Herr Zeta verstreichen. Erst eine Vorladung zum Präsidium erzielte die Einigung, Herr Zeta könne von zu Hause seine Arbeit in Altersteilzeit verrichten.

Die Zeit, zu der er mit seiner Telearbeit begann, fiel schicksalhaft zusammen mit dem Wiederaufflammen der Krankheit seiner Frau. Sie verbrachte ihre letzten Lebenstage liebevoll begleitet und umpflegt daheim. Während dieser Zeit vergrub sich der Sohn im Lernen auf seine Abiturprüfungen. Die Beerdigung war für ihn ein schmerzhaftes Erwachen. Trotz exzellenter Zensuren entschied er einstweilen keine weitere Ausbildung anzustreben, sondern entschloss sich, eine Work-and-Travel-Auszeit anzutreten. Zuvor wollte er den trauernden Vater zurück ins Leben führen. Tage vor seiner Abreise zerrte er ihn in sein Zimmer, um ihm seine Computer- und Konsolenspiele zu zeigen. Scherzend sagte er zu seinem Vater, er könne ja eines seiner Spiele spielen, denn Gamen im Alter sei keine Schande. Und da er nach seiner Darstellung zeitgleich mit bestandener Matura erwachsen geworden sei, bräuchte er sie nicht mehr.

So nahm sich der heranwachsende Sohn neben den Reisevorbereitungen die Zeit, dem Vater seine Spiele zu erklären. Dieser fühlte sich zum Erstaunen des Sohnes vom Multiplayer-Onlinespiel „Ultrimate Fantasy“ angesprochen. Nach gründlicher Einweisung belehrte der Sohn den Vater, dass sein Spielabonnement nur mehr ein Jahr liefe, da er es bereits gekündigt hätte. Der Sohn reiste ab und Herr Zeta blieb allein zu Hause.

In der bunten Spielwelt vergaß Herr Zeta phasenweise die Trauer. Sie verschlang ihn – und stückchenweise zertrümmerte der Eskapismus seine Lähmung. Er war – dank seines Sohnes – Mitglied einer Gilde – einem Konstrukt bestehend aus einer lose verbundenen Online-Spielergemeinschaft –, in die er – ebenfalls dank seines Sohnes – als ein Spielercharakter vom Typ Zwerg namens Gammla und mit Erfahrungslevel 1000 eingestiegen war.

Im Team-Speak der Gilde – einer Online-Sprachkommunikation zwischen den Mitspielern unter Zuhilfenahme von im Kopfhörer integriertem Mikrofon – richteten sich ab und an Einwürfe oder Fragen an Herrn Zeta: „Alter! Echt jetzt?“, „Hast du jemals ’nen Endboss gekillt?“, oder aber „Heute mache ich dich kaputt, wie ich deine Mutter im Bett kaputt gemacht habe!“. Die nicht immer reibungslos verlaufenden Gespräche inspirierten Herrn Zeta dazu, diesen einen überindividuellen Tiefgang zu verleihen, indem er den Erfahrungsschatz seiner universitären Laufbahn anzapfte. Die Vorstellung beflügelte ihn. Er entschlüpfte seiner Trauerhülle und das Computerspielen mauserte sich zum neuen Zeitvertreib.

Anfangs hielten die Mitgildler Herrn Zetas Sohn mit seinem Herumgeistern zwischen „Minima Moralia“-Aphorismen und Sponti-Sprüchen vom Kaliber „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ für einen mittelmäßigen Troll, der Ähnlichkeiten mit Rumpelstilzchen aufwies und im Internet sein Unwesen trieb. Mit der Zeit gingen den Mitgildlern Herrn Zetas Verbalergüsse jedoch derart auf die Nerven, dass sie ihm den Ton abschalteten. Herrn Zeta war es fortan verwehrt, mit ihnen über Team-Speak zu kommunizieren.

Dies brachte Herrn Zeta auf folgende Idee: Er erstellte sich einen neuen Zwerginnen-Charakter mit dem Namen Gammeline. Sehr schnell registrierte er jedoch, dass sein Team-Speak Argwohn hervorrief, da seine Stimme nicht weiblich genug klang, um als Frau durchzugehen. Als Gammeline ging er mit Erfahrungslevel 3 kaputt. Unter dem Namen Grummeline versuchte er sich erneut in Stimmakrobatik: Er erreichte Level 7, bevor seine Figur von den anderen Spielern wegen seiner Einflüsterei mit pseudofeminin verstellter Stimme kaputt gehauen wurde. Keinesfalls entmutigt, frischte Herr Zeta sein laufbahnförderndes Blindschreiben auf, um wundersame Wörter auf die Bildschirme seiner Mitgildler zu zaubern. So umging er die leidige Sprachkommunikation und konnte lediglich tippend während des „Ultrimate Fantasy“-Zockens die Mitspieler textbasiert mit seinen Lebensidealen beglücken. Der Geistesblitz, sich Schlampine zu nennen und auf die Frage, warum sie nicht Team-Speaken wolle, zu antworten, dass sie gerade krank sei, ermöglichten es Herrn Zeta, innerhalb kürzester Zeit mit Schlampine betont feminin in die Tasten hauend auf Level 20 aufzusteigen. Trial-and-Error hatten ihn gelehrt, ab wann er auf das Erledigen von Spielaufträgen, sogenannten Quests, umzuschalten hatte und wann er beim Totschlagen virtueller Spielerhaufen, dem Fraggen, miteinzudreschen hatte, bevor er Gefahr lief, ein Scherbengericht vom Zaum zu brechen und durch die Mitgildler verbannt zu werden.

Er beschloss sein angebrochenes letztes Arbeitssemester nicht in Teilzeit, sondern gänzlich ohne universitäres Arbeiten zu verbringen. Ungeniert wurde er Vollzeit-Spieler – und im gewissen Sinne ging er einer Arbeitspflicht nach, redete sich Herr Zeta selbstbewusst ein. Er erhoffte seine Ideale mittels Dauerpräsenz in der Spielergesellschaft nachhaltig festzuzurren. Seine neu gefundene Bestimmung vereinnahmte all seine Konzentration. Er ging geschickt vor und baute eine zahlenmäßig massive Gilde auf – strikt basierend auf den Kernwerten seines Sozialismus. Die Zeit verging wie im Fluge. Sein Bart setzte sich ehrgeizig das Erreichen des Bauchnabels als Etappenziel und gestapelte Pizzaschachteln leisteten einen ernstgemeinten Beitrag zur Unterstützung des Wohngemäuers. Nichts und niemand machte Herrn Zeta auf die Briefe aufmerksam, die Stück für Stück in sein Domizil flatterten – um zu bleiben.

Eines Morgens war Schluss. Herr Zeta schaffte es nicht, sich erneut über die Anmeldedaten seines Sohnes in die ihm existenziell liebgewordene Spielwiese einzuklicken. In einer Textmeldung auf dem Bildschirm teilten ihm die „Ultrimate Fantasy“-Betreiber mit, er würde die Gamer um ihre Experience bringen und das Realm mit banal-irdischer Agitationspropaganda verunglimpfen. In diesem Sinne würde dem hetzerischen Spieler das Abonnement fristlos gekündigt. Beschwerden seien per E-Mail oder Service-Hotline möglich.

Herr Zeta raste auf der Suche nach dem Schnurlostelefon über den Flur, rutschte auf einer Postsendung aus und rumste zu Boden. Sein Steißbein tat höllisch weh. Unter Schmerzen wand sich Herr Zeta auf den Hartfliesen. Der Perspektivwechsel durch den Sturz vergegenwärtigte Herrn Zeta die Verlotterung um sich herum. Seine Wohneinheit sah aus, als hätte darin ein Sprengkommando herumgepfuscht.

Er nahm die für seine missliche Lage verantwortliche Sendung in die Hand. Sie stellte sich als Postkarte seines Sohnes heraus. Knapp schilderte er, dass er im mittleren Mikronesien mit Spezialisten Einheimische bei Deichbauarbeiten unterstützte.

Herr Zeta lächelte und ging ins Wohnzimmer, wo er neben der Bücherwand den verwahrlost-verstaubt herumstehenden Globus konsultierte. Wissbegierig drehte er die Weltkugel. Umdrehungen später landete sein Zeigefinger inmitten des Pazifischen Ozeans, fernab der Küsten Australiens. Zeigefinger und Daumen seiner Hand so weit wie möglich auseinandergespreizt, versuchte er von den Marshallinseln nach Deutschland einen Bogen zu schlagen. Es misslang. Selbst durch eine Kombination aus kleinem Finger und Daumen gelang es ihm nicht, die Distanz über das Erdenrund zu überbrücken. Enttäuscht musste er einsehen, dass er die Strecke nur mit beiden Händen überbrücken konnte.

Nach Studium der Maßstabsangabe auf dem Globus rechnete Herr Zeta unter Zuhilfenahme seiner Hände still vor sich hin, bis das Ergebnis in seinem urgewaltigen Ausmaß feststand. Er kehrte, vernünftig und mit einem Gefühl der Einsicht, aus dem Wohnzimmer zurück. Nun konnte er seine Gedanken beruhigten Gemüts auf anderes richten.

In einem Kraftakt widmete er sich der aufgeschäumten Briefflut in seiner Wohnung. Das Durchblättern und Sortieren der Postsendungen führten Herr Zeta die Gesamtheit der erhaltenen Beitragsbriefe eines „Beitragsservice“ vor Augen. Die Inhalte katapultierten ihn in einen angewiderten Zustand der Rage: So etwas hatte er noch nicht erlebt! Zeit seines Lebens hatte er nie auch nur einer einzigen Radio-, geschweige denn Fernsehapparatur Einzug in sein Haus gestattet. Jetzt sollte er unausweichlich für deren Nichtexistenz zahlen? Zahlreiche gebrandete Wutwellen später entwarf Herr Zeta in seinem verwaisten Tagebuch unter Zuhilfenahme seines Weinkellers einen polemischen Eintrag, den er allerdings unzufrieden verwarf und entsorgte.

Um sich von den Gehässigkeiten abzulenken, schrieb er seinem Sohn ausgenüchtert am nächsten Tag einen artigen Brief. Er beantwortete die Frage nach seinem Befinden, dass er sich keine Sorgen zu machen brauche, die Wohnung sei picobello sauber und alles in bester Ordnung. Aufgehört zu spielen habe er auch, fügte Herr Zeta an.

Tags darauf kam ein amtlich-gelber Brief, der blitzartig Herrn Zetas erloschene Wut aufs Neue entflammte: der Festsetzungsbescheid des Beitragsservice. Erzürnt setzte er ein Widerspruchsschreiben auf. Da bemerkte er die fünfwöchige Verspätung, mit welcher der Bescheid bei ihm eingetroffen war, einer Laufzeit von 35 Tagen – und dies aus Köln.

Zur Beruhigung las sich Herr Zeta durch die Zeitungen und Magazine der letzten Monate. Die Lektüre informierte ihn über eine erfolgte Gebäudesprengung. Daraufhin keimte in ihm die zündende Idee, die sein Leben verändern würde und für die er selbst in seiner bombigen C4-Professur auf Lebenszeit niemals die nötige Expertise hätte ansammeln können: Wenn ein durchgeplantes Wegsprengen seine frühere Arbeitsstätte – den Abteilungfür-Erziehungswissenschaften-Turm – wirksam aus dem Stadtbild auslöschen konnte, könnte er leichthin durch Wohnungslosigkeit dem – so fand er – Beitragsterror entkommen. So wurde Herr Zeta ein Mensch der Tat. In seinem Fall: ein Mann der Straße.

Das Leben auf der Straße führte sich Zeta in tagtäglich zunehmenden Dosen zu. Es war kein Zuckerschlecken. Zeta wurde anfänglich des Öfteren ausgeraubt, abgerippt und abgezogen, wenngleich es bei ihm nicht viel Modisches zu holen gegeben hatte. Wie bei den Computerspielen seines Sohnes zeigte Zeta Lernfähigkeit. Rasch begriff er die Gesetze der Straße. Zunächst pendelte er zwischen Haus und Straße, doch nach intensiver Lernphase zog er unbeirrt das reine Pennerleben vor. Er kündigte seine mannigfaltigen Abonnements von Zeitungen, Magazinen, Monats-, Viertel- und Halbjahresschriften und löste sich von allem Ballast, der ihm unnütz für ein Leben auf der Straße vorkam. Bekannte, Freunde und Verwandte attestierten ihm Schrulligkeit zunehmender Güte. Wenn er noch ab und an zu Hause war, kamen sie vorbei und versuchten, ihn umzustimmen: Die nettesten Besucher legten ihm nahe, er möge anstelle voreiliger Schritte Richtung Straße lieber seine Bücherwände zurate ziehen, etwa durch abermalige Lektüre von „Don Quixote“ oder wiederholtes Durchpflügen des „Kohlhaas“. Mit anderen Besuchern schaukelte sich Sprachgerangel hoch, das zu ersten Kontaktabbrüchen führte. Zeta blieb sich treu, hielt unverrückbar an seinem Beschluss fest und mauserte sich zum allseits gemiedenen Straßensolitär.

Lediglich sein Bankkonto mit monatlichen Pensionsbezügen – abzüglich allfälliger Unterhaltszahlungen – behielt er für sich. Denn die Bankkarte sicherte Zeta das Vermögen, sich das Leben auf der Straße angenehmer zu gestalten.

Die Frechheit nehm ich mir!

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