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KAPITEL EINS - Das Ministerium
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- Seelenjagd -
Für Andrea.
In Liebe.
Für Lukas, meinen Sohn und ersten Probeleser.
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Dank an: Pentatonix
Wenn dieses Buch ein Film wäre,
Würde als Soundtrack Natural Disaster laufen.
Ungebetener Besuch
Ich sauge den Duft des Badeöls tief in mich ein. Der Geruch gehört zu den wenigen Dingen, die ich vier Jahre nach dem Unfall immer noch genieße.
Im Hintergrund läuft ein Song von Offshore, der Band, die ich am liebsten höre. Gothic Rock ist genau das, was ich brauche.
Damals war ich 19, als mein Leben endete; mehr oder weniger. Ich war eine Bodenturnerin mit Leib und Seele. Parcours war meine Leidenschaft.
Wie Blitze schießen die Erinnerungen durch mein Bewusstsein: Mein Vater, den Hals aufgerissen. Blut, überall Blut. Die geschlossenen Augen meiner Mutter, als ich mich nach hinten drehe. Dann ein scharfes Knacken in meiner Wirbelsäule. Kraftlos sacke ich gegen meinen Vater.
Auch mit 23 ist es nicht erträglicher, ein Krüppel zu sein.
Tante Liv ist nach unten gegangen. Mein Kopf hängt in einer Vorrichtung aus Kunstleder und Plastik, die ihn über Wasser hält. Ansonsten könnte ich ertrinken. Vielleicht wäre es besser so.
Liv wird in zehn Minuten wieder da sein.
Das Gesicht meines Onkels erscheint. Hakon schließt die Tür hinter sich.
"Ich soll ein wenig nach dir sehen, Skeyra."
Eine Lüge. Wir wissen es beide.
Er kommt näher, tritt an die Wanne. Es ist nicht genug Schaum da. Nie ist genug Schaum da, wenn Männer wie er ungebeten im Bad erscheinen.
Der weiße Sichtschutz fällt immer weiter in sich zusammen. Mit leisen zischenden Geräuschen werden immer mehr Details meines Körpers seinen sezierenden Blicken enthüllt.
Ich kann nicht einmal die Beine anziehen. Ich kann Hakon nur bitten, zu gehen.
"Das kann ich nicht. Du könntest ertrinken", gibt er zurück.
Er fasst ins Wasser, unter meine Knie. Er zieht sie hoch, so dass sie knapp aus dem Wasser ragen. Die Gummimatte am Boden der Wanne verhindert, dass meine Füße wieder nach vorn rutschen. Zum Glück fühle ich nichts. Einer der wenigen Vorteile, wenn man vom Hals ab gelähmt ist.
Er beginnt mein linkes Knie zu streicheln. Seine Hand streicht langsam den Oberschenkel entlang, bis unter die Wasserlinie.
Mit dem Laserstift zwischen den Zähnen kann ich Buchstaben auf die Wasseroberfläche schreiben. Eigentlich waren sie für mein Tagebuch gedacht. Der Computer, den Tante Liv zu meiner Kleidung gelegt hat, kann die Buchstaben, die ich mit dem Mund male, in Worte verwandeln.
"Hände weg", schreibe ich.
Mit einer kurzen Verzögerung ertönt die monotone Computerstimme des Sprachdekoders, der auf meinen Sachen liegt. Es klingt, als würde ein müder Roboter aus dem Telefonbuch vorlesen; fast so, als wäre es mir egal.
Hakon zuckt nicht mal. Seine Hand fährt weiter nach unten. Gleich wird er das Ziel seiner Bemühungen erreichen.
Ich bin wütend. Und beschämt. So ein perverses Schwein!
Ich versuche zu schreien, wobei mir der Laserstift aus dem Mund fällt.
Platsch. Das wars dann mit der Kommunikation. Mein Schrei bleibt stumm. Nur mein vegetatives Nervensystem kann auf meine Lunge zugreifen. Ich kann immer noch atmen. Sprechen oder schreien nicht. Lachen geht auch, was meine Ärzte und Psychologen vor ein Rätsel stellt.
Ich wünsche mir, dass sofort jemand kommt, um mir zu helfen. Aber wer soll das sein? Liv ist für zehn Minuten unten.
Die Tür geht dennoch auf. Tante Liv steht im Türrahmen. Hinter ihr im Flur erkenne ich zwei Agenten des Ministeriums.
Jeder würde sie erkennen, an ihren dunklen, fast bis zum Boden reichenden Wollmänteln und den schwarzen, blank polierten Stiefeln.
Ihre ebenso schwarzen Barette auf den Köpfen lassen sie wenig sympathisch erscheinen.
Sympathisch und Agenten des Ministeriums: Das sind zwei Begriffe, die so garnicht zusammen gehen.
Fast muss ich lachen. Ja, lachen kann ich seltsamer Weise, wie schon gesagt, obwohl ich immer traurig bin, seit dem Unfall.
Lachen: Eine Fähigkeit, die ich genauso dringend brauche, wie die Landeshymne furzen zu können.
Das hat neulich jemand in einer Talentshow im Holoprogramm gemacht. Ich weiß nicht, weshalb sich Liv so etwas antut - und damit mir.
Ich lache also nicht. Weil ich nicht will und weil ich Liv nicht in Gefahr bringen werde.
Livs Augen werden rund, als sie sieht, wo Hakons Hand sich gerade befindet. Fast sind seine Finger am oberen Ende meines linken Beines angekommen.
"Ich wasche sie nur ein wenig", gibt er schulterzuckend zu verstehen und nimmt die Hand ohne Hast aus dem Wasser.
"In fünf Minuten werden wir Ladri Feralov mitnehmen. Mit oder ohne Kleidung", teilt einer der Agenten des Ministeriums kurz angebunden mit.
Sie könnten ja mit mir reden. Das tun sie nie, wenn sie nicht müssen. Sie sind immer unpersönlich.
Geduld und Menschlichkeit findet man weder bei Mitgliedern des Ministeriums noch bei den Kräften des Bürgerschutzes.
Tante Liv nickt.
"Raus hier, Hakon." Ihre Stimme wird zu einem Grollen. So kenne ich sie nicht. Jetzt erinnert sie mich an meine Mutter, wenn sie verärgert war.
Ich werde traurig bei dem Gedanken an meine Mutter. Nie wieder werde ich ihre Wutausbrüche erleben. Sie ist tot. Seit vier Jahren.
Mein Onkel trollt sich.
Wer hätte gedacht, dass mich das Ministerium einmal vor Hakon rettet?
Ich bin nicht überrascht, dass sie auftauchen. Vielleicht ist der Zeitpunkt etwas unpassend, oder die Umstände.
Die Reichsverwalterin hat bereits vor Wochen alle im Alter zwischen 16 und 24 dazu aufgerufen, sich zu Befragungen im Ministerium einzufinden. Natürlich ist so gut wie niemand hingegangen. Nicht mal die Streber, die später selbst zum Ministerium wollen; meist die Kinder derer, die dort arbeiten.
Wer bei den Befragungen die falschen Antworten gibt, darf an haarsträubenden Bewusstseinsexperimenten teilnehmen — als Versuchskaninchen, das aller Wahrscheinlichkeit nach einen mehr oder weniger qualvollen Tod stirbt.
Bewusstseinstransfer nennen sie die Technologie. Man soll unsterblich werden können. Die Ersten, bei denen das gelingt, sollen berühmt werden, sagt die Staatspropaganda.
In Wahrheit werden die Opfer früh sterben. Alle wissen es.
Auch das Volk hat seine Informationsmaschinerie. Von Mund zu Mund. Initiiert vom sogenannten Widerstand, dessen Gesichter niemand kennt.
Es gibt ihn, den zivilen Ungehorsam, den die Reichsverwalterin so gern in ihren Reden anprangert. In Reden voll von protziger, verlogener Selbstdarstellung der Regierung, denen jeder zuhören muss; deren Inhalt freilich niemanden interessiert.
Nun stehen die Agenten im Flur. Die Tatsachen sind geschaffen. Vielleicht ist der Tod bei den Experimenten garnicht so qualvoll. Selbst wenn, hätte ich es endlich hinter mir. Vielleicht sehe ich meine Eltern wieder. Meine schöne Mom, Olivia. Johannes, meinen Dad. Vielleicht.
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Der Transport
Mit Unterstützung der Bürgerschutzbehörde werde ich in einem Hovercar zur Befragung ins Ministerium transportiert. Unterwegs beobachte ich Szenen, die mir Angst einjagen. Dinge, die ein Kribbeln auf meiner Kopfhaut verursachen: Altmodische Truppentransporter mit sechs Rädern halten mit quietschenden Reifen vor Holokinos, Kneipen, Diskotheken, Sportzentren, Jugendeinrichtungen und auch an Arbeitsplätzen.
Frauen und Männer in meinem Alter, viele jünger, werden von Bürgerschützern und Agenten des Ministeriums in Gewahrsam genommen und abgeführt, wie Schwerverbrecher. Manche werden mit Schlagstöcken traktiert.
Ich sehe Bürgerschützer mit Gasmasken, die Reizspray einsetzen und ihre benommenen Opfer in die Transporter verfrachten, als wären sie Schlachtvieh.
Ein Mädchen, vielleicht gerade 16 wird von zwei Männern abgetastet. Dann wird ihr brutal ein Arm auf den Rücken gedreht und sie wird vorwärts geschubst. Dann ist unser Hovercar um die Ecke gebogen.
Ein Stein knallt auf die Windschutzscheibe des Cars. Ein Sprung wie ein Spinnennetz entsteht darauf. Unbeirrt gibt der Fahrer Gas.
Seltsam. Dieser Ausdruck ist bis heute erhalten geblieben, obwohl es seit dem Fallout vor 136 Jahren nur noch Elektromotoren gibt. Verbrennermotoren mit Luft und Petroleum hat niemand, der heute lebt, je in Aktion gesehen. Nicht mal die Motoren im technischen Museum der Stadt dürfen zu Vorführzwecken in Betrieb genommen werden.
Es heißt, die Hoverjets der Luftwaffe verfügen über sogenannte Turbinen. Für die Macht des Staates wird alles getan. Selbstverständlich.
Dann sind wir da. Der Gebäudekomplex aus Stahl und Glas erhebt sich wie ein kühler abweisender Riese vor uns.
An der Vorderseite des Baus prangt groß das allgegenwärtige Zeichen: ein großes F neben einem S in einem Kreis.
Das Ministerium für Forschung und Sicherheit: Jeder nennt es einfach Das Ministerium.
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Im Ministerium
Ich werde in meinen Rollstuhl verfrachtet.
"Bürgerin, machen sie sich bereit zur Befragung. Sagen sie immer die Wahrheit."
Mit diesen Worten schiebt mich ein Bürgerschützer in einen großen Raum, in dem mich eine sogenannte Expertenkommission erwartet.
Vor mir sitzen vier Frauen und drei Männer an einem halbrunden Tisch. Er ist von der Tischkante abwärts verkleidet. Ich sehe nur ihre Oberkörper, die in grauschwarze Sakkos und Kostüme gekleidet sind. Die Frauen tragen meist strenge Steckfrisuren, bis auf eine, deren Haare so kurz sind, wie Streichhölzer. Die Männer sind kurzgeschoren oder haarlos.
Ich sitze in der Mitte des Halbrunds; ich muss den Rollstuhl drehen, um die Beamten an den Enden sehen zu können.
Sie sprechen darüber, wessen Tochter ich bin: Meine Mutter war Olivia Feralov. Die führende Wissenschaftlerin der Bionetic. Angeblich stand sie bereits kurz vor einem Durchbruch in der Forschung zur Bewusstseinsübertragung.
"Was weißt du darüber, junge Feralov?"
Ein Mann mit rappelkurzen Haaren, die wirken wie die Borsten eines Ebers, beugt sich hinter dem großen halbrunden Tisch vor. Seine Schweinsäuglein wirken hinter seiner runden Brille seltsam klein.
"Worüber?", erkundige ich mich.
"Über die Arbeit deiner Mutter", antwortet ein Glatzkopf, der am Ende des Tisches auf der anderen Seite sitzt, sodass ich den Rollstuhl erst in die eine, dann in die andere Richtung drehen muss.
"Nichts", antworte ich. "Sie hat nie darüber mit uns gesprochen. Weder mit meinem Vater, noch mit mir."
Es geht also nicht um mich, sondern um meine Mutter.
Die Befragung geht ewig weiter. Immer wieder fragen sie dasselbe mit anderen Worten. Sie glauben mir nicht.
Es reicht.
"Warum haben sie meine Mutter getötet, wenn sie so wichtig war?", will ich schreien. Ich schaffe es gerade noch, den Satz mit dem Laserstift zwischen den Zähnen zu Ende zu schreiben, bevor das Schreibgerät aus meinem Mund fällt. Klickend prallt es auf kaltweiße Steinfliesen.
Die Töne hallen gespenstisch in dem klinisch weißen Raum, in dem alles zu grell für die Sinne ist.
Auch wenn die Stimme meines Sprachcomputers die Verärgerung monoton verschluckt hat, haben sie doch den Zorn in meinem Gesicht gesehen. Ich glaube, ich habe sie erschreckt. Es ist mir recht.
Die Befragung ist zu Ende. Jemand schiebt mich aus dem Raum.
Auf dem Gang in Richtung Wartezimmer, den ich allein entlangfahre, begegnet mir eine blondgelockte stämmige Frau in weißem Kittel. Sie bleibt stehen und sieht mich an.
"Du musst Olivias Tochter sein." Sie geht auf mich zu und streckt mir die Hand hin.
"Ich kann nur meinen Kopf bewegen", antwortet ihr der Computer.
Verschämt zieht sie die Hand zurück. Sie schlingt ihre Arme um sich.
"Ich bin Magrit Storsk. Ich habe mit deiner Mutter zusammengearbeitet. Ich habe sie sehr geschätzt.
Ich lächle verkniffen. "Guten Tag, Ladri Storsk."
"Magrit", beharrt sie. "Wenn ich irgendwas für dich tun kann..."
Ich glaube nicht, dass sie das kann.
"Ich werde es sie wissen lassen", lüge ich.
Sie nickt.
Ich fahre weiter und lasse sie in dem fahlen Licht der Neonröhren stehen. Im Rückspiegel meines Rollstuhls verfolge ich, wie sie mir unschlüssig hinterhersieht.
Als ich darauf warte, abgeholt zu werden, sitze ich mit anderen in einem Raum, der in kaltes blauweißes Licht getaucht ist.
"He, Rollstuhlfreak. Du hast es gut. Wirst wohl nicht in die engere Wahl kommen."
Ein Kerl, vielleicht 18.
"Wir können ja tauschen", sagt meine monotone Computerstimme, nachdem ich die Buchstaben auf der Holotastatur angeleuchtet habe.
"Nein danke." Er tut, als wenn er ausspuckt. Auch Typen wie er trauen sich das nicht in den Räumen des Ministeriums.
"Lieber bin ich tot, als spackig und behindert."
Das wäre ich manchmal auch lieber.
"Spackig. Sagt man das heute noch, wenn man älter als 14 ist?"
Mein Sprachcomputer scheint sarkastisch zu klingen. Endlich macht er mal, was er soll.
"Du bist doch älter als 14? Müsstest du sein, wenn du befragt wirst, aber ich bin mir nicht sicher", giftet es aus dem Lautsprecher in meinem Rollstuhl.
Er kommt näher. Stützt sich auf der Armlehne meines Rollstuhls ab. Senkt seinen Kopf bis an mein Ohr.
Er flüstert. "Und ich bin mir sicher, dass dich keiner haben will. Du warst sicher mal ganz ansehnlich. Aber du stirbst einsam und verlassen."
Er grinst überheblich. Dann, ohne Vorwarnung, kippt er den Rollstuhl um.
Mein Körper fällt unkontrolliert heraus. Ich liege am Boden, das Gesicht zur Seite gedreht. Schutzlos und ausgeliefert.
"Ich würde dir ja aufhelfen", spottet er. "Aber ich muss los. Ich werde abgeholt."
Erst nachdem er aus dem Raum ist, trauen sich andere, mir aufzuhelfen. Zwei Jungs und eine junge Frau.
"So ein Arsch", sagt die Frau.
"Du meinst, er hat dir gefallen?", scherzt einer der Jungs, die vielleicht 17 oder 18 sind. Er hat rote Locken und ist dürr wie ein Haferkeks.
Ich muss lachen. Keinem von uns hat er gefallen.
Ehe wir Freundschaft schließen können, kommt Liv hereingestürmt und fällt mir um den Hals. Es ist immer ein wenig kompliziert, mich im Rollstuhl sitzend zu umarmen. Die anderen treten beiseite.
Ich will protestieren, als sie mich in den Flur hinausschiebt. Meinen Laserstift hat sie in die Halterung gesteckt. Rasch ziehe ich ihn mit dem Mund heraus.
Ich schaffe es gerade noch, "Danke" zu schreiben, ehe die Türen hinter uns zufallen.
Auch Liv macht es mir nicht gerade leicht, Freunde zu finden.
Dafür fährt sie mich nach Hause. Geradewegs zu Onkel Hakon.
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Die engere Auswahl
Vier Wochen sind vergangen. Vor drei Tagen habe ich einen Brief erhalten. Herzlichen Glückwunsch. Ich bin der engeren Wahl.
Ob den Leuten vom Ministerium die Ironie ihres Schreibens bewusst ist?
Oder können sie dort garnicht mehr zwischen ihrem menschenverachtenden Umgang und den eigentlich geltenden Bürgerrechten unterscheiden?
Wie diese Menschen wohl ihre Kinder großziehen?
Vielleicht so, wie Liv und Hakon, meine Tante und mein Onkel.
Ich sitze mit 20 weiteren Schicksalsgefährten in einem sterilen Gang. Nicht alle haben einen Sitzplatz. Ich schon: meinen Rollstuhl.
Wie es aussieht, bin ich die Älteste mit 23. Alle anderen sind jünger. Viele sehen aus, als wären sie erst 16.
Aus jeder der vier Städte haben sie fünf Personen ausgewählt; so viel wissen wir.
Ich habe mitbekommen, wie einer der Beamten mit einer Kollegin sprach. Er wollte sie augenscheinlich beeindrucken. Er sprach von einer Unterhaltung zwischen der Reichsverwalterin und ihrer rechten Hand, dem Leiter des Bürgerschutzes, Collen Rievers.
Demnach sollen unsere Nachnamen dazu geführt haben, dass wir ausgewählt worden sind. Wir seien Nachfahren alter Clans. Was zum Geier ist das für ein Auswahlverfahren?
Vielleicht hat er sich die Geschichte auch einfach ausgedacht, um die Frau zu einem Date zu bewegen.
Auch, dass die beiden führenden Forscher der Bionetic vom Ministerium gebeten wurden, ihre Experimente zum Abschluss zu bringen, hat man uns erzählt — als ob das Ministerium je um etwas bitten würde.
Die Namen der beiden werden in jedem Propaganda-Holo bis zum Erbrechen erwähnt: Professor der Bionetic Sander Marrado und Professor Dr. Nimor Thorsmid.
Zum Ruhme des Landes sollen sie einen neuen revolutionären Meilenstein im Namen der Wissenschaft Norgenons setzen.
Bionetic: die Wissenschaft um den Transfer des menschlichen Bewusstseins in einen anderen Körper.
Das Ministerium unterstützt ihre Forschung, um die geeignetsten Kandidaten hervorzubringen. Den "Auserwählten" winkt Ruhm und im tatsächlichen Sinne: Unsterblichkeit.
In allen vier Städten Norgenons, Tylaris, Trømos, Stava und Hetmark wurden alle Einwohner im Alter zwischen 16 und 24 gebeten, sich einer Befragung zu unterziehen.
In den Propaganda-Holos, oder P-Holos, wie sie kurz heißen, wurde nicht erwähnt, dass nur wenige sich zu den Befragungen freiwillig meldeten, wie es befohlen war. Deshalb wurden überall die infrage kommenden Schüler, Studenten und Arbeiter abgeholt.
Ich erinnere mich, dass ich auf der Fahrt ins Ministerium vor vier Wochen an vielen Stellen Beamte ausschwärmen sah. Der Rest wurde zu Hause abgeholt. So wie ich.
Besser und zynischer geht es nicht mehr. Wir haben keine Wahl. Wir werden gezwungen, wie gezüchtete Laborratten.
Was manche über Flugblätter des Widerstands erfahren haben wollen, macht in der Stadt die Runde. Onkel Hakon hat es erzählt: Man will junge, beeinflussbare Leute, um sie militärisch einsetzen zu können.
Auch ein Junge im Rollstuhl ist hier; wahrscheinlich 16. Aber er kann seine Hände gut einsetzen; er wirkt sportlich.
Man meidet mich, Skeyra, die Behinderte, als sei ich eine Aussätzige. Ich bin es gewohnt.
Nur einer fragt, ob ich etwas brauche. Ich erkenne ihn wieder. Er hat mir geholfen, als mich das Ekelpaket vor vier Wochen aus dem Rollstuhl beförderte. Er wirkt, als wäre er höchstens 18. Vermutlich ist er ein wenig älter.
"Ich bin Magnus", stellt er sich vor. Er greift nach meiner Hand und schüttelt sie mit beiden Händen. Dann legt er meine vorsichtig auf den Oberschenkel, wo sie vorher lag, zurück.
Er hat rote Locken, Sommersprossen und ist dürr wie Spargel. Seine runde Brille vermittelt den Eindruck, er sei der Sohn eines Professors. Ein netter Kerl, wie man ihn gern als Nachbarssohn hat.
"Skeyra", erwidere ich einfach. Es klingt monoton und langweilig aus dem Sprachcomputer.
Ich könnte in der Tat etwas zu trinken brauchen. Er holt mir Wasser aus einem Automaten.
"Ich passe auf dich auf", macht Magnus mir Mut. Wenn dich nochmal einer aus dem Rollstuhl hauen will, kriegt er es mit mir zu tun."
Er zieht einen Elektroschocker ein stückweit aus der Jackentasche und grinst mich an.
Ich trinke die klare perlende Flüssigkeit. Dafür, dass wir im Ministerium sind, schmeckt das Wasser ziemlich gut.
"Immerhin soll die Forschung für einen guten Zweck sein." Er lächelt. Für mich. Ich merke, dass er selbst auch Angst hat und nicht glaubt, was er sagt. Allein dafür hätte er eine Medaille für besondere Tapferkeit verdient.
"Ganz bestimmt", antwortet meine Roboterstimme. "Ich denke, das glaubt niemand hier."
Magnus senkt den Kopf. "Ich bin ein schlechter Lügner."
"Das bist du", antwortet mein Sprachcomputer. "Und ein guter Freund."
Wie mir allmählich bewusst wird, hören die anderen im Gang gebannt zu.
Nun werden wir einzeln hereingerufen. Magnus Ericson ist der erste Name, der genannt wird. Er geht.
Alle anderen strecken ihre Hände nach vorn. Er streift mit seinen Fingern die unserer Leidensgenossen. Eine stumme Geste der Gemeinschaft. Unsere Situation schweißt uns zusammen.
Ein letztes Mal sieht Magnus zu mir zurück. Dann verschwindet er durch die Tür.
Einer nach dem anderen kommt nach der Befragung zurück in den Gang. Legt mir die Hand auf die Schulter. Schleicht sich linkisch aus dem Gang, auf dem Weg nach Haus.
Der Rollstuhlfahrer fehlt. Ihn sehe ich nicht mehr.
Magnus kommt auch nicht heraus. Ewig warte ich, und werde nicht aufgerufen. Selbst wenn, hätte ich auf ihn gewartet.
Dann sind alle drin gewesen. "Sie sind fertig", sagt der Letzte, der herauskommt. Ein gutaussehender Typ, braune halblange Haare, hübsches Gesicht, etwa 20. Jeans und Collegejacke.
Erleichtert, dass ich nicht aufgerufen worden bin, und enttäuscht, weil Magnus nicht kommt, will ich aufbrechen — mit einem schlechten Gewissen.
Eine Frau, blond, langbeinig, ein Männertraum. Vielleicht hat sie sich bis zu ihrem Posten hochgeschlafen. Nicht allzu weit für ihr Aussehen.
Sie streckt den Kopf aus der Tür, durch die alle anderen rein sind. Sie sieht mich. "Ach da haben wir noch eine. Dich haben wir ja fast vergessen, mein Engel", säuselt sie.
Ich bin niemandes Engel. Schon garnicht ihrer.
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Simulation
Ich bekomme von einem Weißkittel ein Interface aufgesetzt, ein Elektrodenstirnband, das mich in eine Simulation entführt.
Kameras sind auf mich gerichtet, blinkende rote Lichter zeigen an, dass sie alles aufzeichnen werden.
Bestimmt sieht jemand zu. Sind die Beamten zu feige, um mir ihre Gesichter zu zeigen? Kommen sie mit meinen Kommentaren nicht klar?
Ich sehe Gebäude vor mir, die eindeutig von einem Computer erzeugt sind. Unecht, zu regelmäßig. Kalt, digital,
Ich fühle meine Hände, bewege die Finger.
Ich kann aufstehen und umherlaufen. Wann habe ich so etwas zum letzten Mal gespürt?
Ich weiß es. Auf der Fahrt ins Holokino. Während der letzten Minuten im Leben meiner Eltern.
Ich habe Arme und Beine, die ich bewegen kann.
Ich höre eine Stimme, die von überall her zu kommen scheint.
"Lauf!", flüstert sie mir zu.
Hinter mir erscheint ein Finder. An seiner Seite sind zwei Agenten. Als sie mich sehen, streifen sie ihre dunklen Mäntel ab und spurten los.
Ohne nachzudenken, renne ich in die entgegengesetzte Richtung.
Ich setze über makellose Mauern, rutsche Geländer langer Treppen herunter, lande auf einem Hoverboard, das von meinem Schwung getragen den Weg eines Parks entlang schwebt.
Ich wage einen kurzen Blick zurück. Die Agenten holen auf.
Ich steuere das Board mit kurzen Schlangenbewegungen, die es beschleunigen, über einen See.
Die Agenten müssen außen herum laufen. Einer entscheidet sich, durch das Wasser zu waten.
Ich gelange an einen Häuserblock. Wieder sind beide Agenten hinter mir. Eindeutig eine Simulation. Der andere müsste klatschnass sein. Er hat sich falsch entschieden. Niemals hätte er so schnell zu seinem Kollegen aufschließen können.
Hinter ihnen hastet der Finder durch die Straßen. Mein Puls beschleunigt auf das Doppelte. Meine Instinkte übernehmen. Mit Findern ist nicht gut Kirschen essen. Sie sollen die Wahrheit aus einem herausholen, egal wie.
Ich springe vom Hoverboard auf eine Feuerleiter. Eine Wendeltreppe aus Eisen. Ich springe im Zickzack hinauf, während ich mich mit den Händen am Handlauf in der Mitte festhalte.
Die Agenten sind hinter mir auf der Treppe. Zwei Windungen weiter unten. Sie holen auf.
Ich bin Skeyra die Unfassbare - so nannten sie mich vor dem Unfall. Ich bin zu schnell. Diese Agenten sind nicht echt. So schnell ist niemand.
Ich sehe ein Stromkabel, das vom Dach herabhängt. Funken schlagen daraus hervor.
Der Finder ist unten an der Treppe angelangt und kommt herauf.
Es ist eine Simulation.
Ich packe das Kabel und halte es an das eiserne Treppengeländer.
"Ist ihr Hass auf uns wirklich so groß", höre ich eine Stimme.
Ich spüre meine Arme und Beine nicht mehr, nur noch meinen Kopf.
Ich öffne die Augen.
"Das könnte ich glatt noch einmal machen."
Ich bin stolz auf mich: Ich habe nicht vergessen, wo ich mich gerade befinde, was meine Zweck ist: als Versuchskaninchen zu dienen. Mit meinem Leben.
"Ausgezeichnet." Ein Mann im weißen Kittel zieht mir die Elektroden von der Stirn. "Du wirst von uns hören."
Meine Hochstimmung verflüchtigt sich augenblicklich.
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Trockenes Fazit
Moranna Angstorm wandte sich von den Monitoren ab. "Auch das Mürbemachen scheint nicht so funktioniert zu haben, wie du dachtest, Collen", kommentierte sie trocken.
Sie stieß den Rauch ihrer Zigarette mitten in sein Gesicht.
Collen blinzelte nicht. Er tat ihr auch nicht den Gefallen, zu husten.
"Das Erbe der alten Dynastie", entgegnete Collen Rievers. Sie schätzte ihn sehr. Er fungierte als ihre rechte Hand,als Leiter des Bürgerschutzes sowie als Vorsitzender des Ministeriums für Forschung und Sicherheit.
"Sie könnte eine Nachfahrin der alten Behüter sein. Vielleicht erwacht eines Tages eine schlafende Kraft in ihr, wenn sie erweckt wird."
"Ich mag dich, Collen, das weißt du", entgegnete Moranna, die Reichsverwalterin, mit samtweicher, vom vielen Rauchen angerauter Stimme. "Aber ich fürchte, dass dein Hirn von der vielen Arbeit an Intrigen und Gegenspionage ein wenig Schaden genommen hat."
Sie wedelte mit einer Hand, als würde sie lästige Insekten verscheuchen. "Das sind doch alles Ammenmärchen. Legenden primitiver Völker, die vor tausenden von Jahren entstanden sind."
"Wenn sie es sagen, Moranna."
"Nicht so förmlich, Collen. Ich schätze dich wirklich sehr. In jeder Hinsicht."
Moranna Angstorm zwinkerte anzüglich.
"Aber mit dem Zeug aus grauer Vorzeit brauchst du mir wirklich nicht zu kommen. Es ist schon genug, dass du mich dazu gebracht hast, die Kandidaten per Nachnamen auswählen, statt nach anderen Kriterien."
Ihr Blick wanderte über seinen trainierten Körper, der trotz seiner Jahre immer noch stahlharte Muskeln aufwies.
"Ich habe so eine Ahnung, wie du es anstellst", lachte sie.
"In Ordnung, Moranna. Ich werde kein Wort mehr darüber verlieren, wenn du es wünscht."
"Ach, nun sei nicht gleich beleidigt, Collen. Sagen wir, ich lasse dir freie Hand in dieser Hinsicht. Wenn du beweisen kannst, dass es so etwas wie Sagengestalten gibt oder wirklich je gab, werde ich der Sache Gehör schenken."
"Bis ich Beweise habe, könnte es zu spät sein", entgegnete Collen.
"Dann streng dich an", gurrte die Herrscherin Norgenons. "Vorher habe ich noch eine andere Aufgabe für dich."
Collen Rievers rollte mit den Augen, als sie ihm den Rücken zuwandte. Er folgte ihr bis in die privaten Räume der Reichsverwalterin. Es war notwendig, ihr zu Willen zu sein, bis er endlich sein wahres Gesicht zeigen konnte. Nicht mehr lange, und der Zeitpunkt war gekommen. Dessen war er sich sicher.
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Die Auserwählten
Zwei Wochen später: Ich sitze neben Magnus mit seinen 19 Jahren. Er ist beim letzten Test durch einen anderen Ausgang entlassen worden, wie ich auch. Davor erfolgten weitere Tests. Wir wurden von einem Wahrheitsfinder befragt.
Man setzte uns unter Drogen. Doch man tat uns keine Gewalt an. Ich sollte besser sagen: Man schlug uns nicht.
Der Anblick und die Fragen des Finders, seine Spritzen. Das alles jagt mir noch heute ein Kribbeln über die Kopfhaut.
Ein weiterer Junge namens Kristian Bronsdal befindet sich neben Magnus. Er ist gerade 16 Jahre alt und sitzt wie ich im Rollstuhl. Auch er kam nicht in den Flur zurück.
Neben mir steht ein verschüchtertes Mädchen, Emma Stidal. Sie ist 18.
Emma wirkt deutlich jünger als 18. Körperlich und seelisch. Es könnte sein, dass sie das hier nicht durchsteht.
Was will das Ministerium von ihr? Was hat sie an sich, dass sie hier neben mir stehen muss?
Genauso gut kann ich fragen, was ich hier soll. Ein Krüppel. Qualifiziert es mich etwa, dass meine Mutter die führende Forscherin in der Bionetic war?
Mehrere Personen treten ein und setzen sich an den großen Tisch in der Mitte des Raumes.
Bürgerschützer mit Schlagstöcken an ihren Gürteln platzieren uns auf Stühlen direkt davor. Wir haben keine Barriere, keine Tische, die ein wenig Schutz vor den sezierenden Blicken des Komitees bieten würden.
Vor uns sitzt Collen Rievers, der sich uns als Leiter des Bürgerschutzes vorstellt. Ihm gehorcht das Ministerium für Forschung und Technik — das Ministerium. Rievers zur Seite sitzen eine Reihe Sportärzte, Neurologen, Psychologen und Techniker. Auch Thorsmid und Marrado, die ich zum ersten Mal außerhalb eines Propaganda-Holos sehe. Sie werden sich also aus unseren Reihen zwei auswählen und dann höchstwahrscheinlich im Verlaufe eines misslungenen Experiments töten. Dann folgen die nächsten zwei, bis sie vielleicht irgendwann Erfolg haben — oder auch nicht. Es ist absurd. Wie soll man das Bewusstsein eines Menschen in einen anderen Körper bekommen? Was ist mit der Seele?
Die Priester der geheimen Sekte der sieben Urdrachen behaupten, die Seele sei unsterblich. Sie könne im Leben nie vom Geist getrennt werden. Über den Körper und die Trennung der Geistes haben sie nie berichtet. Das weiß ich, weil Liv, meine Tante, den Sieben anhängt. Auch meine Mutter hatte ein Faible dafür gehabt.
Thorsmid und Marrado sehen deprimiert aus. Alle anderen wirken so, als wären sie stolz; willige Helfer des Systems.
Rievers erhebt sich. "Ihr vier habt in den Tests am besten abgeschnitten. Fürs Erste wollen wir eine männliche und eine weibliche Person. Gibt es Freiwillige?
Keiner will.
"Also gut. Nach eingehender Beratung wählen wir Kristian..."
Magnus steht auf. "Ich melde mich freiwillig."
Rievers hebt eine Braue. "Ach wirklich? Was sagt man dazu — wir haben einen Freiwilligen."
Applaus der Jury brandet auf, als hätte Magnus etwas Besonderes vollbracht. Hatte er ja auch. Er hat sich für Kristian geopfert, der kalkweiß um die Nase ist. Ein zitterndes Häuflein Elend im Rollstuhl.
"Und bei den Damen fällt unsere Wahl auf... "
Meine Computerstimme meldet sich. Ich gebe es zu: Ich bin inspiriert von Magnus' Mut. Er hatte auch den Mumm, sich zu mir zu gesellen. Jetzt bin ich dran, etwas für Emma zu tun. Mein Leben ist ohnehin verpfuscht.
"Ich melde mich freiwillig."
Emma, die neben mir sitzt, sieht mich an. Tränen laufen in Bächen über ihre Wangen.
"Danke", sagt sie und umarmt mich plötzlich. Sie ist augenscheinlich tief bewegt. Ich schwanke zwischen Stolz auf mich selbst und dem Gefühl, dass es mir peinlich ist.
"Beruhige dich Mädchen. Sie wäre ohnehin ausgewählt worden."
Emma muss mich loslassen. Sie wird weggebracht. "Das werde ich dir nie vergessen", ruft sie. "Du konntest es nicht wissen und hast dich gemeldet."
Dann ist auch Emma weg.
Magnus und ich werden nach Hause gebracht. Man wird uns in ein paar Tagen abholen.
Mich zuerst; die Tochter von Olivia Feralov.